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Demolition Art

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Die von S 21 verursachten Risse und Abrisse müssen vom Bürger geduldet werden, weil das Jahrhundertprojekt ein Gesamtkunstwerk ist. Geschaffen von dem DB-Künstlerkollektiv Teufel, Dürr, Schuster und wie-heißt-der/die-noch gleich?

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Hört ihr das? Wie es aus dem Kernerviertel heraus knirscht und ächzt und stöhnt? Und inzwischen auch seufzt und seufzt und seufzt. Ach, diese Risse, diese entsetzlichen Risse! Aber jetzt ist Schluss mit der Seufzerei. Hört endlich genau zu und dann auf mit eurem kleinmütigen Gejammer, so muss man barsch befehlen. Es geht doch um Größeres, ja, es geht um ganz Großes! Nämlich um S21!! Und ihr seid Teil dieses epochemachenden Projekts, jawohl, ihr dürft partizipieren, wenn auch nicht mehr unbedingt in euren Häusern.

Und nun schaut euch eure Risse mal genauer an: Erinnern Sie nicht ein bisschen an die Klecksographien des Rorschach-Tests, bei dem der Proband in die Farben und Formen so lange irgendwas hineininterpretiert, bis der Doktor sagt, nun ist es gut? Bei 97 Prozent der Risse-Besitzer lautet die Antwort auf die Frage "Was könnte das sein?" leider immer noch: "Bahnhof". Und nur drei Prozent geben die richtige Antwort, nämlich: "Kunst!"

Jawohl, es ist eine Kunst in Stuttgarter Tradition, wie sie etwa per Bilderperforation Lucio Fontana (1899 bis 1968) in der Staatsgalerie vorführt, sein "Concetto Spaziale (Raum-Konzept)" zum Beispiel erweist sich als Leinwand mit Riss. Ab dem Jahr 1947 ging Fontana "vom Ende aller statischen Kunstgattungen aus, die durch eine dynamische Kunst ersetzt werden sollten." Hah! Da tat und tut sich also was, da geht’s auch ab in die Dreidimensionalität, da geht die Kunst sogar hinaus als "sich frei entfaltendes, unbegrenztes Kontinuum." Und jetzt: Obacht! Fontana lässt seine Kunst nicht nur ins Weite, sondern auch ins Leere laufen, er kreiert im Jahr 1949 seine ersten und "Buchi" genannten Löcher.

Wer denkt da nicht an S 21! Das zunächst in die Tiefe konzipierte, nun aber in die Höhe gebretterte Loch vor dem Staatstheater, die begehbare Installation "Probegrube" des Künstlers Tobias Rehberger, bezieht sich allerdings nur auf die S-21-Rosenstein-Bebauung. Es ist dies, angesichts der tatsächlichen Dimensionen des größten Kunstprojekts der Gegenwart, - wenn nicht gar aller Zeiten! – nur ein Nebenaspekt, quasi ein winziges Löchlein.

Immerhin bringt dieses putzig-bunte Löchlein endlich und ganz offiziell die Kunst und S 21 zusammen, auch wenn es so tut, als handle es sich nur um Kunst am Bau. Tatsächlich handelt es sich bei S 21 aber um Kunst ALS Bau. Da können und konnten sich Teufel, Dürr, Rommel, Wissmann, Oettinger, Schuster, Gönner, Mappus, Mehdorn, Grube, Kefer, Drexler, Schmiedel, Dietrich und Wie-heißt-der/die-noch-gleich? immer wieder mit biederer Miene vor die Mikrofone stellen und erklären, es ginge doch bloß um einen Bahnhof.

Nur Banausen fragen: Ist S 21 wirklich Kunst?

Tatsächlich sind die Genannten (und noch einige mehr) ein unter dem Namen DB arbeitendes Künstlerkollektiv, das gar nicht daran denkt, seine öffentlichen Gelder für banalen Blödsinn wie eine unterirdische Haltestation auszugeben, sondern ihre Milliarden lieber und für uns alle in avancierteste Kunst steckt. In eine Demolition Art sozusagen, die in die Welt hinauswuchert und es also nicht nur schafft, sich in das ganz normale Hausleben der Kernerviertelbürger einzumischen, sondern auch, etwa durch massive Eingriffe ins Zeitmanagement der Bahnfahrer, in das deutsche Leben insgesamt.

Und trotz dieser so offensichtlichen Erfolge wagen es Restbestände von Banausen immer noch, skeptisch zu fragen: Ist S 21 wirklich Kunst? Da muss man dann halt geduldig erklären, dass es sich bei der Definition von Kunst um einen Zuschreibungsprozess handelt und dass es spätestens seit Marcel Duchamps "Fontäne" – vulgo: Urinal – im Jahr 1917 möglich ist, die Realität zur Kunst zu erklären. Zudem finden sich bei S 21 alle möglichen Kunstrichtungen versammelt und integriert – von der ersten bis zur allerletzten.

Beispielsweise die so genannte Vanitas-Darstellung des Barock: "Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden", hat Andreas Gryphius 1637 geschrieben und die DB mit einem Slogan versorgt, der wohl demnächst zum Einsatz kommen wird. Jawohl, S 21 steht auch für die Vergänglichkeit alles Irdischen und Unterirdischen, und dass dieses Projekt schon während seiner Entstehung zerfällt, ist eine ebenso subtile wie paradoxe Metapher für die Gleichzeitigkeit von Vergänglichkeit und Ewigkeit. Quasi ewige Vergänglichkeit.

Und vom Barock über die Romantik bis in die Gegenwart zieht sich auch etwas ganz Spezielles, nämlich die künstliche Ruine als Vanitas-Architektur. In den Parks von Schwetzingen oder von Hohenheim steht einiges absichtlich nicht fertig Gebaute herum, und sogar beim postmodernen Bau der Neuen Stuttgarter Staatsgalerie fallen von Anfang an die Steine aus dem Sockel. Alles Vorläufer von S 21, der schon jetzt größten aller künstlichen Ruinen. In der Staatsgalerie wandert inzwischen das vom Künstler absichtlich geschredderte Banksy-Werk "Love is in the Bin" von Raum zu Raum, über das der Kritiker der "Zeit" schrieb: "Erst kaputt ist es so richtig Kunst". Und was die Risse betrifft: die hat schon Leonard Cohen zu Kunst geadelt: "There’s a Crack in everything, that’s how the Light gets in". Jawohl, S 21 wird im Cohenschen Sinn mehr und mehr zu einem erleuchteten Projekt.

Ein Da Vinci ist ein Schnäppchen im Vergleich

Sich selbst zerstören und gerade dadurch Kunst werden, das allerdings hat eben nicht Banksy erfunden (und Cohen auch nur in sehr verdichteter Form), sondern eben, und dies in gigantischer Vergrößerung, das DB-Künstlerkollektiv. Überhaupt ist S21 ein Rekordprojekt. Auch was seine Nichtfertigstellung betrifft: Noch hat des Künstlers Antonio Gaudi im Jahr 1882 begonnene Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona dem Stuttgarter Vorhaben ein paar Jahre als Baustelle voraus, aber warten wir noch ein paar Jahrhunderte, und …

Und dann noch eine Anmerkung in Sachen Preis: das Da Vinci zugeschriebene (manchmal auch nicht) Gemälde "Salvator mundi" gilt mit 450 Millionen Dollar Versteigerungserlös als teuerstes Bild der Welt, das Kunstwerk S 21 aber ist schon jetzt fast zehnmal so teuer und dürfte schon bald die Zehn-Milliarden-Euro-Grenze überschreiten.

Sollte S 21 also mal versteigert werden, käme wohl nur ein arabisches Öl-Reich in Frage, zum einen wegen des Preises, zum anderen auch wegen des Platzes. Die London Bridge abbauen und in Arizona wieder aufbauen, wie das 1968 ein US-Milliardär machen ließ, das war ja nur ein Klacks gegen den Abbau und die Verschiffung eines aus sechzig Kilometern Tunnel, 21 Kelchstützen und acht schiefen Bahnsteigen bestehenden Gesamtkunstwerks. So etwas lässt sich eigentlich nur in der Wüste verbuddeln.

Wie bitte? Ach nein, schon wieder taucht diese doch längst beantwortete Frage auf: Ist das Kunst oder kann das weg? Also gut, ein letztes Mal: S 21 muss Kunst sein, denn als extrem destruktiv in Stadt, Land, Fluss eingreifender und alles beschädigender Bahnhof hätte das Projekt ja nie begonnen werden dürfen. Als Bahnhof könnte, ja müsste, das weg.


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1 Kommentar verfügbar

  • Gisela Heinzmann
    am 28.06.2019
    Antworten
    Nur ewig schade, dass die Herren Teufel, Dürr, Rommel, Wissmann, Oettinger, Schuster, Mappus, Mehdorn, Grube, Kefer, Drexler, Schmiedel, Dietrich... mit Gönner-Dame die ewige Fertigstellung des Unvollendeten nicht mehr werden erleben müssen.
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