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Die Mafia mit der Gartenschere

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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Der Bürgerschreck kommt in der Nacht, und dann raucht er dein Blumenbeet: Hortensien-Junkies haben es auf die Zierpflanze abgesehen, weil das Quarzen ihrer Knospen klatschen soll wie Cannabis. Stimmt zwar nicht, aber Medien verbreiten das Gerücht hartnäckig. Und sie wissen dabei ganz schön viel über die Motivation von Tätern, die nie erwischt wurden.

Wie nicht anders zu erwarten, ist die "Bild"-Zeitung besonders gut informiert: "Eine beschauliche Siedlung, stattliche Häuser, gepflegte Gärten. Oder sollte man sagen: Drogen-Plantagen?" Das wäre ganz sicher die treffendere Beschreibung. Denn in vielen Blumenbeeten von Freienohl (gut 4000 Einwohner) gedeiht eine brandgefährliche Mode-Droge: die Hortensie. Ja, richtig. Denn deren Knospen, Blüten und Jungtriebe sollen, wie man sagt und liest, beim Rauchen einen cannabisähnlichen Rauschzustand hervorrufen.

Gegenüber der "Bild" bestätigt das sogar eine Apothekerin: "Es entstehen – ähnlich wie bei Haschisch – Euphorie und Halluzinationen." Damit ist der Fall ausermittelt. "Jetzt rauchen Kiffer schon die Blumen weg", da ist sich das Boulevardblatt so sicher, dass es sogar als Überschrift taugt. Auch wenn dann am Ende des Berichts eingestanden wird, dass man eigentlich gar nicht weiß, wer dahintersteckt: "Obwohl die Blumen immer wieder geklaut wurden, konnte bisher kein Täter gefasst werden."

Doch die Medienlandschaft braucht keine Täter, nicht einmal Verdächtige, um genau über die Motivation der Unbekannten Bescheid zu wissen. Seit Jahren schon treiben "Drogenabhängige" ("Augsburger Allgemeine") und "Hortensien-Junkies" ("Spiegel Online") ihr Unwesen in deutschen Gärten, dort sind sie "auf der Suche nach dem ultimativen Kick" (wieder "Spiegel Online"). Denn "die Pflanze gilt bei Kiffern als beliebte Ersatzdroge für Marihuana" ("Husumer Nachrichten"). Sie enthält zwar keine psychoaktiven Wirkstoffe. Aber "der Gartenhortensie sagt man nach, ähnlich wie Marihuana zu wirken", informiert auch die "Deutsche Apotheker Zeitung". Also muss ja quasi irgendwas dran sein.

So berichtet denn auch die "Süddeutsche Zeitung" über "Hortensien statt Hasch", die "FAZ" schreibt ebenfalls über die "Blume als Rauschmittel". Letztere wiederum geht dabei einfühlsam auf die Opferperspektive ein: "Udo Schaller erinnert sich. Noch am Vorabend habe er sich mit seiner Frau darüber beraten, wie man mit der Hortensie verfahren solle, bevor mit dem Winter der Frost komme." Als dann am nächsten Morgen "etliche Zweige" fehlten, wendeten Schaller und Gattin fortgeschrittene Ermittlungsmethoden an: "Wir sind zwar schon ein paar Jahre verheiratet, aber wir reden noch miteinander. So wurde uns bald klar, dass Diebe dahinter stecken mussten." So eindeutig ist die Beweislage selten. Als die "FAZ" im März 2011 über den Vorfall berichtete, liegt der zwar schon acht Jahre zurück, aber es war offenbar ein prägendes Erlebnis für Udo und seine Gattin.

"Ausländische Gangster" sollen ihre Finger im Spiel haben

Medienöffentlich ist das Schicksal der Schallers schon seit Januar 2004. Da schrieb der "Spiegel" über die Eheleute aus dem brandenburgischen Rathenow. Die Geschichte geht so: Das Paar an der Schwelle zum Renteneintritt hegt die Blümlein im Garten sorgfältig und liebevoll – dann aber dringt, geschützt vom Dunkel der Nacht, das Chaos in ihr Idyll, und zwar in Gestalt drogenabhängiger Triebtäter. Auch die Nachbarn sind betroffen. Wegen der Vielzahl der Fälle ist der große Hortensienschwund nicht mehr durch ein paar Kleinkriminelle zu erklären, nein. Hier muss größer gedacht werden: Wie der "Spiegel" informiert, hätten die Ermittlungsbehörden eine "Art Hortensien-Mafia im Verdacht, die angeblich bandenmäßig organisiert war". Auch der Hinweis auf Gerüchte, wonach "ausländische Gangster" ihre Finger im Spiel haben könnten, darf da nicht fehlen. Nur erwischt wurde halt nie jemand. Auch nicht, als sich "mutige Bürger" aus der Nachbarschaft zur Gartenwehr zusammenschlossen, im Gebüsch lauerten und "eine verdächtige Gestalt" festhielten. Es war dann doch nur der Postbote.

"Die Mafia ist unterwegs – diesmal mit der Gartenschere", berichtete "ntv" bereits 2003. Die verheerende Wirkung einer Verbrechensserie "ohne Skrupel" wurde hier treffend charakterisiert: "schnelle Schnitte, hinein in die Mitte der Gesellschaft." Und die schmerzen nachhaltig. Als ihr "einst prächtiger Busch", der noch "im Sommer viele Dutzend Blütenbälle trug", im Spätherbst 2010 "auf rätselhafte Weise ausgedünnt" war, ist eine Hortensienliebhaberin aus Trutzhain im Gespräch mit der "Hessischen Niedersächsichen Allgemeinen" so verängstigt, dass sie ihren Namen "aus Vorsicht lieber nicht" in der Zeitung lesen will. Es sei nämlich "kein gutes Gefühl, im Blickpunkt unheimlicher Drogenkonsumenten zu stehen."

Als in Kyritz im Dezember 2010 über Nacht zehn bis fünfzehn junge Hortensien-Triebe aus dem Garten von Schmiedemeister Eberhard Kannenberg (76) verschwanden, nahm die Potsdamer Kripo den Fall "sehr ernst", wie die "Berliner Zeitung" berichtet – die "Soko Hortensie" stand vor ihrem schwersten Fall. "Es könnte was mit Drogen zu tun haben", vermutete ein leitender Beamter. Doch wieder tappt den Ermittlern niemand ins Netz. "Diese 'Trieb-Täter' sind wie Gespenster", resümiert die "Westfalenpost", womöglich ein Indiz dafür, wie professionell das klandestine Hortensiensyndikat agiert.

Ein suggeriertes Maß an Sicherheit, das so nicht existiert

Nicht einmal Oma Angelika (64) hatte Erfolg, die Diebe aufzustöbern. Als in ihrem Garten Hortensien verschwanden, installierte sie Kameras und Bewegungsmelder. "Ich überwache mein Grundstück bis vier Uhr morgens", wird die "tapfere Gartenbesitzerin" in der "Bild" zitiert. Doch es nutzt alles nichts: "Diese Süchtigen tricksen mich immer wieder aus! Aber ich gebe nicht auf. Das bin ich meinen Blumen schuldig." Dass, wie "Bild" unterstellt, tatsächlich "freche Blumen-Kiffer" am Werk waren, ist zwar nicht belegt – aber wer soll es denn sonst sein, wenn nicht kriminelle Junkies?

Zum Beispiel ein Kaninchen. "Wie es sich für einen gelungenen Kriminalfall gehört, endete auch der Hortensien-Krimi mit einer überraschenden Wendung", schreibt die "Neue Osnabrücker Zeitung". Auch hier hatte sich eine Hobbygärtnerin mit Überwachungskamera auf die Lauer gelegt – und konnte einen der seltenen Ermittlungserfolge erzielen. Der "Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung" ist es ebenfalls geglückt, Hortensiendiebe auf frischer Tat zu ertappen, es gibt sogar ein Beweisfoto. Zu sehen sind ein paar Rehe. Die beknabbern die Zierpflanzen mit Gartenscheren-ähnlicher Präzision: "Rehverbiss sieht aus wie sauber abgeschnitten", erläutert der Jäger Jürgen Scheel auf "shz.de" und könnte damit einen wichtigen Beitrag liefern, eines der großen Mysterien unserer Zeit aufzuklären.

Der These von den tierischen Tätern schloss sich dann im August 2014 auch das Landeskriminalamt von Schleswig-Holstein an, wo in den Vorjahren Tausende Hortensiendiebstähle gemeldet wurden. Nach Auskunft eines Polizeisprechers habe man aber nie auch nur einen einzigen (menschlichen) Täter ermitteln können. Da die meisten gemeldeten Fälle geschädigter Hortensien auf Tiere und Frost zurückzuführen waren, habe man sich dazu entschieden, sie nicht mehr in der Kriminalstatistik aufzulisten – sehr zum Ärger der Oppositionsparteien im Landtag, denen zufolge hier etwas vertuscht werden sollte. Die CDU-Abgeordnete Astrid Damerow, die inzwischen im Bundestag sitzt, wird in der "Welt" wie folgt zitiert: "Diese Landesregierung frisiert die Polizeistatistik und suggeriert damit ein Maß an Sicherheit, das so nicht besteht." Liebe Mütter, passt auf eure Töchter auf.

Hortensienrauchen tötet! Oder?

Nun könnte es ja durchaus sein, dass das Gerücht von den Hortensienkiffern irgendwo einen wahren Kern hat und tatsächlich schon mal ein Blumendieb versuchte, sich an den Zierpflanzen zu berauschen. (Vielleicht ließ sich ja ein armer Trottel durch halbgare Zeitungsberichte anstiften.) Wer aber stichhaltige Belege für die These der serienmäßig zuschlagenden Kiffer sucht, muss sich anstrengen. Auf Anfrage beim LKA Baden-Württemberg teilt ein Sprecher mit, er konnte "keinen Fall finden, bei welchem eine Hortensie als Rauschmittel verwendet wurde."

Im Wikipedia-Artikel zur Hortensie gibt es zwar einen Abschnitt "Verwendung als Droge". Dort heißt es aber: "In Teilen der deutschen Journalisten-Szene kursiert immer wieder das Gerücht, bestimmte Pflanzenteile würden beim Rauchen eine cannabisartige Wirkung entfalten. Wissenschaftlich ist dies nicht belegt, es scheint sich um ein bloßes Gerücht zu handeln, das jährlich zum Sommerloch aufgewärmt wird." Nicht nur im Sommerloch, sondern eigentlich immer, sobald ein nächtlicher Hortensienschwund Gelegenheit bietet, die Schuld ein paar Kiffern in die Schuhe zu schieben, denen man – nach allem, was man so in der Zeitung liest! – grundsätzlich alles zutrauen würde.

Sogar dass sie sich für den ultimativen Kick in akute Lebensgefahr begeben würden. Denn beim Verbrennen von Hortensien würde Blausäure freigesetzt, schreibt der "Nordkurier", "jenes Gift, mit dem sich Magda und Joseph Goebbels am Ende des Dritten Reichs töteten", und die "Fuldaer Zeitung" weiß: Hortensien rauchen "setzt Zyankali frei". Habt ihr gehört? "Wer Hortensien kifft, riskiert Tod durch Vergiftung", so steht es in der "Welt", aber sinngemäß auch in fast allen Berichten über die Zierpflanzenkiffer. Kronzeugin ist jedes Mal eine bayerische Oberärztin, die Cannabis in einem Atemzug mit Opiaten nennt und davor warnt, dass Hortensienrauchen zum "inneren Ersticken, also zum Tod" führe.

Was dabei nur selten dazugesagt wird: Die potenziell tödliche Blausäure entsteht halt auch beim Rauchen gewöhnlicher Zigaretten und – endlich eine Parallele! – auch beim Verbrennen von Cannabis. Nur eben in Mengen, die einen nicht augenblicklich verrecken lassen. Gleiches gilt aber auch für die Hortensie: Ein Todesfall ist nicht dokumentiert, es gibt noch nicht mal Berichte über leichtsinnige Jugendliche, die nach einer Hortensien-Überdosis im Krankenhaus gelandet sind. Ein todesmutiger "Vice"-Journalist hat den Selbstversuch gewagt, rauchte nicht eine, nicht zwei, sondern gleich drei Blütentüten – und bekam weder Halluzinationen noch Hochgefühle, aber ein bisschen Kopfschmerzen. "Hortensiensträucher abzugrasen macht also irgendwie keinen Sinn", lautet seine ernüchterte, aber lebendige Bilanz. Die Wiederholung der Versuchsanordnung durch Kontext lieferte ähnliche Resultate. Das Hanf-Magazin weiß Rat: Auch wenn Cannabis "noch verboten ist und man sich mit Erwerb, Verarbeitung, Anbau oder Besitz strafbar macht, sollte man vielleicht doch eher über diese Optionen nachdenken, als dass man Nachbars Garten rupft."


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3 Kommentare verfügbar

  • Michail Ivanowitsch
    am 05.09.2019
    Antworten
    Falsche Überschrift!
    Besser:
    Der Bürgerschreck kommt in der Nacht, und dann raucht er deine Blumenpracht! ;-)
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