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Lausige Ein-Zimmer-Wohnung, 1100 Euro kalt

Lausige Ein-Zimmer-Wohnung, 1100 Euro kalt
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Der Mietenwahnsinn treibt auch in Stuttgart Tausende auf die Straße. Sie versammeln sich auf dem Schlossplatz, ziehen durch die Stadt und manche von ihnen in leerstehende Häuser. Scharf beobachtet von der Polizei, die zügig zum Pfefferspray greift.

Drinnen im verlassenen Gebäude, Böblinger Straße 104, haben Aktivisten ein paar alte "Hofbräu"-Radler auf dem Tresen entdeckt – mindestens haltbar bis April 2014. "Bier wird nicht schlecht, höchstens schal", doziert ein Wuschelkopf mit erhobenem Zeigefinger. Dann nimmt er einen Schluck und bereut seinen Wagemut zugleich. "Bwäh. Fürch-ter-lich!" Das Gesöff ist immerhin fünf Jahre drüber, wir schreiben Samstag, den 6. April 2019.

Hier, im Süden der Landeshauptstadt, war früher der Bierproduzent "Hofbräu" ansässig. Seit Jahren steht das Gebäude leer. Vergangenen Samstag haben es einige Aktivisten ein paar Stunden lang symbolisch besetzt. Daniel, der in Wahrheit anders heißt, ist nicht mit dabei. Er sitzt etwas abseits, mit stark gerötetem Kopf, zeigt auf vier Mannschaftsbusse der Polizei, die ein paar Meter weiter parken, und meint: "Wenn ich heut' noch 'ne Ladung abbekomm', besorg' ich mir 'nen Strick." Vor zwei Stunden wurde er mit Pfefferspray eingenebelt. Für heute hat er erstmal genug. 

Andere nicht. Sie bieten eine "kreative Ortsbesichtigung" in der leerstehenden "Hofbräu"-Zentrale an, und die Leute malen sich aus, was sie mit dem Dutzende Zimmer zählenden Gebäude anstellen könnten. 2015 hat die Discounter-Kette Aldi das Grundstück erworben und will nun auf knapp 14 000 Quadratmetern einen Supermarkt und 51 hochwertige Wohnungen bauen. "Um einen großen Mietwohnbestand können wir uns nicht kümmern", teilte ein Aldi-Vertreter im Frühjahr 2016 mit, als er der Stuttgarter Öffentlichkeit die Pläne seines Unternehmens präsentierte. 49 der geplanten Wohnungen sollen daher der Eigentumsbildung dienen.

Im Sommer 2015 hatte sich die Fraktionsgemeinschaft SÖS-Linke-Plus im Stuttgarter Rathaus dafür ausgesprochen, dass die Stadt das alte Hofbräu-Areal selbst erwerben solle, um es gestalten zu können. Der Gemeinderat entschied sich mehrheitlich dagegen, wollte die Eigentumswohnungen und insbesondere den Aldi. "Wir setzen auf diese Ansiedlung", betonte Dieter Rentschler von der städtischen Wirtschaftsförderung. Denn mit einem solchen "Anker", so die Hoffnung, würden sich bald weitere Investoren am Standort Heslach niederlassen. Eine Aufwertung des Viertels, die stets auch gentrifizierend wirkt, war also der erklärte politische Wille.

Die Not ist längst eine Katastrophe 

Aus der Wohnungsnot in Stuttgart, die sich schon damals deutlich abzeichnete, ist inzwischen eine veritable Katastrophe geworden. Lausige Ein-Zimmer-Wohnungen in der Innenstadt werden für 1100 Euro kalt vermietet, und verzweifelte Interessenten schlagen sich bei sardinenbüchsenartig überfüllten Besichtigungsterminen schier die Köpfe ein. Studierende, Azubis und Berufseinsteiger blechen nicht selten 600 Euro im Monat und mehr für ein zwölf oder fünfzehn Quadratmeter großes WG-Zimmer. Bei Neuvermietungen sind die Preise in der Landeshauptstadt in nur einem Jahrzehnt um gut 40 Prozent gestiegen. Und nach den düsteren Prognosen des Mieterbundes werden die Angebote in deutschen Großstädten auf absehbarere Zeit nicht günstiger, sondern im Gegenteil noch schneller teurer als bisher.

Dagegen formiert sich bundesweit Protest. In Stuttgart waren es am vergangenen Samstag 4000 Menschen, unterstützt von einem breiten Bündnis. Aufgerufen hatten mehr als 30 Organisationen und Parteien, darunter auch SÖS-Linke-Plus, SPD und Grüne. Mit vereinten Kräften gäbe es im Stuttgarter Gemeinderat eigentlich eine hauchzarte öko-soziale Mehrheit, von der fraglich ist, ob sie nach den Kommunalwahlen am 26. Mai weiterhin bestehen wird. Doch in den entscheidenden Punkten ist es den Fraktionen bislang nicht gelungen, sich in der Wohnungspolitik auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. 

Und auch in den Parteien selbst besteht keineswegs Einigkeit darüber, welche Maßnahmen als geeignet angesehen werden, gegen den Missstand Wohnungsnot vorzugehen. Als sich am Samstag Bettina Öding von den Stuttgarter Mieterinitiativen auf der Demo-Bühne dafür ausspricht, große Immobilienkonzerne wie die Vonovia oder die Deutsche Wohnen zu enteignen, wedeln im Publikum zwei von zehn SPD-Fähnchen. Das passt zum gespaltenen Zustand der Bundespartei: Die Vorsitzende Andrea Nahles ist strikt dagegen, der Vize Ralf Stegner kann es sich im Notfall vorstellen. Ähnlich elastisch präsentieren sich die Grünen: Während Bundesparteichef Robert Habeck Enteignungen als mögliche Maßnahme betrachtet, bezeichnet Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Vorschlag als Unsinn. In Stuttgart steht eine grüne Mehrheit treu an der Seite der Investoren. Von ihren Stadträten und Bürgermeistern hat es am Samstag, so weit erkennbar, niemand zur Großdemo geschafft. Dort stehen bedröppelt ein paar Mitglieder des Kreisverbandes, größtenteils von der Grünen Jugend, und der Bundestagsabgeordnete Chris Kühn aus Tübingen. Sie müssen sich anhören, ihre Partei sei ein Teil des Problems. 

Es hätte sich gelohnt, den Rednerinnen und Rednern zuzuhören. Gewerkschafter Cuno Brune-Hägele, Geschäftsführer von Verdi Stuttgart, legte dar, warum es ein Problem ist, wenn die Mietpreise in einer Republik viel schneller steigen als die Löhne (hier die ganze Rede zum Herunterladen). Adriana Uda, die im vergangenen Sommer einen Monat lang in der bis dahin leerstehenden Wilhelm-Raabe-Straße 4 lebte, erläuterte, dass sie nicht aus Jux und Dollerei zur Hausbesetzerin wurde, sondern weil sie zwei Jahre lang vergeblich nach einem Angebot für sie, ihren Lebensgefährten und ihre gemeinsame Tochter suchte. Christa Reuschle-Grundmann von der Wohnungsnotfallhilfe betonte, dass es Menschen mit fremd klingenden Namen bei der Suche nach einer bezahlbaren Bleibe noch härter hätten und rief zur Solidarität auf. Laut Rolf Gaßmann, dem Vorsitzenden des Stuttgarter Mietervereins, gäbe es konkrete Maßnahmen, die sich mit großer Wirkung sofort umsetzen ließen: Etwa die "unsägliche Modernisierungsumlage" abschaffen, die es Immobilieneignern ermöglicht, sich wertsteigernde Investitionen zu 100 Prozent von ihren Mietern abbezahlen zu lassen und noch von der Steuer abzusetzen (hier die ganze Rede zum Herunterladen).

Krawall sticht Inhalt

All das wären Aspekte, die als Impulse konstruktive Debatten zum Thema Wohnen bereichern könnten. In der medialen Berichterstattung fanden sie allerdings so gut wie keine Berücksichtigung. Denn diese fokussierte sich auf einen Nebenkriegsschauplatz: den Krawall. 

Einige Passanten staunen nicht schlecht, als sich der Demozug samt Sound-Wagen nach dem Ende der Kundgebung in Bewegung setzt und sie der Rapper Toba Borke, von trockenen Beats untermalt, gekonnt in einen Freestyle einbaut – verbunden mit der Aufforderung, sich dem Protest anzuschließen. Die Versammlung zieht vom Schloss- zum Marienplatz und wird angeführt von einem Block persönlich Betroffener, später folgt ein "Besetzen!"-Block mit vielen Teilnehmern, die sich teils der linksradikalen Szene zuordnen lassen, und erst dahinter laufen die Parteien. Nach einer guten halben Stunde zieht die Demo an einem Büro der Vonovia vorbei, dem größten deutschen Wohnunternehmen, und Farbbeutel fliegen aus dem "Besetzen!"-Block. Die Polizei ist präsent, aber greift nicht ein. Noch nicht. 

Wenig später markieren Aktivisten ein leerstehendes Haus in der Heusteigstraße 34 mit Din-A4-Papieren und Tesafilm. Die Polizei setzt Pfefferspray gegen sie ein, Sanitäter versorgen die Verletzten. Es sollte nicht bei diesem einen Einsatz von Reizgas bleiben. Gegen 17 Uhr, als die eigentliche Versammlung am Marienplatz im Süden der Stadt für beendet erklärt wird, zieht eine Gruppe von Demonstranten aus dem "Besetzen!"-Block weiter in Richtung des linken Zentrums Lilo Hermann, das nur einen knappen Kilometer entfernt ist. Sie laufen die Böblinger Straße entlang und werden schon an der zweiten Kreuzung von einer Polizeikette gestoppt. Diesmal wird das Pfefferspray großzügiger eingesetzt und in die Menge gesprüht. Am Abend zählen die ehrenamtlichen <link https: demosanitaeter.com category pressemitteilungen external-link-new-window>Demosanitäter Süd-West gut 50 Verletzte. 

Die Stuttgarter Polizei, sonst <link https: www.presseportal.de blaulicht nr external-link-new-window>sehr rege im Aussenden von Pressemeldungen, schweigt erstmal. Auf Anfrage von Kontext antwortet Sprecher Stefan Keilbach, er könne die Zahl 50 "weder bestätigen noch dementieren". Den Pfefferspray-Einsatz verteidigt er als gerechtfertigt. Im ersten Fall hätten die Beamten davon ausgehen müssen, dass die Absicht der Aktivisten nicht darin bestand, ein Haus mit Papier zu bekleben, sondern es zu besetzen: "Und die Aufgabe der Polizei ist es nun mal, drohende Straftaten abzuwenden." Zudem hätten Kollegen berichtet, dass "zwanzig bis dreißig Leute" auf sie zugestürmt seien und zudem eine Flasche in ihre Richtung geflogen sei. Auch beim zweiten Vorfall, der Spontandemo zum Lilo Hermann, habe es Aggressionen seitens der Demonstranten gegeben, die teils dem "gewalt- und besetzungsbereiten Linksextremismus" zuzurechnen seien. 

Vorgehen wirkt kopflos

Die Demonstranten erzählen eine andere Geschichte und sprechen von unverhältnismäßiger Polizeigewalt. Einer <link https: www.kontextwochenzeitung.de zeitgeschehen von-kastanien-und-pflastersteinen-5387.html external-link-new-window>erinnert an die "Stuttgarter Pflastersteine" (Polizei-Bezeichnung für geworfene Kastanien am 30.9.2010) und behauptet: "Sobald das Lilo [Hermann] involviert ist, drehen bei denen total die Sicherungen durch." Im Dezember 2017 etwa, als eine Hundertschaft schwer bewaffneter Beamter im Zuge einer bundesweiten Razzia nach dem G20-Gipfel in Hamburg die Tür zum linken Zentrum mit einem Rammbock aufbrach, schließlich nichts Illegales fand und ein paar Festplatten, Flyer und einen Autoschlüssel beschlagnahmte. Das Ermittlungsverfahren gegen eine verdächtigte Bewohnerin wurde daraufhin <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft der-rammbock-als-rohrkrepierer-5531.html external-link-new-window>ein Jahr später ergebnislos eingestellt.

Sagen wir es nett: Für Außenstehende könnte das Agieren der Staatsgewalt am vergangenen Samstag zumindest kopflos erscheinen. Ein Beispiel: Ein älterer Herr hat ein paar Kartoffeln, Erdnüsse und Alufolie in seinem Fahrradkorb und sagt, er sei ein Anwohner. "Hier kommt jetzt niemand durch!", ruft ihm ein junger Beamter entnervt zu, und als der Rentner von seinem Rad absteigt, um mit seinem Personalausweis zu belegen, dass er tatsächlich in dieser Straße wohnt, legt der überforderte Polizist nach: "Hier werden jetzt keine Bullen gestresst, verdammte Scheiße!" Eine junge Kollegin leistet ihm Beistand und fuchtelt bedrohlich mit ihrem Schlagstock vor der Nase des Senioren herum. Eine betagte Passantin will sich einmischen und fragt verwundert, was denn hier los sei – prompt wird sie am Kopf gepackt und wüst herumgeschubst. 

All das wirkt wenig souverän. Polizeisprecher Keilbach räumt auf Rückfrage immerhin ein, dass das Vorgehen der Beamten "nach außen hin unkoordiniert erscheinen" könnte. Allerdings habe es sich am Samstag um einen erfahrenen Einsatzleiter gehandelt, und es sei "keineswegs so, dass es hier keine Taktik gegeben hätte". Zum Abschluss des Gesprächs betont er noch, dass es sich bei der Wohnungsnot ja um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen handle. "Hunderte junge Kollegen", sagt Keilbach, "sind ebenfalls verzweifelt auf der Suche nach einer bezahlbaren Bleibe in der Umgebung." 

Der Druck im Kessel sucht sich seine Ventile.


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5 Kommentare verfügbar

  • Gerdi Franke
    am 14.04.2019
    Antworten
    Es geht doch gar nicht um die alten deutschen Rentner. Es heht um die Migranten, denen per Gesetz eine Wohnung zusteht, die aber nicht da ist. Deshalb der von der Politik organisierte Aufstand unter falschen Angaben!
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