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Petersburger Impressionen

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 Fotos: Elena Maslovskaya und Jörg Munder 

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Das westliche Bild von Russland ist schief, sagt der Gewerkschaftssekretär Jörg Munder. Mit einer Fotoausstellung über Sankt Petersburg will er zeigen, was die Menschen dort beschäftigt und wie sie sich selbst wahrnehmen.

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"In Frankreich ist der 8. Mai ein Feiertag, in Russland der 9.", beschwert sich Jörg Munder: "In Deutschland wird der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus dagegen mit Schweigen übergangen." Der DGB-Bundeskongress hat jedoch vor einem Jahr beschlossen, sich dafür einzusetzen, den Tag auch in Deutschland zum Feiertag zu machen: als Tag gegen Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung. Dies liefert den Anstoß zu einer Fotoausstellung im Foyer des Willi-Bleicher-Hauses in Stuttgart, wo Munder als DGB- Gewerkschaftssekretär auch arbeitet. Denn in Russland gehört der Tag des Sieges, wie der 9. Mai dort genannt wird, zu den wichtigsten Feiertagen.

Zu sehen sind in der Ausstellung Bilder aus Sankt Petersburg von ihm und seiner Frau Elena Maslovskaya. Sie stammt aus der früheren Hauptstadt des Zarenreichs, wo die beiden mitten im Zentrum auch eine Wohnung haben. Munder ist seit mehr als 15 Jahren bei jeder Gelegenheit dort. Schon 1990 hätte er beinahe ein Studium in Moskau aufgenommen. Er beobachtet eine Diskrepanz zwischen dem, was er in Russland erlebt, wie die Menschen sich selbst dort wahrnehmen, und den Vorstellungen von Russland, denen er in Deutschland begegnet.

Reflexhaft kommen die meisten, mit denen Munder spricht, immer sofort auf Putin, die Krim und den Donbass zu sprechen. Das Bild, das sie von Russland haben, sei negativ geprägt, obwohl sie gleichzeitig wenig wüssten. Dies liege an der Berichterstattung in den Medien, die in aller Regel einseitig für die Ukraine Partei ergreifen, Wladimir Putin als anti-demokratischen Alleinherrscher darstellen und die Opposition feiern. Dabei sei der prominente Putin-Kritiker Alexej Nawalny, so Munder, ein fremdenfeindlicher Rechtspopulist, wie ihn sich diejenigen, die ihm aus Westeuropa zujubeln, im eigenen Land wohl nicht wünschen würden.

Die Grautöne, sie fehlen meist bei der Berichterstattung. Man muss Putin nicht wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder als "lupenreinen Demokraten" bezeichnen, um seine hohe Popularität in Russland anzuerkennen. Was immer Wahlbeobachter zu beanstanden haben mögen: 77 Prozent der Stimmen hat Putin bei der letzten Präsidentenwahl bekommen, bei einer Wahlbeteiligung von 67 Prozent und nur zwölf Prozent für den Zweitplazierten. Ein solches Ergebnis verweist vielleicht auf eine schwach entwickelte demokratische Kultur oder einen Mangel an Alternativen, aber es kann nicht das Ergebnis von Wahlbetrug sein. Es zeugt von einer hohen Zustimmung. Was Putin dazu verhilft, ist genau das, was die NATO-Staaten ihm krumm nehmen: seine Politik der Stärke. Und paradoxerweise tragen alle Sanktionen, alle Kritik von außen, die Position des Westens im Ukraine-Konflikt ebenso wie NATO-Manöver im Baltikum nur dazu bei, seine Position zu stärken.

Bewegung von unten: Das "unsterbliche Regiment"

Denn wenn es etwas gibt, das Russland eint, so scheint es der Wunsch zu sein, angesichts einer äußeren Bedrohung zusammenzustehen. Dieses Gefühl resultiert aus der historischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, nicht aus staatlicher Propaganda, auch wenn Putin sich diese Erfahrung zunutze zu machen weiß. Mehr als alles andere zeigt dies die Bewegung "Bessmertny Polk", die auch im Zentrum von Munders Ausstellung im Gewerkschaftshaus steht.

Bessmertny Polk heißt "unsterbliches Regiment". Das klingt martialisch. Doch die Bewegung ist nicht zu verwechseln mit den Siegesparaden auf dem Roten Platz in Moskau, die nach dem Krieg zunächst nur einmal stattfanden. Erst 1965 begann die KPdSU unter Leonid Iljitsch Breschnew, jährliche Paraden zu veranstalten. Der Ruhm Lenins war allmählich verblasst, die Sowjetunion suchte nach einem neuen Mythos, um die Nation zu einen. Darauf bezieht sich auch Putin. In Russland wird der 9. Mai gefeiert, nicht wie in Frankreich der 8., weil dort 1945 in dem Moment, als die deutsche Wehrmacht in Reims die Kapitulation unterzeichnete, bereits der nächste Tag angebrochen war. Seit 1975 gab es den Feiertag auch in der DDR.

Der Bessmertny Polk ist eine andere Geschichte. Nachdem es anderswo schon früher zu ähnlichen Veranstaltungen gekommen war, fand der Gedenkmarsch unter diesem Namen zum ersten Mal 2012 im westsibirischen Tomsk statt. Es ist eine Bewegung von unten, die nichts Martialisches an sich hat, wie die Fotos von Munder und Maslovskaya zeigen. Wer Angehörige oder Vorfahren hat, die am "Großen Vaterländischen Krieg" teilgenommen haben, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird, trägt deren Porträts auf einer Tafel mit Stange vor sich her, wie sie in jedem Copyshop zu haben ist.

Putin hat die Bewegung nicht initiiert, aber instrumentalisiert sie

Die Bewegung hat sich explosionsartig verbreitet. Schon im zweiten Jahr fand der Aufmarsch in dreißig Städten statt, 2014 waren es 120, im nächsten Jahr 500. Heute gibt es Millionen Teilnehmer auf der ganzen Welt, auch in Deutschland und auch in Kiew, selbst wenn ukrainische Nationalisten den Marsch als russische Propaganda ansehen. Aber Putin hat die Bewegung nicht initiiert, er weiß sie nur für sich zu nutzen. Als einfacher Teilnehmer, mitten in der Menschenmenge mit einem Bild seines Vaters, nimmt er an der Gedenkveranstaltung teil. Das kommt in Russland gut an.

Auf den Fotos von Munder und Maslovskaya sind gelegentlich ein roter Stern oder eine Sowjetflagge zu sehen. Manche Teilnehmer, oft Frauen, haben die Pilotka aufgesetzt, das Schiffchen der Roten Armee. Aber die meisten tragen gewöhnliche Alltagskleidung, nur sehr wenige Uniform. Es ist eine friedliche Veranstaltung, die keineswegs nach einer Militärparade aussieht – die Veranstalter wollen erklärtermaßen Politik und Werbung heraushalten. Sie erinnert eher an eine Demonstration, die freilich kein anderes Anliegen hat, als die Opfer des Krieges zu ehren, oder noch eher an eine Prozession: Die Menschen tragen die Bilder ihrer Angehörigen vor sich her wie Ikonen.

An Kriegsopfer zu erinnern, kann zweischneidig sein. In Deutschland wurde das Gedenken an die Gefallenen, vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bis zum Zweiten Weltkrieg, oftmals instrumentalisiert. "Furchtlos und treu" steht über einer Kriegergedenkstätte in einer Nische am Chor der Esslinger Stadtkirche St. Dionys: die alte Devise der Württemberger. Aber unter dem steinernen Soldaten, der sein Haupt auf sein letztes Ruhekissen bettet, geht die Inschrift noch weiter: "fürs Vaterland sterben."

Oft vergessen: Wie traumatisch der Krieg für Russland war

Dennoch ist die Erinnerung an die Opfer des Krieges nicht gleichzusetzen mit Militarismus. In Stuttgart-Münster gibt es sogar ein Kriegerdenkmal von 1923, auf dem der Slogan der Friedensbewegung steht: "Nie wieder Krieg!" Bei näherer Betrachtung hat der Bessmertny Polk nichts Militaristisches an sich. Jung und alt kommen zusammen, aus freien Stücken, kein Gleichschritt und keine Parolen.

Was für mein traumatisches Ereignis der "Große Vaterländische Krieg" für Russland war, wird heute oft vergessen. 27 Millionen Menschen haben nach offiziellen Angaben ihr Leben gelassen, vielleicht auch mehr, etwa die Hälfte aller Toten auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs. Dagegen haben Großbritannien und die USA jeweils kaum eine halbe Million Opfer zu beklagen. Der deutsche Ausspruch "die Russen kommen" verkehrt auf groteske Weise die Realität: Deutschland hat 1941 Russland überfallen, nicht umgekehrt, und von deutscher Seite wurde der Krieg von Anfang an als Vernichtungskrieg geführt.

Um bei Sankt Petersburg, das früher Leningrad hieß, zu bleiben: Bei der Leningrader Blockade 1941 bis 1944 kamen weit über eine Million Zivilisten ums Leben. Es war das erklärte Ziel der Deutschen, die Stadt buchstäblich auszuhungern. Die russischen Zwangsarbeiter in Deutschland – es gab davon 2,8 Millionen – wurden besonders unmenschlich behandelt. Die ebenso bequeme wie sadistische Begründung: Sie seien Untermenschen. Die Angst vor den Russen war die Angst davor, dass diese "Untermenschen" Rache nehmen könnten.

Die Bilder zeigen den Alltag in Sankt Petersburg

"Meinst du, die Russen wollen Krieg?", zitiert Munder im Titel seiner Ausstellung ein Lied aus dem Jahr 1961, nach einem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko. Hintergrund war der Kalte Krieg. Jewtuschenko, der vor zwei Jahren in den USA verstorben ist, war als Enkel eines Deutschen in der sibirischen Verbannung auf die Welt gekommen. Er hat sich nie den Mund verbieten lassen, war zuletzt sogar Abgeordneter des Obersten Sowjets, bis er nach dem Putsch gegen Gorbatschow 1991 das Land verließ.

Heute befinden wir uns erneut in einer Situation, in der die Spannungen zwischen West und Ost zunehmen. "Meinst du, die Russen wollen Krieg?": Unter diesen Titel hat auch der Journalist Jörg Kronauer ein Buch gestellt, in dem er die heutigen Ost-West-Beziehungen analysiert. Ähnlich wie der frühere Bundeswehr-Oberst Wolfgang Richter in einem Vortrag für die Friedensfreunde Dülmen kommt er zu dem Ergebnis: Im aktuellen Ost-West-Konflikt geht die Aggression eher von den westlichen Mächten aus.

Munders und Maslovskayas Fotos laden ein, sich die Menschen im heutigen Sankt Petersburg, dem ehemaligen Leningrad anzusehen, beim Bessmerty Polk oder auch im Alltag. Liebespaare und Angler bevölkern das Ufer des Fontankakanals. Alte Mütterlein bieten an den Ausgängen der Metro ihre Handarbeiten an, während im U-Bahn-Wagen alle in ihr Handy starren. Aufgetakelte ältere Damen sitzen in einem der privaten Minibusse, in auffälligem Kontrast zu ihrer schäbigen Umgebung. Ein älterer Mann spielt Bajan, das russische Akkordeon, ein junger Straßenmusiker trommelt auf Kanistern und Blecheimern, während ein weiterer Musiker unter dem Schutz eines Balkons in die Klaviertasten greift.

Manches ist anders, aber nichts wirkt bedrohlich. Munder verlässt sich allerdings nicht allein auf die Bilder. Auf sieben Stelltafeln bietet er weitere Informationen: von der deutsch-russischen Geschichte bis hin zu den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen.

 

Info:

Die Ausstellung "Meinst du, die Russen wollen Krieg?" läuft noch bis zum 7. Juni im Willi-Bleicher-Haus (Willi-Bleicher-Straße 20, 70174 Stuttgart) und ist montags bis freitags von 8 bis 20 Uhr zu besichtigen.


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4 Kommentare verfügbar

  • D. Hartmann
    am 05.06.2019
    Antworten
    Ein Detail am Rande:
    In Reims wurde die Kapitulation der deutschen Wehrmacht mit Wirkung zum 08. Mai 23:01 schon in der Nacht vom 06. auf den 07. Mai unterzeichnet. Nach der Logik des Autors dieses Artikels müsste dann der 7. Mai in Russland Feiertag sein.

    Dass in Russland der 9. Mai als…
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