KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Utopie aus dem Kühlschrank

Utopie aus dem Kühlschrank
|

 Fotos: Jens Volle 

|

Datum:

Stuttgart als progressiver Pionier: Das bundesweit erste Foodsharing-Café hat am Hölderlinplatz eröffnet. Essen ist dort gratis, Getränke zahlt man nach eigenem Gutdünken. Nach jahrelangem Hickhack startet damit ein Projekt, das zeigt, dass man mit Nahrung auch anders umgehen kann.

Zurück Weiter

Szenen wie aus einem gesetzlosen Paralleluniversum: Menschen nehmen sich ungefragt Essen aus dem Kühlschrank, eine Frau schlemmt Spargel aus einem Glas, ein Mann schmiert sich in Seelenruhe ein Brötchen. Jeder zahlt für sein Bier soviel, wie er oder sie gerade Lust hat. Auch für den Cappuccino und die Mate-Flasche kramt jeder einen anderen Betrag aus dem Geldbeutel. Dazu dudelt langsame elektronische Musik aus zwei länglichen schwarzen Boxen. Die Tafel mit dem Getränkeangebot, das mächtig über dem Tresen prangt, listet nur Getränke auf, keine Preise.

Doch nein, das sind keine Filmsequenzen, dies ist kein Paralleluniversum – sondern Realität. Genauer gesagt:  Gelebte Utopie im Stuttgarter Westen, im Café "Raupe Immersatt", direkt an der Haltestelle Hölderlinplatz. Es ist der Eröffnungstag des bundesweit ersten und einzigen Foodsharing-Cafés. Dort finden Lebensmittel, die sonst der Tonne zum Opfer gefallen wären, ihren Weg in die Mägen der Besucherinnen und Besucher.

Lange waberte das Projekt als utopisches Ansinnen durch die Köpfe der Macherinnen und Unterstützer. Max, Maike, Simon, Jana und Lisandro bilden den harten Kern des Raupe-Teams. Erst wurde Geld gesammelt – über 26 000 Euro bei einer Crowdfunding-Kampagne. Dann fehlte nur noch eine Räumlichkeit. Kein einfaches Unterfangen in der Schwabenmetropole. Nach über zwei Jahren und einem in letzter Minute geplatzten Vertrag fand sich endlich eine geeignete Bleibe.

Zunächst einmal: "Labormonat"

Ein Café mit "Zahle-wie-du-dich-fühlst"-Prinzip – in Stuttgart? Das klingt mindestens gewagt. Lisandro Behrens (29), huttragender Mitorganisator der Raupe Immersatt, sitzt auf einer schmalen Treppe draußen vor dem Eingang. Er zeigt sich zuversichtlich: "Der Schwabe gibt lieber Geld für was Gescheites aus, das dann auch länger hält". Im Fall des Raupen-Cafés sollen guter Kaffee und gerettete Bio-Kost also ohne Preisdruck im Nacken überzeugen. Zudem werde den Gästen der ideelle Wert der Lebensmittel klar. Der ist Lisandro und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern besonders wichtig: "Essen hat nicht bloß einen Geldwert", so der 29-Jährige.

Ob sich das Konzept langfristig hält, wird sich zeigen. Jetzt ist erstmal ein "Labormonat" angesagt. Nicht nur das Essen, auch den Mensch hatten die Raupe-Gründer im Blick. Das Bezahlmodell ermögliche es beispielsweise auch Hartz-IV-Empfängern mit klammem Geldbeutel, ohne Stigmatisierung am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Die fünf Idealisten, die das Café betreiben, sind schon lange bei der Initiative Foodsharing aktiv. Dort vernetzt man sich gegen die Verschwendung, holt Lebensmittel bei Betrieben ab und verteilt diese dann. So bekommt auch die Raupe Immersatt viel von den Essensrettern der Foodsharing-Initiative vorbeigebracht – oder es wird eben selbst bei nahegelegenen Supermärkten mitgenommen.

Kaffee und Kekse sind aber nur ein Aspekt. Die Intention, die Lisandro und Co. mit ihrem Projekt verfolgen, hat auch eine politische Komponente. "Wir sehen viele Probleme in unserer Art, zu wirtschaften und zu konsumieren", sagt Lisandro. Deshalb gibt es in ihrem Kaffeehaus auch Vorträge über Nachhaltigkeit, Flyer über Bienensterben und Repair-Cafés. Eine "Traumreise" gab es am Freitag, einen Tag nach der Eröffnung. In einer Art szenischen Lesung wurde über eine Welt ohne Lebensmittelverschwendung und Wegwerfmentalität sinniert. Eine Welt ohne Foodsharing also? Richtig, der konsequente Endzweck des Cafés sei die Selbstabschaffung, erklärt Orga-Teammitglied Lisandro. Denn in einer idealen Welt gebe es keine Verschwendung von Lebensmitteln mehr.

Traumreisen und die Selbstabschaffung

Jonathan Schmalwasser ist Anwärter auf ein Getränk in der Schlange, die am Eröffnungstag bis zur Straße führt. Er hält das Konzept für machbar. "Die Kultur dafür ist hier stark genug", sagt er. Der 23-Jährige, ursprünglich aus Berlin, erklärt die Magie des Zahlens nach Gutdünken so: "Man bekommt das Gefühl, dass die Leute hinter der Theke einem nicht bloß etwas verkaufen möchten". Das schaffe eine stärkere Kundenbindung.

Eine stärkere Bindung für Nase und Augen schafft der Mitmach-Garten. Er residiert im kleinen Hinterhof des Cafés, dezent neben den zahlreichen Mülltonen platziert. Lisandro vom Orga-Team erklärt, dass der Geruch so im Zaum gehalten wird. Schön anzusehen sind sie allemal: Thymian, Minze, Rosmarin, Schnittlauch und Zitronenmelisse sind allesamt fein drapiert in Blumenkästen. Preiswürdig sieht das aus – und tatsächlich sahnte das Raupen-Team bereits den Publikumspreis der Stuttgarter Bürgerstiftung ab. Das war bereits lange vor der Eröffnung. 3000 Euro gab’s, dazu natürlich "ganz viel Ruhm und Ehre", scherzt Lisandro und nippt am Cappuccino.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!