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Unterwegs für eine solidarische Welt

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Am Eingang des sozialen Second-Hand-Ladens in Cannstatt hat sich eine besondere Wandergruppe zusammengefunden. Gemeinsam bricht sie zu einem Solidaritätsmarsch gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit auf. "Solidarität statt Konkurrenz" ist das Motto. Das Ziel ist Bad Boll.

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Es soll ein heißer Tag werden und der Weg nach Bad Boll ist lang. Neun Uhr erst und Martin Tertelmann ist es jetzt schon warm. Der 56-Jährige ist der Initiator dieses Marsches und Kopf der Denkfabrik, einer Abteilung des Stuttgarter Sozialunternehmens Neue Arbeit. Und während sich der Asphalt weiter aufheizt, erzählt Tertelmann von einer Studie, nach der mehr als die Hälfte der Deutschen meint, dass sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben machen. "Aber wenn jemand psychisch krank ist oder alleinerziehend, dann hat man doch keine Chance auf einen Job", sagt Tertelmann, "ich weiß das, schließlich arbeite ich jeden Tag mit ihnen zusammen." Wie jeder Mensch wollen sie ein ganz normales Leben mit einem auskömmlichen Lohn, wollen gebraucht, anerkannt werden. Arbeit sei das A und O für die soziale Integration.

Da stimmt Sylvia Wizemann zu. Die 59-Jährige marschiert mit, um der Öffentlichkeit zu zeigen, "was hier abgeht im Staat". Die kleine Frau mit den wilden Locken redet schnell und aufgebracht. Archäologie hat sie studiert, es folgten ein paar befristete Anstellungen beim Denkmalamt und bei Ausgrabungen. Zwischendurch war sie immer wieder erwerbslos. Es folgten eine Umschulung als Werbekauffrau, zwei Jahre als Briefträgerin, seit 2005 ist sie arbeitslos. Ihr Alter, ihre Arthrose: keine Chance mehr auf einen Job. Untätig ist sie dennoch nicht: Sylvia Wizemann engagiert sich im Erwerbslosenausschuss von Ver.di und arbeitet ehrenamtlich beim Freien Radio Stuttgart, moderiert die Sendung "Grüße aus dem Freizeitpark" und gibt Erwerbslosen Rechtstipps. "Ich möchte die Leute informieren, damit sie wissen, dass sie sich wehren können", sagt sie. Ihr Motto: "Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt". Wenn sie sich etwas wünschen dürfte? "Ich würde gerne vom Radiomachen leben können", sagt sie.

Sie tragen schwer an ihrem Transparent

Inzwischen sind die solidarischen Marschierer in Untertürkheim angekommen, Autos rasen an ihnen vorbei, niemand nimmt Notiz von der kleinen Gruppe mit ihrem Transparent. Es wird immer heißer. Klaus Kittler ist Referent für Arbeitslosenhilfe und Armut beim Diakonischen Werk, das den Marsch und die Erwerbslosentagung unterstützt. Der 64-Jährige ignoriert die sengende Sonne, so gut es geht. Nur noch fünf Prozent, die "geringsten Juni-Arbeitslosenzahlen seit der Wiedervereinigung", meldete die Bundesagentur für Arbeit vor wenigen Tagen. Kittler sieht das kritisch. Es gebe eine große Gruppe von Menschen, die immer weiter abgehängt werde. Der studierte Lehrer hat selbst Zeiten von Arbeitslosigkeit hinter sich. Ihn schmerze es, erzählt er, wenn er sieht, wie Betroffene diskriminiert und ihnen Leistungen vorenthalten werden. "Das geht bis in die Politik hinein", sagt er und zitiert die Sozialdemokraten Franz Müntefering ("Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen") und Kurt Beck ("Waschen und rasieren, dann kriegen Sie auch einen Job"). "Das sind Äußerungen von Leuten", sagt er, "die es besser wissen müssten."

Auch Gabriele Ehrmann marschiert mit. Seit vergangenem Sommer ist die 57-Jährige Diakoniepfarrerin in Stuttgart und verantwortlich für das Vesperprojekt in der Stuttgarter Leonhardskirche. "Das Sattwerden ist das eine", sagt sie, "die Gemeinschaft das andere Wichtige." Es gebe viel sichtbare Armut in der Vesperkirche. Und das in einer reichen Stadt wie Stuttgart. Sie kennt viele von denen, die aus der Statistik herausfallen, weil sie zwar arbeiten, aber weit unter dem Durchschnittseinkommen liegen. Das Armutsrisiko, sagt Ehrmann, nehme zu, "es ragt bis in die Mitte der Gesellschaft hinein."

Unter- und Obertürkheim liegen hinter der kleinen Gruppe, die schwer trägt an ihrem Transparent "Solidarität statt Konkurrenz". Alle gesellschaftlichen Randgruppen wollen sie zusammenbringen, Erwerbslose wie Geflüchtete. Sie sollen gemeinsam kämpfen für Arbeit und bezahlbaren Wohnraum, nicht gegeneinander. Doch niemand spricht die kleine Gruppe an. Die FahrradfahrerInnen am Neckar klingeln höflich und schlängeln sich vorbei. Der Weg ist ohnehin zu schmal, um das Transparent straff zu spannen. Peter Wild trägt nicht nur das Transparent, sondern auch eine Halskrause, er hatte eine OP an der Wirbelsäule. Er nimmt trotzdem die Strapazen auf sich. Offen erzählt er über sein Leben: "Ich hatte zwei Jahre lang einen sehr guten Job bei einer großen Elektronikfirma in Pforzheim als EDV-Mitarbeiter."

Radfahrer klingeln höflich und schlängeln sich vorbei

Doch dann wurde sein Arbeitsplatz abgeschafft, er koste nur Geld, "das war's dann." Er hat sich selbständig gemacht in der Gastronomie, er wurde spielsüchtig, die Gattin setzte ihn 2011 vor die Tür. Eineinhalb Jahre lebte er im Obdachlosenhaus, bis er 2012 seine Suchttherapie begann, er fand eine Wohnung. Kurz vor dem Wechsel vom Arbeitslosengeld II in die Renten-Grundsicherung kommt plötzlich kein Geld mehr vom Arbeitsamt. Seit 2013 ist er im Pforzheimer Erwerbslosen-Treff als Koch tätig, engagiert sich beim Netzwerk Solidarische Landwirtschaft.

Das Demotransparent wird ihm langsam schwer, und auch Luise Janke würde gerne mal eine Pause einlegen. Die 59-Jährige hat 30 Jahre Berufserfahrung im Einzelhandel, war 15 Jahre lang stellvertretende Filialleiterin bei Aldi. Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten führten zur Kündigung, erzählt sie. Janke fiel in ein Loch. Mit der Mietzahlung kam sie bald nicht mehr nach, verlor ihre Wohnung, landete für ein paar Monate im Frauenwohnheim. Die Stuttgarter Ambulante Hilfe, die Menschen in Armut und Wohnungsnot unterstützt, half ihr. Sie fand eine Wohnung, sogar in ihrem Heimatort. "Wenn du dein soziales Umfeld auch noch verlierst, dann ist es ganz aus!" Janke ist seit 2005 arbeitslos. 

Verschiedene Maßnahmen hat sie mitgemacht, eine bei der Neuen Arbeit. Hier arbeitet sie als Bürogehilfin, 30 Stunden die Woche. "Lobbyarbeit für Langzeitarbeitslose, in der ich einen Sinne sehe, ganz im Gegensatz zu andere AGH-Maßnahmen", sagt sie. Janke fehlt es an Solidarität in der Gesellschaft. Auch in den Randgruppen. Es wäre mehr erreichbar, wenn man sich zusammentäte. Das Wohnungsproblem gebe es ja schon seit 20 Jahren, damit hätten die Flüchtlinge nichts zu tun. Ihr innigster Wunsch: "Dass mein Projekt-Vertrag bei der Neuen Arbeit am Ende des Jahres verlängert wird."

Mittlerweile ist die kleine Gruppe in Esslingen angekommen. Dort steuern die solidarischen Marschierer Orte an, an denen Menschen in Not Solidarität erfahren: Die Beschäftigungsinitiative EBI-Shop in der Kiesstraße, wo man sie mit einem Haufen belegter Brötchen, Obst, Kaffee und Getränken begrüßt. Dann die Esslinger Tafel "Carisatt", ein Flüchtlingsheim und das Esslinger Berberdorf, die deutschlandweit einmalige "Hüttensiedlung" für Menschen in Wohnungsnot. Die Sonne steht inzwischen steil am Himmel. Der erste Tagesmarsch liegt hinter der wackeren Gruppe. Morgen geht es von Plochingen los. Das Ziel Bad Boll ist noch weit.


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1 Kommentar verfügbar

  • Schwa be
    am 05.07.2018
    Antworten
    Einzelschicksale die zusammengefunden haben und sich so gut es geht gegen die (sich m.E. weiter verschlimmernde) und durch die politik strukturell angelegte Gewalt in Deutschland wehren - verstehe ich sehr gut! Es wundert mich auch nicht die Bohne das die kleine Gruppe nicht angesprochen wird.

    Die…
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