KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das Modell einer humanen Stadt

Das Modell einer humanen Stadt
|

Datum:

Die südindische Modellstadt Auroville zieht Menschen aus der ganzen Welt an. Dort lebt auch die Architektin Anupama Kundoo, die gerade ein Jahr lang Gastprofessorin in Stuttgart war. Von Auroville ausgehend, stellte sie ihren StudentInnen die Frage: Wie verträgt sich bauliche Dichte mit Nachhaltigkeit?

Zurück Weiter

Zur Präsentation der Semesterarbeiten ihres Seminars kann Anupama Kundoo nicht in Stuttgart sein. Denn sie ist als einzige Architektin zu einer Bauhaus-Ausstellung eingeladen, die am selben Tag in der Pinakothek der Moderne in München eröffnet. So übernimmt ihre Assistentin Alba Balmaseda die Abnahme, die sie seit ihrer Professur in Madrid begleitet. Die 1967 im indischen Pune geborene Kundoo war zweimal auf der Architekturbiennale in Venedig vertreten, hat auch in Berlin, New York und Sydney gelehrt und wegweisende neue Methoden für eine nachhaltige, ressourcenschonende Bauweise entwickelt. Seit neuestem ist sie Professorin in Potsdam, davor war sie ein Jahr lang Gastprofessorin am Institut für Raumkonzeptionen und Grundlagen des Entwerfens (IRGE) der Universität Stuttgart.

Die Fragestellungen ihrer beiden Seminare am IRGE könnten aktueller nicht sein: "Sozialer Wohnungsbau im Kontext hoher Dichte. Hin zu humanen Städten" war das erste überschrieben. Das zweite: "Urbane Öko-Gemeinschaften aufbauen. Stadt als Labor für Nachhaltigkeit". Drängende Fragen in Stuttgart, wo sich die Fraktionen im Gemeinderat streiten, ob bezahlbarer Wohnraum nur durch neue Wohngebiete zu erreichen sei. Das Problem dabei ist die Bodenversiegelung - wie lassen sich die Dichte eines Neubaugebiets und Nachhaltigkeit in Einklang bringen?

Anupama Kundoo hat auf diesem Gebiet sehr viel praktisch geforscht. Sie arbeitet mit natürlichen Materialien wie Lehm und Bambus, die fast keinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen. Sie hat Leichtbau-Techniken weiterentwickelt: Mit Ferrozement – bestehend aus Kaninchendraht und Zementputz – und Origami-Falttechniken lassen sich Material und Gewicht sparen. In ihrer Doktorarbeit bei Peter Herrle an der TU Berlin ist sie einem Verfahren des Töpfers Ray Meeker nachgegangen, das sie an einem Waisenheim im südindischen Pondicherry (heute Puducherry) erprobt hat: Für jedes Kind baute sie einen paraboloiden Kegel aus Lehm, der durch ein Feuer im Inneren als Ganzes gebrannt wurde. Die Wärme, die sonst beim Ziegelbrennen zu 40 Prozent im Ofen verschwindet, ließ sich so vollständig nutzen.

Offen für alle Religionen, kein Privatbesitz, kein Geld – aber viele Bäume

Am IRGE hat Kundoo mit ihren SeminarteilnehmerInnen freilich weder praktische Experimente durchgeführt, noch sich mit Stuttgart beschäftigt. Die Frage nach Dichte und Nachhaltigkeit stellte sie ausgehend von dem Ort, aus dem sie kommt: Auroville, 1968 gegründet als Stadt für 50 000 Einwohner, zehn Kilometer nördlich von Pondicherry. Zwei Millionen Bäume haben die BewohnerInnen gepflanzt. Auroville zieht viele Menschen an, aus allen Teilen der Welt. Aber eine richtige Stadt ist es noch immer nicht.

Auroville? Manche, die davon gehört haben, denken an eine Sekte. Im Wortsinn ist Auroville eher das Gegenteil davon: keine Abspaltung von einer bestehenden Glaubensgemeinschaft, sondern nach dem Willen der Gründerin Mira Alfassa ein Ort, der der gesamten Menschheit gehören und für alle Religionen offen sein soll. Was den Gedanken an eine Sekte aufkommen lässt, ist die Verehrung, die Alfassa, genannt "Die Mutter", entgegengebracht wird. Und einige Besonderheiten: Es gibt keinen Privatbesitz, schon gar nicht an Grund und Boden. Und jedenfalls im Alltag kein Geld. Auroville soll ein Labor für die Zukunft der Menschheit sein.

Um zu verstehen, was es mit der Stadt auf sich hat, muss man tief in die Geschichte eintauchen. Auroville ist benannt nach Sri Aurobindo. 1872 in Kalkutta geboren, wurde Aurobindo Ghose von seinem Vater im Alter von sieben Jahren nach England geschickt, von wo er als Zwanzigjähriger mit Diplom aus Cambridge zurückkehrte. Erst danach lernte er die bengalische Sprache seiner Heimat und die alt-indischen Überlieferungen kennen. Nach 13 Jahren Staatsdienst im Fürstentum Baroda zog er wieder nach Kalkutta und wurde zu einem der führenden Köpfe der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Um dem Gefängnis zu entgehen, wich er nach Pondicherry aus, eine französische Enklave in Südindien. Hier lernte ihn Mira Alfassa 1914 kennen. 1878 als Tochter einer jüdischen Familie aus dem damals zum osmanischen Reich gehörenden Ägypten in Frankreich geboren, blieb sie von 1920 an dauerhaft an seiner Seite. Aurobindo gründete einen Ashram – ein Meditationszentrum –, zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und überließ Alfassa die Organisation. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zur indischen Kultur und seiner Lehre, dem integralen Yoga.

Grundlegend ist bei Aurobindo der Gedanke, die Menschheit habe sich zu sehr auf die äußere, technische Entwicklung konzentriert und vernachlässige die innere Entwicklung. "Meine letzte Vision beinhaltet eine Stufe in der Evolution, welche den Menschen zu einem höheren und umfassenderen Bewusstsein erhebt und so die Lösung der Probleme einleitet, welche den Menschen bedrängen und gequält haben, seitdem er zu denken begann", erklärte er 1947 in einer Radio-Ansprache am Vorabend der indischen Unabhängigkeit.

Der Architekt als Prophet

15 Jahre nach Aurobindos Tod (1950) wollte Alfassa einen Schritt weiter gehen. Sie gründete Auroville, als Experimentierfeld für die Welt von morgen. Und was braucht man, um eine Stadt zu bauen? Sie holte Roger Anger, einen der profiliertesten Architekten aus Frankreich, der bereits zahlreiche Wohnsiedlungen gebaut hatte, darunter in Grenoble die höchsten Wohnhochhäuser Europas.

Als Anupama Kundoo Ende der achtziger Jahre nach Auroville kam, wusste sie nichts von diesem Projekt. Sie hatte ihr Architekturstudium in Bombay abgeschlossen und wollte etwas von der Welt sehen. Sie erkannte aber, dass Anger weiter dachte als andere und gründete in Auroville ihr eigenes Büro. "1965 wies er bereits darauf hin, dass das Automobil die Städte zerstört", erklärt sie. Stuttgart wurde damals umgebaut zur autogerechten Stadt – wie andere Städte auch. In Angers Plan für Auroville gibt es keine Autos: allenfalls kleine, elektrische Fahrzeuge, nicht schneller als 15 Kilometer pro Stunde, für den Transport von Lasten bis 200 Kilogramm.

Anger erkannte, dass eine Stadt ohne Autos dicht bebaut sein muss. Auroville ist kreisrund, hat einen Durchmesser von 2,5 Kilometer, umgeben von einem Grüngürtel, und lässt sich bequem zu Fuß durchqueren. Nach dem Willen der "Mutter" ist die Stadt in vier Sektoren geteilt: einen für Wohnen, einen für Industrie, eine internationale Zone mit Länderpavillons und einen für die Kultur. In der Mitte befindet sich ein ovaler Park und in dessen Zentrum das Matrimandir, eine abgeflachte Kugel von 36 Metern Durchmesser, bedeckt mit ungefähr zwei Meter großen satellitenschüsselartigen Scheiben, die mit goldenen Mosaiksteinchen besetzt sind.

Das Matrimandir, 2008 fertiggestellt, ist eine symbolische Architektur: ein Ort der Stille und Meditation. Computergesteuerte Spiegel lenken das Sonnenlicht auf eine 70 Zentimeter große Glaskugel im Zentrum. Es ist das sichtbare Wahrzeichen der Stadt und zieht jährlich rund 700.000 Touristen an, aus Indien und aller Welt. Dabei hat die Stadt nach einer aktuellen Statistik gerade mal 3042 Einwohner: 45 Prozent aus Indien, dann Franzosen, Deutsche, Italiener, Holländer, Amerikaner – Menschen aus insgesamt 58 Nationen. Dazu kommen noch Hausangestellte, die sich wie zahlreiche Handwerker und kleine Händler außerhalb des Grüngürtels niedergelassen haben.

1988 wurde Auroville in eine Stiftung überführt, 2001 verabschiedeten die Bürgerversammlung und der Verwaltungsrat einen Perspektivplan für 2025. Und im Zuge der 50-Jahr-Feiern 2018 trat eine Gruppe von 14 Personen, die inzwischen auf 85 angewachsen ist, an Anupama Kundoo heran und bat sie, Angers Plan weiterzuentwickeln.

Gemeinschaft statt Isolation

Zentrale Elemente sind langgestreckte, geschwungene Baukörper, die sich vom Park im Zentrum bis an den Rand des Grüngürtels erstrecken. Anger nannte sie "lignes de force", Kraftlinien. Im Industriesektor sind sie innen hoch, dort befinden sich die Büros, und nach außen hin zu den Fabriken fallen sie immer mehr ab. Auf der Wohn-Seite verhält es sich genau umgekehrt: Innen sind sie nur zwei bis vier Stockwerke hoch, um nach außen auf bis zu 16 Etagen anzuwachsen.

Nur durch hohe Gebäude, so Angers Überlegung in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Moderne, lassen sich bei hoher Bevölkerungsdichte Grünflächen erhalten. Aber in den Punkthochhäusern moderner Trabantenstädte leben die Menschen isoliert. Deshalb ist in den lignes de force - die neuen Auftraggeber sprechen von "lines of goodwill" – alles durch Längswege im Inneren miteinander verbunden. 25 Prozent der Flächen sind Gemeinschaftsräume.

Die Aufgabe der Stuttgarter Studierenden war nun, jeweils zu zweit oder zu dritt einen Teilabschnitt eines solchen Baukörpers zu entwerfen. Auf die Frage, ob sich dies von anderen Entwurfsaufgaben unterscheide, sagt Julius Friedrich: "Ja, durchaus, sonst ist alles viel stärker reglementiert." Noch bevor das Seminar im Dezember zu einer einwöchigen Auroville-Exkursion aufbrach, war er mit zwei Kommilitonen gestartet und einen Monat geblieben. In Auroville haben die Studierenden Anupama Kundoos eigenes Haus und weitere Gebäude besucht, die sie gebaut hat, darunter das Rathaus und eine Wohnanlage. Frederick Schulze-Buxloh, einer ersten und aktivsten Bewohner der Stadt, hat ihnen von Auroville erzählt. Er stammt aus Essen, auf seinen Vater geht die gigantische Anlage der Zeche Zollverein zurück.

Was haben Anupama Kundoos SeminarteilnehmerInnen davon, sich mit einem so weit entfernten Ort wie Auroville zu beschäftigen? "Auroville soll ja ein Modellprojekt für die gesamte Menschheit sein", sagt Kundoo: "Was sie in dem Seminar lernen, können sie überall anwenden, egal wo sie arbeiten." Und hat Stuttgart auch einen Gewinn davon? Stuttgart sei ja eine Autostadt, antwortet die Architektin. Dieses Problem exportiere die Stadt in die ganze Welt. Deshalb habe sie zum Abschluss ihrer Lehrtätigkeit Jan Gehl eingeladen, der in einem Vortrag gezeigt hat, <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft staedte-fuer-menschen-5703.html _blank internal-link-new-window>wie man Städte für Menschen, nicht für Autos plant.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:

Ausgabe 681 / Galgen unterm Kreuz / Paul Valbonne / vor 15 Stunden 50 Minuten
Sie ergehen sich in "Erbsenzählerei". Punkt!





Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!