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Frei nach Otto

Frei nach Otto
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Vor zwei Jahren noch wollte Mannheim die Multihalle des berühmten Architekten Frei Otto abreißen. Nun ist sie auf der Architekturbiennale von Venedig vertreten und wird wieder eifrig genutzt. Designfestival, Tanzparcours, Sommerkino: Der Name Multihalle ist Programm. Doch ihre Zukunft weiter ungewiss.

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Schon der Katalog ist ein Argument. Anderthalb Kilo schwer und 33 Zentimeter hoch, ragt er über andere Architekturbücher hinaus. Wie der Gegenstand der Publikation, die Multihalle von Frei Otto: ein herausragendes Bauwerk. Seit 1998 Kulturdenkmal besonderer Bedeutung, braucht der Bau im Mannheimer Herzogenriedpark keinen Vergleich und keinen Superlativ zu scheuen. Nach dem Münchner Olympiadach ist sie das wichtigste Bauwerk des Architekten, der nach allen anderen wichtigen Architekturpreisen der Welt kurz vor seinem Tod auch noch dem Pritzker-Preis erhielt: so etwas wie den Nobelpreis der Baukunst.

Georg Vrachliotis, der den Band im Oktober letzten Jahres veröffentlicht hat, leitet das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau (SAAI) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Das SAAI verwahrt die Nachlässe zahlreicher bedeutender Baumeister aus dem deutschen Südwesten. Als sich in Stuttgart, wo Frei Otto seit 1964 gewirkt hat, niemand für sein Werk interessierte, war es für den Architekten eine naheliegende Wahl, seine zahlreichen einzigartigen Modelle, die zum Teil bis zuletzt in seinem Atelier in Warmbronn standen, nach Karlsruhe zu geben. Anlässlich des drohenden Abrisses der Multihalle hat das ZKM im Winter 2016/17 damit eine große Ausstellung gemacht, zu der ein Katalog über Ottos Gesamtwerk im selben Format erschien.

Nun hat Vrachliotis im Nachlass des Architekten erneut aus dem Vollen geschöpft: Mit zahlreichen Schwarzweiß- und Farbfotos, bis auf einen Vorspann alle aus der Bauzeit, mit Kommentaren der Beteiligten, Plänen und Zeitschriftencovern dokumentiert der Band in allen Details, wie dieses außergewöhnliche Bauwerk entstand. Ursprünglich war es Carlfried Mutschler, ein Mannheimer Architekt, Schüler von Egon Eiermann, der zusammen mit Teilen der benachbarten Herzogenried-Sozialsiedlung den Auftrag erhielt. Die rechtwinkligen Bauteile aus Beton, die von ihm stammen, hebt die Publikation nicht besonders hervor. Frei Otto, früher schon an anderen Gartenschauen beteiligt, war ebenfalls angesprochen worden, zog sich jedoch, in eigenen Worten, "anfänglich von der kleinlichen Konzeption enttäuscht" zurück. Bis Mutschler kam und etwas Größeres vorschlug.

Neuartige Technik zur Konstruktion

Damals arbeitete am Stuttgarter Institut für leichte Flächentragwerke ein deutsch-japanisches Team, darunter auch Mitarbeiter im Büro des berühmten japanischen Architekten Kenzo Tange, an der Weiterentwicklung eines Verfahrens, das der Katalane Antoni Gaudí bereits um 1900 entwickelt hatte: Um die optimale Lastabtragung einer gewölbten Konstruktion zu ermitteln, hatte Gaudí ein Kettengitter aufgehängt, dann die Form, die sich aufgrund des Gewichts der Ketten von selbst bildete, versteift und auf den Kopf gestellt. Frei Ottos Team verfeinerte das Verfahren mit einem Netz aus feinen Drähten, an denen Gewichte aufgehängt waren.

An zahlreichen Fotos im Katalog lässt sich ermessen, wie viel sorgfältige Feinarbeit dies erforderte. Denn das Modell war die Grundlage der hölzernen Konstruktion, die am Boden zusammengesetzt und dann von innen angehoben wurde. Der Architekt selbst bekennt: "Die Montage der Mannheimer Halle war atemberaubend. Ich habe es schon mit der Angst zu tun gekriegt." Dabei war die Form zwar am Modell ermittelt, doch zum ersten Mal auch von Großcomputern durchgerechnet worden, die damals tatsächlich noch sehr groß und längst nicht so leistungsfähig waren wie heute.

Doch die Multihalle hielt, und sie hält bis heute, auch wenn die Kunststoff-Dachhaut porös geworden ist und dadurch die Latten teilweise marode geworden sind und abgestützt werden müssen. Die Stadt Mannheim, die das Kulturdenkmal hatte leerstehen und verkommen lassen, beschloss im Sommer 2016, den Bau abzureißen, falls sich nicht bis Ende 2017 private Spender fänden, welche die für die Sanierung veranschlagten 11,6 Millionen Euro aufbringen würden. Ende 2017 ist inzwischen vorbei, doch seither - und seit <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik klammheimliche-kehrtwende-4289.html internal-link-new-window>dem letzten Kontext-Bericht über den Stand der Dinge - ist einiges geschehen.

Im Juli 2017 hat der Mannheimer Gemeinderat die Frist um zwei Jahre verlängert. Bis Ende 2019 muss nun nach derzeitigem Stand der Beschlusslage die Finanzierung geklärt sein. Zugleich entschied der Gemeinderat, 158 000 Euro im Vorjahr nicht verwendete Haushaltsmittel dafür einzusetzen, "dass zunächst die Multihalle wiederbelebt und der Öffentlichkeit im Sinne einer Aneignung durch vielfältige kulturelle und sportliche Nutzungen zugänglich gemacht werden muss".

Multihalle ist Musterbeispiel nachhaltiges Bauen

Alles, was mit der Multihalle zu tun hat, ist auf höchstem Niveau angesiedelt. Vrachliotis' Katalog erschien im Rahmen eines Urban Thinkers Campus: eine von sage und schreibe einhundert solcher Veranstaltungen, die seit dem ersten Mal in Caserta 2014 bis Ende 2017 im Rahmen einer World Urban Campaign von UN Habitat durchgeführt wurden. Das Programm der Vereinten Nationen arbeitet an einer besseren Zukunft der Städte. In Mannheim dachten rund 500 Experten, Studierende und BürgerInnen darüber nach, wie sich die Stadt bis 2030 entwickeln müsse, um die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erfüllen. Mit dabei: ein Workshop zur Multihalle.

Dabei stellt sich heraus: Als denkbar leichte Holzkonstruktion ist die Multihalle nicht nur ein Musterbeispiel nachhaltigen Bauens. Sie steht auch, wie Vrachliotis schreibt, für einen Prozess, in dem "das Entwerfen interdisziplinäre Erkenntnisproduktion, aber eben auch Ausgangspunkt für einen kollektiven Diskurs über die Zukunft der Gesellschaft bedeuten kann." Und weiter: "Als experimentelles Symbol für eine offene Gesellschaft verkörpert die Multihalle eine Art räumliche Reflexionsmaschine, die uns immer wieder von Neuem herausfordert, Fragestellungen zur Zukunft unserer Gesellschaft zu entwickeln: Wie wollen wir zukünftig leben und wohnen? Was wird Stadt ausmachen? Welche Vorstellungen von Gemeinschaft werden wir in Zukunft diskutieren müssen?"

In diesem Jahr gibt es ein dichtes Programm. Anfang Juni fand in der Multihalle unter dem Titel "Revolution" das zehntägige Uncover Designfest statt, von dem die Aufnahmen zu dieser Schaubühne stammen. Den überwiegenden Teil des Sommerprograms veranstaltet das Künstlerhaus Zeitraumexit, unter anderem den Tanzparcours "Multihallification" durch den Park und die Halle, eine wöchentliche "Audiothek der Visionen", mehrere Sommerkino-Abende und ein "szenisches Konzert" unter dem Titel "Multihalle Multimemory". Die Termine koordiniert <link http: mannheim-multihalle.de external-link-new-window>der Verein Multihalle Mannheim, den die Stadt und die Architektenkammer nach dem Nutzungsworkshop im Frühjahr 2017 gegründet haben.

Finanzierung weiter unklar

Laut einer Pressemitteilung des Vereins von Oktober 2017 kann "rund die Hälfte des veranschlagten Budgets (11,5 Mio, d. Red.) vom Haushalt der Stadt übernommen werden (...), die andere Hälfte soll sich aus Förderungen Spenden und Drittmitteln zusammensetzen". Bei der Stadt Mannheim Auskunft zu erlangen, wie es um den Stand der Spendensammlung steht, entpuppt sich als schwieriges Unterfangen. Der zuständige Pressesprecher kann nur auf die Referentin für Baukultur, Tatjana Dürr, verweisen. Die aber ist viel beschäftigt, schwer zu erreichen, hat keine Zeit, schriftlich zu antworten und verschwindet in den Urlaub, ohne zurückzurufen.

Nun ist die Multihalle auch auf der Architekturbiennale von Venedig vertreten. Die Biennale steht dieses Jahr unter dem Titel "Freespace". In einem Manifest ist von einer "Generosität des Geistes", einem "Sinn von Humanität" und der "Qualität des Raums" die Rede. Das klingt wie eine Einladung, die Multihalle vorzustellen. Mit Exponaten aus dem Architektur-Archiv SAAI wirbt die Ausstellung um Aufmerksamkeit, auch im Bestreben, Förderer zu gewinnen.

Die Kuratorin der Ausstellung, Sally Below, ist bereits seit Sommer 2016 für Mannheim tätig. Sie berät die Stadt bei der Programmentwicklung für die Multihalle und hat im Vorfeld der nächsten Bundesgartenschau 2023 die Reihe "Mannheimer Gärten" konzipiert, die einlädt, schon jetzt das Mannheimer Stadtgrün zu erkunden.

Und noch etwas hat sich im letzten Jahr getan: Mittlerweile ist die Multihalle auch auf der Website des Herzogenriedparks zu finden. Als "architektonischer Vorreiter unter Denkmalschutz".

 

Georg Vrachliotis: Frei Otto, Carlfried Mutschler, Multihalle, Leipzig 2017, 36 Euro.


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