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Großes Kino im Kontext-Projekt

Großes Kino im Kontext-Projekt
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Dieses Mal waren wir viel unterwegs: Im Sindelfinger Rathaus, bei SÖS in Stuttgart und im baden-württembergischen Landtag zum Gespräch mit Präsidentin Muhterem Aras. Unser drittes und letztes Medien-Projekt mit jungen MigrantInnen der Berufsschule in Sindelfingen ist zu Ende.

Singh war's! "Ich bin gehüpft", beichtet er zerknirscht, nachdem ein Techniker unsere Vabo-Klasse aus dem steckengebliebenen Paternoster im Stuttgarter Rathaus befreit hat. Abdul-Rahman knufft Singh in die Seite und beide lachen sich scheps. Wir Erwachsenen, unser Kameramann Steffen Braun, die Klassenlehrerin Ann-Katrin Reinl und ich, drehen die Augen auf zwölf und seufzen. Klar, dass bei der Ansage "bitte nicht hüpfen" einer testet, was passiert, wenn man es doch tut.

Wir sind zum Gespräch im Stuttgarter Rathaus mit Hannes Rockenbauch und Luigi Pantisano verabredet, beide engagierte Stadträte von "Stuttgart ökologisch sozial". Es soll um Demokratie gehen, um Politik, ums fremd- und heimisch sein. Noch in der S-Bahn schreiben unsere SchülerInnen ihre Fragen um. Kann man das so sagen? Ist das Wort richtig? Darf man das fragen? Na klar! Fragt alles, was euch interessiert.

Drei Klassen, drei Filme

Zum dritten Mal haben wir, Steffen Braun und ich als Kontext-Redakteurin, mit einer Sprachklasse der Gottlieb-Daimler-Schule 1 in Sindelfingen ein Medien-Projekt gemacht. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei über ein halbes Schuljahr den Umgang mit Kamera- und Tontechnik, damit sie ein Gefühl bekommen, wie Medien funktionieren und gemacht werden. Wie nebenbei lernen die SchülerInnen so, die neue Sprache auch in anderen Zusammenhängen als den schulischen anzuwenden.

Bei einer ersten Reportage-Übung, bei der wir die Klasse in Teams mit Kameras losgeschickt haben, um ihre Schule zu portraitieren, kamen herrliche kleine Geschichten heraus. Ein Team landete im Sekretariat und befragte eine der dort arbeitenden Frauen über Daten und Fakten zur Schule. Ein anderes tat einen Mechaniker auf und ließ sich die schuleigene Autowerkstatt zeigen. Ein drittes ging in die Cafeteria, fasste sich mutig ein Herz und interviewte die Frau, die seit vielen Jahren dort hinter der Theke steht und vor der bis dahin alle ein bisschen Angst hatten. Bei der Gelegenheit stellte sich heraus: Sie ist wirklich sehr nett, wenn man mal mit ihr spricht! Die Umgebung mit anderen Augen zu betrachten und durch die Linse einer Kamera die Perspektive zu wechseln ist einer der Kernpunkte unserer Projekte.

Die Schüler beantworten selbst Fragen vor der Kamera, damit sie auch wissen, wie es sich anfühlt, gefilmt zu werden. Sie bereiten Interviews mit PolitikerInnen vor und lernen, wie man eine Recherche angeht. In diesem Jahr vor allem zum Thema "Politik und Demokratie".


Film zwei, auch er hergestellt von Netzwerk Schnittbild, der Produktionsfirma von Steffen Braun.


Wie die beiden anderen Klassen, mit denen wir jeweils einen Film gedreht haben, war auch die Vabo 12 voller junger Talente und wunderbarer Menschen, mit denen wir ein halbes Jahr gearbeitet, gelacht, aber auch geweint haben. Manche von ihnen sind mit ihren Familien nach Deutschland gekommen, viele geflüchtet vor dem Krieg in Syrien. Andere leben in Flüchtlingsunterkünften und sind ganz auf sich alleine gestellt. Manche sprechen schon sehr gut deutsch, weil sie sowieso sehr viel zu erzählen haben und wenn das nicht auf Arabisch geht, dann muss eben eine andere Sprache her. Andere sind leiser, tun sich schwerer mit dem Lernen, weil sie zuvor noch nie oder nur für kurze Zeit eine Schule besucht haben.

Da gibt es Singh aus Indien, ein immer charmanter Witzbold. Oder Dembo aus Gambia, ein ernster junger Mann, sehr politisch und wissbegierig. Abdul-Rahman aus Syrien, der nicht verstehen kann, warum Menschen Kriege führen. Oder Shree, Fatima und Sara, das immer gut gelaunte, hübsche Mädels-Trio, in einer Klasse voller junger Männer. Oder Matteo aus Italien. Eigentlich ein selbstbewusster und standfester Jugendlicher, aber als Landtagspräsidentin Muhterem Aras ihn im Gespräch fragt, wie es ihm, der aus Italien kommt, aus dem Sehnsuchtsland der Deutschen, in Deutschland so gefalle, klettert ihm die Röte bis unter die Stirn. "Gut", sagt er. "Es gibt viele nette Menschen hier." Dann zeigt er auf seine Klassenlehrerin: "So wie Frau Reinl."

Über wichtige Fragen sprechen – vor allem über politische

Eine halbe Stunde geht der Termin mit Muhterem Aras. Wie ihr Alltag aussieht, wollen die SchülerInnen wissen. Was ihre Aufgaben sind. Und was sie ihnen, den jungen MigrantInnen, für die Zukunft raten würde. Zum Schluss gibt's noch ein Foto mit der Präsidentin. Die SchülerInnen lächeln stolz und erleichtert in die Kamera. Geschafft. Alle haben ihre Fragen gestellt, alle haben eine Antwort bekommen. Und es war ganz egal, ob der ein oder andere Satz etwas schief geraten war. Auch das ist Teil des Kontext-Projektes: den Jugendlichen Selbstbewusstsein zu vermitteln, sich zu überwinden, mit fremden oder auch prominenten Menschen über wichtige Fragen zu sprechen.

Vor allem über politische. Aber Politik ist anspruchsvoll, das politische System in Deutschland kompliziert – "sogar sehr kompliziert", sagte selbst Tobias Bacherle, Sindelfinger Stadtrat der Grünen, <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft warum-mag-die-afd-keine-fluechtlinge-5046.html external-link-new-window>bei unserem Besuch im Sindelfinger Rathaus.

Manchmal ist ein praktisches Erleben da sinnvoller als langwierige theoretische Erklärungen und Tafelbilder im Klassenraum. Singh ist dabei beinahe Bundeskanzler geworden als Spitzenkandidat von "Singh ist King", eine der drei Parteien, die unsere Klasse beim Planspiel Demokratie im Klassenzimmer aufgestellt hat.

"Singh ist King" versucht beim Thema Müll mit einer Lohnerhöhung für Mitarbeitende der Müllabfuhr zu punkten, das kommt bei der Wählerschaft auch ganz gut an – hätten die Medien nicht gerade rausgefunden, dass Parteimitglied Ahmed erst vor kurzem unehrenhaft aus der Sara-Partei geworfen wurde. Helle Aufregung im Presselager! Gelächter bei der UDM, der Partei "United demokratic movement", die weit vorne liegt in aktuellen Umfragen innerhalb der Wählerschaft (Kameramann, Klassenlehrerin, ein Referendar und ich). Ungeschlagen ihr Wahlkampfthema "Senkung der Jugendarbeitslosigkeit in Europa und Frieden auf der ganzen Welt."

Doch dann holt die Sara-Partei auf. Weniger Betrunkene in den S-Bahnen, fordert die Parteivorsitzende, und vor allem: niedrigere Strafen für Fahren ohne gültigen Fahrschein! Die drei Frauen saßen nämlich kürzlich mit richtigen Fahrscheinen aus Versehen in der falschen S-Bahn – der Kontrolleur kannte keine Gnade. Letztendlich entscheidet die Wahl dann doch die Sympathie mit den jungen Frauen: Die Sara-Partei gewinnt mit einer Stimme Vorsprung und feiert sich unter großem Applaus und Gejohle der ganzen Klasse.


Das ist die gekürzte Version des ersten Films, entstanden beim ersten der drei Medien-Projekte.

Einer unserer Schüler fehlt

Unser drittes Medien-Projekt wird nun auch unser letztes sein. Jedes einzelne war eine tolle Erfahrung mit wunderbaren jungen Menschen, die Träume und Ideen haben, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Wir haben drei bewundernswerte Lehrerinnen getroffen, die sich über alle Maßen für ihre Schülerinnen und Schüler einsetzen. Auch, wenn es manchmal schwer ist. Wenn einer weint, weil er so große Angst hat vor der Zukunft. Wenn einer plötzlich aus den eigenen Reihen verschwunden ist, weil er abgeschoben wurde.

Zum Ende jedes Projekts schauen wir uns gemeinsam mit anderen Klassen der Schule den entstandenen Film im Böblinger Kino Bären an, das uns nun zum dritten Mal einen Kino-Saal zur Verfügung gestellt hat. Sich selbst bei Popcorn und Cola auf der riesigen Leinwand zu sehen, ist jedes Mal großes Kino für die SchülerInnen.

Aber einer unserer Schüler fehlte dieses Mal. Irgendwann war er plötzlich verschwunden. Momentan befindet er sich im europäischen Ausland. Einen Platz zum schlafen habe er gefunden, schreibt er mir über Facebook. Und es gehe ihm gut. Denn alles sei besser, als in Deutschland keine Nacht durchschlafen zu können, aus Angst vor der Polizei, die jede Sekunde an die Tür klopfen kann.


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