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Am Ende der Nahrungskette

Am Ende der Nahrungskette
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 Fotos: Luca Siermann 

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Sie gilt als sozialer Brennpunkt. Doch viele Anwohner haben mit ihrem Viertel weniger Probleme als Außenstehende. Die größte Herausforderung, sagt der Soziologe Konrad Hummel, sei ein Kreislauf der Prekarisierung, den er durchbrechen will. Ein Spaziergang durch die Mannheimer Neckarstadt.

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Als Ausgangspunkt hat sich der Soziologe die Mittelstraße im Mannheimer Norden ausgesucht, nah beim Neckarufer gelegen und 150 Hausnummern lang. Hier verdeutlicht sich vieles, was Konrad Hummel zeigen möchte. "Ist das nicht super?", freut sich der 67-Jährige, und deutet auf die antiquiert anmutende Inneneinrichtung einer traditionellen Konditorei. "Die Möbel sind bestimmt noch aus den 50ern." In der direkten Nachbarschaft gibt es noch einen Barbiershop und ein Tattoo-Studio. Im Kleinen spiegelt sich hier fast alles, was den Stadtteil insgesamt prägt. 

Den hochgeschossigen Altbauten mit ihren facettenreich verzierten Fassaden merkt man den Glanz vergangener Tage noch an. Einige von ihnen wirken ein wenig verwahrlost, die Farbe bröckelt, dunkle Schlieren laufen an Wänden herab. Und mancher Büste hat jemand ein Graffiti ins Gesicht gesprüht. In den Erdgeschossen sind viele kleine Geschäfte angesiedelt, die oft nur wenige Monate überleben, Elektronikläden, Dönerbuden, Bäckereien. Es gibt viele Kneipen, einige Milchglas-Fensterscheiben deuten auf dubiose Spelunken hin. Und dazwischen eingesprenkelt finden sich immer wieder Gebäude, an denen der Zahn der Zeit schon seit Jahrzehnten spurlos vorbeizuziehen scheint, die dem wechselhaften Treiben trotzen, das sie hier umgibt. Die Straße ist ein Sinnbild für Menschen mit wenig Geld, die nah beisammen und dennoch aneinander vorbei leben.

In Medienberichten wird die Neckarstadt-West meist als schmuddeliger Problembezirk ausgewiesen, teilweise gar als "No-Go-Area". Ein Schwerpunkt für Kriminalität und Prostitution mit schwunghaftem Drogenhandel und hoher Arbeitslosigkeit. Hummel spricht lieber von einem "Bezirk mit Problemen", die man ernstnehmen müsse, ohne sie zu sehr zu dramatisieren. "Viele Menschen leben gerne hier", betont er, was nicht nur an den sehr günstigen Mieten liege (wer viel Glück hat, zahlt hier für eine 70-Quadratmeter-Wohnung 300 Euro im Monat). "Bei den Bewohnern ist der Ruf besser als außerhalb", sagt Hummel bei einer schlichten Brezel im Café Grimminger. Das gehört zur gleichnamigen Kette und ist als Familienunternehmen in vierter Generation seit mehr als 100 Jahren in Mannheim ansässig. Hummel findet es "okay" hier, sein Lieblingscafé in der Gegend hat noch geschlossen.

Eigentlich hat sich der Soziologe Anfang 2017 in den Ruhestand verabschiedet. Bis dahin war er der Kopf der Konversion in Mannheim: Auf gut 500 Hektar ehemaligem Militärgelände sollen neue Wohngebiete und Parkanlagen entstehen. Jetzt nutzt er die freigewordene Zeit, um die Situation hier in der Neckarstadt zu analysieren und die Stadt zu beraten. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung spürbar verbessern könnten. Das wird am Neckarufer deutlich. Hier wird bei Sonnenschein gerne gegrillt. Doch nachts wird die Promenade von vielen gemieden, weil es über weite Strecken keine Straßenbeleuchtung gibt und hier viel mit Drogen gehandelt wird. "Seit ein paar Monaten gibt es hier einen barrierefreien Zugang zum Neckarufer, das ist toll", sagt Hummel, "und da stehen auch Laternen." Nur hätte die Gelegenheit genutzt werden können, um auch den Rest der Straße zu beleuchten, die hier am Ufer entlang noch einige Kilometer dem Fluss folgt.

Grund zum Drama?

Die Arbeitslosenquote in Mannheim liegt bei 5 Prozent, in der Neckarstadt-West bei 6,5 Prozent. Der mit deutlichem Abstand kriminellste Stadtteil ist die Innenstadt (2016 immerhin 9937 registrierte Straftaten bei 30 500 Einwohnern), die ein besseres Ansehen genießt. In der Neckarstadt-West registrierte die Polizei im gleichen Zeitraum 2441 Straftaten bei 21 000 Einwohnern. (min)

Die größten Probleme im Viertel, betont Hummel, seien weder die Kriminalität noch die Arbeitslosenquote. Beide lägen – was oft untergehe – jeweils nur knapp über dem städtischen Durchschnitt. "Was dem Quartier am meisten schadet, sind die niedrigen Einkommen, durch die ein Teufelskreis entsteht."

Menschen aus 160 Nationen wohnen in der Neckarstadt-West, zwei Drittel Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. Eine traditionelle Mehrheitsgesellschaft, die normative Leitlinien diktiert, gibt es hier nicht. Wie Hummel ausführt, gebe es zum einen die Traditionalisten: Die wohnen seit Jahrzehnten hier, werden wahrscheinlich niemals wegziehen und regen sich am meisten über den Müll auf der Straße auf. Viele von ihnen betreiben laut Hummel kleine Familienunternehmen, die kein Vermögen einbringen, aber zum Leben reichen. Daneben gibt es die große Gruppe von Menschen, die zwar in Vollzeit arbeiten, aber unter prekären Bedingungen. "Da reicht der Lohn gerade so," sagt Hummel, "dass sie am Monatsende auf Null rauskommen." Außerdem leben in der Neckarstadt viele junge Kreative und Studierende, "deren finanzielle Lage zwar auch prekär ist, aber aus ganz anderen Gründen." Und zuletzt wäre da die Gruppe mit Mittelschichts-Einkommen, die etwas Kaufkraft in den Stadtteil bringen, häufig Familien gründen, "dann aber wegziehen, sobald die Kleinen üble Schimpfwörter aus der Schule oder dem Kindergarten mit nach Hause bringen."

Nur den Burgfrieden wahren?

Anders als Orte, in denen Massenarbeitslosigkeit vorherrscht, sei die Neckarstadt-West jedoch insgesamt ein stabiler Stadtteil, wenn auch mit wenig Geld. "Ein Penny überlebt hier", sagt Hummel, "ein Rewe nicht."

Kampf gegen organisierte Kriminalität

Nach Angaben der grün-schwarzen Landesregierung gab es 2014 in Mannheim 114 sogenannte Problemimmobilien, überwiegend in der Neckarstadt-West, die „einen Kriminalitätsbrennpunkt und Rückzugsort für Straftäter“ darstellten, unter anderem in Zusammenhang mit „organisierter Ausbeutung“ und „Menschenhandel“. Dies ging aus einer Kleinen Anfrage des SPD-Abgeordneten Boris Weirauch hervor. Wie aus Polizeikreisen zu erfahren ist, würden junge Frauen, insbesondere aus Südost-Europa, angefixt, in die Prostitution getrieben und zu Wucherpreisen in den sogenannten Problemimmobilien untergebracht. Nach Auskunft der Landesregierung sei die Zahl dieser Gebäude, Stand 2017, auf 22 gesunken. Neben polizeilichen Maßnahmen ist auch die Stadt Mannheim aktiv geworden: So kaufte die städtische Wohnungsgesellschaft GBG gezielt problematische Immobilien auf, um sie wieder dem regulären Wohnungsmarkt zurückzuführen. Als Vorbild dafür benannte Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) die Stadt Antwerpen, die mit einem ähnlichen Modell gute Erfahrungen gemacht habe. (min)

Im Gegensatz zur Mannheimer Innenstadt, die durch 150 Bombardements im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde, blieb die Bebauung in der Neckarstadt weitgehend intakt. Viele Gebäude sind um die 100 Jahre alt. Und weil damals das Auto noch keine sonderlich bedeutende Rolle spielte in der Stadtplanung, sind die Straßen eng und verwinkelt. "Viele Anwohner ärgern sich, dass es zu wenig Stellplätze gibt." Die oft fünfgeschossigen Altbauten haben kaum Tiefgaragen und nur selten Aufzüge. Die Schattenseiten des Stadtteils will der Soziologe bei seinem Spaziergang nicht verschweigen. Große Defizite im Bildungsbereich, zwielichtige Immobiliengeschäfte, Prostitution, Drogen- und Menschenhandel – da gibt es doch noch mehr aufzulisten als nur das geringe Durchschnittseinkommen, auch wenn viele der Probleme in direktem Zusammenhang damit stehen.

Hummel beklagt auch den fehlenden sozialen Zusammenhalt: Zwischen den verschiedenen Gruppen, die hier vertreten sind, finde kaum ein Austausch statt. Bei Veranstaltungen und Festen blieben junge Kreative, Traditionalisten, mittlere Einkommen und frisch Zugewanderte meist unter sich. Engagement für die Interessen der Neckarstadt-West gebe es kaum. "Bürgerinitiativen", sagt Hummel, "halten hier selten länger als ein Jahr durch." Und nur wenige von ihnen könnten sich über zweistellige Mitgliederzahlen freuen. 21 000 Menschen leben hier, aber es gibt keinen Gemeinderat aus ihrer Mitte. Die Wahlbeteiligung ist traditionell die niedrigste in ganz Mannheim. Bei der Oberbürgermeisterwahl 2015 wollten nicht einmal 15 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen. Bei den 18- bis 20-Jährigen waren es 7,8 Prozent.

Hummel will gegen beides vorgehen: die politische Bevorzugung anderer Stadtteile und politisches Desinteresse in der Neckarstadt. Hummel, selbst SPD-Mitglied im nicht mehr ganz so roten Mannheim, wehrt sich zwar entschieden gegen die Behauptung, dass politisch überhaupt nichts für die Neckarstadt-West getan werde. Doch Vielfaltsquartiere mit niedrigem Einkommensniveau, wie es sie nicht nur in Mannheim gibt, stünden, so erläutert der Soziologe, oft ganz am Ende der politischen Nahrungskette. "Hier machen sich die Folgen unausgewogener Sozial- und Migrationspolitik am deutlichsten bemerkbar."

Gemeinsam mit einigen Kollegen hat er deswegen <link http: www.b-b-e.de archiv-des-newsletters newsletter-archiv-2018 newsletter-nr-12-vom-1462018 hummel-den-blick-fuer-die-demokratie-schaerfen-der-appell-von-mannheim external-link-new-window>den "Appell von Mannheim" verfasst, der sich gegen eine Konkurrenz aller gegen alle einsetzt, für Demokratie wirbt und Chancen für alle fordert. Der Appell endet mit der Frage: "Fordern wir die Mitwirkung an der Demokratie durch alle Gruppen ein oder reduziert sich die Demokratie auf die Interessenvertretung und Sicherung des Burgfriedens wortstarker Gruppen und derer, die Besitzstände verteidigen?" Viertel wie die Neckarstadt-West, berichtet Hummel, hätten sich nicht nur in Mannheim gebildet, sondern überall in Europa. Die Probleme ließen sich aber weder durch unangebrachte Dramatisierung noch durch Abschottung beseitigen, sondern indem politisch stärker gegen Prekarisierung vorgegangen wird.

Am Ende des Rundgangs steht der engagierte Demokrat wieder in der Mittelstraße. Dort freut er sich über einen öffentlichen Bücherschrank, "der jetzt endlich auch mal funktioniert". Eine Menge Schund liegt drin, aber auch Dostojewski und Tolstoi. "Und manchmal", erzählt ein älterer Mann mit bulgarischem Akzent, der sich gerade ein frisches Buch geschnappt hat und auf einer kleinen Mauer vor dem Kiosk Platz nimmt, tauscht er sich hier gern ein bisschen aus, "nicht nur über Bücher." Hummel ist guter Dinge, dass es in der Neckarstadt-West jetzt in kleinen Schritten vorangeht.


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 25.09.2018
    Antworten
    „Sozialer Brennpunkt. Doch viele Anwohner haben mit ihrem Viertel weniger Probleme als Außenstehende.“

    Was vom Soziologen Konrad Hummel in der Neckarstadt Mannheim als „größte Herausforderung“ erkannt sein will, das gab es -gibt es- in unserer Neckarstadt ebenfalls – wie im Übrigen in allen…
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