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Ein Leonardo der Zeit

Ein Leonardo der Zeit
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Ein Leben lang hat Wolfgang Frey an einem Modell des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der Gleisanlagen und der Innenstadt gearbeitet. Was bewog ihn dazu? Die Künstlergruppe SOUP hat sich nun auf eine Spurensuche begeben.

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Was ist stärker: die Realität oder die Einbildungskraft? Diese Frage stellt sich angesichts der einzigartigen Modellbahnanlage von Wolfgang Frey. Von seinem 18. Lebensjahr an, 1978, bis zu seinem Tod 2012 arbeitete dieser an einer detaillierten Nachbildung des Stuttgarter Hauptbahnhofs, des Schienengeländes und der umgebenden Bebauung. Er heuerte sogar am echten Stellwerk des Hauptbahnhofs an: nicht zuletzt, um in einem unzugänglichen Nebenraum der Stuttgarter S-Bahn-Station Schwabstraße die Stelltafel im Maßstab 1:1 nachzubauen.

Rückblickend hat es etwas Gespenstisches: Kaum hatte Frey den Güterbahnhof mit der Schenker-Spedition liebevoll nachgebaut, wurde in Realität alles abgerissen. Ungewollt dokumentiert die Anlage so den Niedergang des Eisenbahn-Zeitalters. Aber das konnte Frey, der wie besessen Tag und Nacht an seinem Lebenswerk gearbeitet hat, nicht wissen.

Rainer Braun schafft das Unmögliche

"Stellwerk S" nennt Rainer Braun, Unternehmensberater und Modelleisenbahnfan, die Lokalität in Herrenberg, wo Freys Anlage, soweit sie hinein passte, seit zwei Jahren ausgestellt ist. Nach dem Tod des Modellbauers hatte Braun die Anlage gemeinsam mit dem Modelleisenbahnclub Herrenberg in akribischer Kleinarbeit zerlegt, vorsichtig aus der Landeshauptstadt nach Herrenberg transportiert und dort wieder aufgebaut. Braun und die Modelleisenbahner haben geschafft, was andere für unmöglich hielten: den Großteil der Anlage zu retten. Sogar die Stelltafel.

Monatlich kommen bis zu 1000 Besucher, etwa zur Hälfte Modelleisenbahnfans, die andere Hälfte Stuttgarterinnen und Stuttgarter, die mit den Örtlichkeiten rund um die Bahnanlagen Erinnerungen verbinden. Denn mittlerweile steht Vieles nicht mehr, was Frey im Maßstab 1:160 akribisch nachgebildet hat, vom Güterbahnhof über den Zentralen Omnibus-Bahnhof, den Inneren Nordbahnhof oder den Westbahnhof bis zum Elefantensteg nahe der Wilhelma.

Braun ist inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass es sich in erster Linie nicht um eine Modelleisenbahnanlage handelt, sondern um ein in dieser Form und Größe weltweit einmaliges Stadtmodell. Ausgehend von den Angaben des Miniaturwunderlands Hamburg, der größten Modellbahnanlage der Welt, rechnet Braun vor, müsste Frey an der 190 Quadratmeter großen Anlage 180 000 Stunden gearbeitet haben. Bei einer 40-Stunden-Woche entspräche dies, da er allein gewerkelt hat, einem Zeitraum von 100 Jahren. Frey hat aber nur 34 Jahre gebraucht. Er hat überdies nicht wie in Hamburg fertige Modellbausätze verwendet, sondern jedes einzelne Haus bis ins kleinste Detail selbst nachgebaut. Dafür verwendete er, äußerst erfinderisch, alles was ihm unter die Finger kam.

Harry Walter und SOUP suchen nach Hintergründen

Zum exakten Nachbau hat Wolfgang Frey ganze Stadtviertel abfotografiert. Auf das Phänomen Frey werden vor etwa einem Jahr Harry Walter und seine Kollegen vom "Begleitbüro SOUP" – ausgeschrieben "Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene" – aufmerksam. 200 Polaroids von Frey finden sie noch in dem Raum an der S-Bahn-Station.

SOUP hat sich 2009 gegründet, um die Vorgänge rund um das Projekt Stuttgart 21 unter die Lupe zu nehmen. Harry Walter ist in einem der Eisenbahner-Hochhäuser vis-à-vis vom Stuttgarter Hauptbahnhof aufgewachsen. Die Familie besaß, wie damals üblich, auch eine Modelleisenbahnanlage, die Walters Vater eines Tages nicht mehr aufbauen wollte. So nahm der Junge zwei Trafos und ging hinauf zu seinem Freund in die neunte Etage. Stundenlang saßen sie auf dem Balkon und steuerten die in den Hauptbahnhof ein- und ausfahrenden Züge. Von hier oben aus unterschieden sie sich damals kaum von denen der Modellbahn. Seine Leidenschaft für Modellbau hat er sich bis heute erhalten.

Und so beschlossen Harry Walter und das Begleitbüro SOUP, sich der Überreste von Freys Arbeit anzunehmen. Denn in Herrenberg befinden sich nur 85 Prozent der Anlage. Ein digitales Archiv mit 50 000 Fotos soll es irgendwo noch geben. Wenn es sich wiederfinden sollte, ein unvergleichliches Dokument zur Stadtgeschichte. Zudem stehen Teile der Anlage immer noch an der Schwabstraße herum. Hier ein Stück Weinberg, dort die Fußgängerstege von Jörg Schlaich am Nordbahnhof, entstanden zur IGA 93.

Freys Anlage zeugt von einem geradezu obsessiven Drang, die Realität im verkleinerten Maßstab zu kopieren. Signale, Verkehrszeichen, Figuren, Straßenbahnen: es gibt nichts, was er nicht berücksichtigt hätte. Selbst die Rostflecken an Eisenbahnwagen und Lokomotiven hat er penibel nachgezeichnet. Nur manchmal hat er sich Freiheiten erlaubt: So biegt die Eisenbahnbrücke über den Neckar nach links ab. Aus Platzgründen.

Bazon Brock ist tief beeindruckt

Rainer Braun hatte von Anfang an von einem Kunstwerk gesprochen. Harry Walter hat nun bei einem Mann nachgefragt, der wie kein anderer prädestiniert schien, dazu Auskunft zu geben: Bazon Brock. Der heute 83-jährige Ästhetikprofessor und Kunsttheoretiker gehörte Anfang der sechziger Jahre zum engeren Kreis der Fluxus-Künstler um Joseph Beuys und Wolf Vostell. Auf der Documenta 4 rief er 1968 eine "Besucherschule" ins Leben: der Beginn der modernen Kunstpädagogik. Beim nächsten Mal 1972 war er an der Abteilung "Parallele Bildwelten" beteiligt, die unter anderem Werke von Geisteskranken in den Blick nahm.

Was würde dieser eminente Kunsttheoretiker, der für seine "Denkerei" in Berlin derzeit nach neuen Räumen sucht, zu Freys Modellbahn sagen? Walter hatte ein wenig Angst, Brock würde abwinken mit dem Argument, ähnliches hätte es in der Vergangenheit doch längst gegeben. Aber weit gefehlt. Brock spart nicht an Superlativen, als er die Räumlichkeiten an der S‑Bahn-Station betritt: "Eigentlich ist das unter dem Niveau einer Wagner-Oper gar nicht zu würdigen", meint er. Er vergleicht das Modell mit der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo und bezeichnet Frey als einen "Leonardo der Zeit", der "das bedeutendste Kunstwerk der 70er/80er Jahre auf der ganzen Welt" geschaffen habe.

Das ist nicht nur so dahergeredet. Brock begründet seine Aussagen mit tiefsinnigen Betrachtungen über die erste Vogelperspektive auf Venedig im 15. Jahrhundert, die das Zeitalter des Humanismus eingeläutet habe. Er reflektiert über das Verhältnis von Realität und Modell in den modernen Wissenschaften. Vom fragmentarischen Zustand der Überreste in der Schwabstraße kommt er auf die Antike: Nur Ruinen überdauern die Zeit.

SOUP solle sich an ein Museum wenden, schlägt Brock vor. "Ihr müsst den Museumsdirektor so weit bringen, dass er erkennen kann, was er an diesen Zeugnissen eines Großkünstlers des 20. Jahrhunderts hat." Denn wie sich Frey in den Sog der Arbeit an seinem Modell habe hineinziehen lassen, das könne nur ein Künstler aushalten. "Man kommt nach Stuttgart und denkt, naja, das wird das Übliche sein, und dann sieht man plötzlich das Grandioseste, was es in der Kunst der Gegenwart gibt."

Konzept-Kunst zum Bahnmodell

Die Künstler von SOUP nähern sich den Überresten auf ihre Weise. Weniger hochgestochen als Brock, greifen sie kleinere Fragmente heraus und heben sie auf den Sockel, lassen eine Modellbahn mit Kamera durch den Raum in der Schwabstraße fahren oder stapeln die übrig gebliebenen Grundplatten zu einem "Kenotaph": einem Scheingrab der Anlage.

Das Begleitbüro arbeitet nicht nur selbst, sondern hat weitere Künstlerinnen und Künstler eingeladen, sich mit Freys Welt auseinanderzusetzen. Was nun in einem Nebenraum in Herrenberg zu sehen ist, ist erst der Anfang. In Vorbereitung befinden sich unter anderem eine Arbeit der Konzeptkünstlerin Karin Sander und ein 90-minütiger Film des österreichischen Regisseurs Daniel Haingartner.

Auf Harry Walter übt Freys Miniaturwelt eine eigenartige Faszination aus, die sich auch mit seiner eigenen Kindheit verbindet. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg Aufklärungsflieger gewesen. Er ist abgestürzt, wie Joseph Beuys, wenn auch nicht hinter den feindlichen Linien. Schon bald nach dem Krieg bastelte er in einer Dachkammer an einer Modelleisenbahnanlage, auf der er, bevor er sie endgültig wegsperrte, Zugunglücke inszenierte und senkrecht von oben fotografierte: wie aus dem Flugzeug.

"Nirgends wurde so viel mit Modelleisenbahnen gespielt wie im Nachkriegs-Deutschland", sagt Walter. Und er erkennt darin geheime Verbindungen zur Welt des Kriegs. Während die Außenwelt zu einer Trümmerlandschaft geworden war, blieb die "innere Schweiz" der Modellbahn-Bergidylle immer völlig intakt. Eine heile Welt, in die sich die Väter zurückzogen und ihre Söhne bestenfalls mitnahmen. Zugleich spiegelt die Miniaturwelt aber auch die Feldherrenperspektive: Am Modell wird die Welt überschaubar. Vor dem Modell des geplanten Neubaus der Stadt Linz, wo er seine Jugend verbrachte, träumte Hitler im Führerbunker bis zuletzt seine gigantomanischen Träume, während Hermann Göring auf seinem Landsitz Carinhall auf seine Modelleisenbahnanlage Miniaturbomben abwarf.

Kindergeburtstag auf VHS

Harry Walter fand heraus, dass auch Wolfgang Freys Vater Pilot gewesen ist. Er ist sogar auf dem Titelblatt des 1964 veröffentlichten Sachbuchs "Angriffshöhe 4000" von Cajus Becker zu sehen. Der Autor, bürgerlich Hans Dieter Berenbrok, früher Funkoffizier der Kriegsmarine, veröffentlichte seit 1953 Bücher, die aufgrund ihrer Detailkenntnisse über die Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg ein großes Publikum erreichten.

"Kindergeburtstag" steht auf der Hülle einer VHS-Videokassette, die sich auch im Raum in der Schwabstraße fand. Es handelt sich um den vierten Geburtstag von Freys Tochter. Am Schreibtisch sitzend ist auch sein Vater zu sehen. Dann macht die Kamera einen Schwenk. Der Blick fällt auf Flugzeugmodelle. Die scheinbar heile Welt wird doppelbödig. Ein Blick in die Vergangenheit tut sich auf. Steckt in diesen Modellen nicht das Kriegserlebnis von Freys Vater?

Freys Modellbahn jedenfalls bewahrt ebenfalls eine Erinnerung: Sie hält fest, was mit dem Bau von Stuttgart 21 aus dem Stadtbild verschwindet.


Info:

Das Stadt- und Eisenbahnmodell befindet sich im Stellwerk S  in der Nagolder Straße 14 in Herrenberg, zu Fuß fünf Minuten vom Bahnhof entfernt, und kann donnerstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr besichtigt werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • Rikki
    am 02.08.2019
    Antworten
    Danke an Herrenberg und an @Braun und den vielen Anderen

    Obwohl ich BB an anderer Stelle durchaus habe schätzen gelernt.... warum er unbedingt noch an Museen 'glaubt', ist mir ein Rätsel!
    Und warum SOUP diese Aussage nicht hinterfragt, auch...

    Leute, aus Bauzaun-Wegnahme und 'dagegen-leben'…
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