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Einmal von West nach Ost

Einmal von West nach Ost
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 Fotos: Andreas Teichmann 

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Datum:

Der Essener Fotograf Andreas Teichmann wanderte 2017 in 50 Tagen quer durch Deutschland, vom westlichsten zum östlichsten Zipfel, von Aachen bis Zittau. Seine auf dem Weg entstandenen Fotos sind aktuell in Stuttgart ausgestellt. Teichmanns zeitweiliger Co-Wanderer, der Aachener Journalist Bernd Müllender, erzählt, wie dabei ein ganz besonderes Werk visueller Landeskunde entstanden ist.

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Irgendwann im Frühjahr 2017 rief mich Andreas Teichmann an. Er plane endlich mal wieder ein neues großes, nein ein wirklich sehr großes Projekt, sagte er. Aha, dachte ich. Ich wollte raten, hatte einen Moment gezögert und mich an gemeinsame Geschichten erinnert, für die taz, unsere Serie für das Wochenendmagazin des "Tagesspiegel" und andere. Vor allem aber an unsere sehr großen gemeinsamen Projekte: Zum Beispiel die Reise in den Iran 1998 für das "Zeit-Magazin", um herauszufinden, welchen Stellenwert Fußball dort hatte, weil die DFB-Elf bei der Weltmeisterschaft gegen den Iran spielen würde.

Jetzt also ein neues großes Projekt. Andreas sagte, er wollte durch Deutschland wandern. Aha, hab ich gesagt.

Ja, und er wolle nur fragen, ob er die erste Nacht bei mir in Aachen übernachten könne. Auf dem Dreiländereck gehe die Latscherei nämlich los und sie solle ihn binnen 50 Tagen nach Zittau führen, also von ganz West nach ganz Ost. Immer geradeaus, kein Auto, kein Bus, keine Straßenbahn, nur gehen, mal 20, mal 30 Kilometer am Tag. Fast wie ein Handwerksgesell auf der Walz. Aber selbst die dürfen trampen.

Die Idee gefiel mir mehr und mehr. Natürlich lief ich als Gastgeber die erste Etappe mit. Und lief vier Tage weiter mit, dann traf ich Andreas noch mal zwei Tage wandernd zum Bergfest in Thüringen und ab Dresden zum Ende war ich nochmal drei Etappen dabei.

Anfangs war als Überschrift des Projekts gedacht: Wie tickt dieses Deutschland in den 50 Tagen vor der Bundestagswahl? Teichmann wollte nämlich genau zur Wahl am 27. September 2017 in Zittau sein – was er auch schaffte, und das vielleicht schönste Wahllokal Deutschlands einfing.

Was und wen erlebt man unterwegs, so ganz zufällig? Ist die Einsamkeit des ewigen deutschen Waldes erhaben über Parteien, tagespolitische Ränkespiele und die Frage Merkel oder Schulz? Wie lässt sich das fotografisch einfangen?

Anfangs war die Wahl noch Thema – als wir das Wohnhaus von Martin Schulz gleich auf der zweiten Etappe in Würselen ausfindig machten und die ersten Wahlplakate entdeckten. Es war ja gerade mal Anfang August. Aber so richtig wahlkampfpolitisch wurde die Reise nicht. Auch nicht, als wir am 3. Tag die Besetzer des Hambacher Forsts trafen: Auch denen sind Parteien und Wahlen ziemlich wumpe.

Zehn Minuten wandern, dann: "Ah, dieses Licht!"

Wandern mit einem Fotografen, diesem jedenfalls, ist gar nicht so einfach. Du gehst entspannt dahin – plötzlich: "Da!" Ein Motiv. Das heißt, Kamera auspacken, zehn Minuten Minimum, anfangs mehr, dann: "Ach nee, doch nicht so gut", wieder einpacken, auch zehn Minuten. Weiter. Dann: "Ah, dieses Licht." Wieder zurück. Auspacken. Einmal eine Ackerwüste mit Strommasten, Teichmann völlig begeistert, Kamera raus, du denkst: Was soll das? Das Ergebnis spricht für sich.

Man lernt viele Menschen kennen, wenn man auf Wanderschaft ist quer durchs Land. Auch über andere Länder. Vor allem lernt man viel, wenn man so kommunikativ ist wie Andreas. Der quatscht einfach alle und alles an. Andreas würde wahrscheinlich von einem Hydranten noch wegweisende Antworten bekommen.

Wie ist Deutschland, habe ich Andreas dann irgendwann gefragt? "Unfassbar groß, wenn man das erläuft", hatte er gesagt. "Beim Laufen fühlst du alle Topografie. Zugstrecken und Autobahnen sind ja immer in die Landschaft gefräst. Wenn man so langsam unterwegs ist, begreift man die Dimensionen ganz anders." Und Deutschland sei viel menschenleerer als gedacht. "Manchmal bin ich stundenlang niemandem begegnet. Manchmal hörst du nichts mehr, nur noch Wind und die Vögel." Und: "Du hast das Gefühl, Deutschland ist kein Industrie-, sondern ein Agrarland. So viele Wiesen, Äcker bis zum Horizont."

50 Tage jeden Tag neu, wieder in eine unbekannte Welt loslaufen, manchmal bis an die physischen Grenzen. "Die Fortbewegungsart Laufen ist allen überall sympathisch, das finden alle toll. Du machst nix kaputt, bist leise, du störst nicht."

Gleichzeitig habe ich auch erlebt: Niemand in diesem Land läuft, sobald man aus den Städten rauskommst. Nur mit dem Hund Gassi gehen. Oder Eltern mit Kinderwagen. Mal ein Pilzsammler. Sonst Fahrrad vielleicht oder Moped, Traktor und – Auto, Auto, Auto.

Die Menschen seien ungeheuer patriotisch, überall. "Aber nicht national, sondern nach Regionen", sagt Andreas. Die Leute interessiere nicht Nordrhein-Westfalen oder Hessen, sondern Bergisches Land, Sauerland, Waldecker Land. "Irre Zugehörigkeitsgefühle gibt es da. Wenn du gesagt hast, hier im Bergischen Land, kam die Antwort: Nein, hier ist längst das Oberbergische. Da hinten ist doch die Grenze."

Und Politik, Wahlkampf? "Fast null Interesse ringsum. Wir mögen die gebildeten Städter sein, aufgeklärt und wissend; dass wir was anderes erwarten. Das ist unsere Arroganz." Es gehe den meisten um den eigenen Ort, die Region. "Trump zum Beispiel, das wird am Rande wahrgenommen, auch die Wahl. "Hier ist wichtig: wird der Bach wirklich gesperrt, tritt der dann über die Ufer und meine Heuernte ist hin?" Es sei politisch viel weniger los "als die komprimierten Bilder in den Medien zeigen". Und Wahlplakate? "Am meisten durchgehend überall diese FDP."

Grenzüberschreitung

Wir waren einig, dass sich mit dem Überschreiten der alten Grenze nach Thüringen sofort etwas geändert hatte: Die Leute auffallend freundlich, hilfsbereit und zugewandt. Ja, und alle grüßen einen ständig, selbst megacoole Teenager.

Kaum dass man von Hessen nach Thüringen kam, änderte sich noch etwas sofort: unzählige Wahlplakate von NPD und AfD an den Laternenpfählen. Das war erschreckend. Ein Plakat zeigte das Antlitz des armen Martin Luther. "Ich würde NPD wählen", stand da frech, mit dem Hinweis, "ich könnte nicht anders." Pegida ein paar Wochen später in Dresden war zum Gruseln: verbiesterte Gesichter, grunzdumme Plakate, beängstigende Hetzreden.

Wir lernten Edgar Vardanyan kennen. Er stammt aus Armenien; 1999 ist er mit seinen Eltern geflüchtet wegen Perspektivlosigkeit in einem hochkorrupten Land. Jetzt führen er und seine Lands-Frau die Pizzeria Paradies im nordthüringischen Städtchen Uder an der Leine. Edgar hat gefragt, was Andreas nach Uder verschlagen habe. "Ich wandere durch das Land." Wie, ganz allein? Ja. "Haben Sie da keine Angst?" Nein, wovor? "Na, vor – Flüchtlingen?", sagt Edgar. Welche Flüchtlinge?, fragt Andreas. Naja, sagt Edgar, hm, vielleicht sei das auch Quatsch. Man lernt viel über Deutschland und seine Einwohner. Auch über ehemalige Asylbewerber mit spontaner Angst vor Asylbewerbern.

"Immer wieder habe ich von Leuten gehört: 50 Tage lang? Nur gehen? Unfassbar, das könnte ich nicht." Und auf der anderen Seite: "Aus Griechenland sind die Menschen mit einem Kind auf dem Arm gekommen, im Unterhemd, in Schlappen, mit Plastiktüte, und die dreifache Strecke. Und manche sind schon vorher Monate unterwegs gewesen." Ohne Geld für Pensionen und Hostels, ohne Navigation, und ohne eine Frau, die einen nach Ankunft abholen kommt. "Den Geflüchteten könnte ich gar nichts erzählen. Das wäre lächerlich."

Ohne Kommunikation keine Kontakte, keine Geschichten, keine Motive. Oft hat Teichmann mit belanglosen Fragen ein Gespräch ausgelöst. Dann die Leute erzählen lassen. Dann kämen immer wieder kuriose Geschichten, ungewöhnliche Biografien, Anekdoten sonder Zahl – und Menschen für seine Fotodokumentationen. So bei der Schwulenhochzeit in Leipzig. Bei dem Oberfranken, der bei Dresden aufs Land gezogen ist, als ihn daheim die Frau verließ und der jetzt mit seinem Fiat-Sportwagen posiert. Die Gastwirtin, die ihm ausführlich ihre Krebserkrankung und ihren Lebenstrieb offenbarte. Oder den Ami an Tag 39 beim Frühstück in einer Absteige: Der war GI am Checkpoint Charlie, hatte sich in Deutschland verliebt und gesagt: Im Winter, mit Mitte 60, hat er bei Grimma eine Bruchbude ersteigert, für kaum mehr als ein Flaschenpfand". Alle paar Monate fliegt der Mann aus Detroit jetzt hierher und renoviert wochenweise eigenhändig. American Dream in Sachsen.

Andreas hat nachher gesagt, er sei "unglaublich froh, dass ich mir den Jugendtraum dieser Wanderung erfüllt habe." Als Auftragsfotograf habe man schnell Bilder im Kopf, wie etwas aussehen könnte. "Hier passierte alles extrem gemächlich, immer zufällig am Wegesrand und immer ergebnisoffen." Die gleiche Wanderung einen Tag später – und es hätte viele ganz andere Bilder gegeben.


Info:

Andreas Teichmann: Durch Deutschland. Noch bis zum 25. November zu sehen in der <link http: www.vhs-photogalerie.de external-link-new-window>VHS-Fotogalerie im Treffpunkt Rotebühlplatz in Stuttgart.

<link http: external-link-new-window>Homepage von Andreas Teichmanns Projekt "50 days".


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