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Wo soll das alles enden?

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Das letzte besetzte Haus im durchgentrifizierten Kreuzberg wird geräumt, Anarchist Zwille wird obdachlos und gerät in die Fänge eines durchtriebenen Graphic-Novel-Kapitalisten: Für seinen neuen Comic hat Zeichnerlegende Gerhard Seyfried nach langen Jahren seine populärste Figur wieder zum Leben erweckt.

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Nun ist es also doch passiert. Gerhard Seyfried, der wohl wichtigste deutsche Comiczeichner der letzten 50 Jahre, der detailverliebte Chronist der APO-Zeit und der Spontiszene, der Virtuose des Underground-Wimmelbilds ... dieser Seyfried ist, zum einen, am 15. März 70 Jahre alt geworden. Und zum zweiten, was noch erstaunlicher ist: Er hat einen neuen Comic veröffentlicht.

Vor zweieinhalb Jahren noch hatte Seyfried dies <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne pop-stolizei-3362.html _blank external-link>auf Kontext-Anfrage als ziemlich unwahrscheinlich dargestellt. Sein bislang letztes Comicalbum "Kraft durch Freunde" kam 2010 heraus, elf Jahre nach "Starship Eden" (1999). Zwischenzeitlich hatte er sich verstärkt aufs Verfassen akribisch recherchierter historischer Romane verlegt, zuletzt erschien "Verdammte Deutsche" (2012). Der geringe Comic-Output hatte aber nicht etwa damit zu tun, dass Seyfried keine Lust aufs Zeichnen oder keine Ideen mehr gehabt hätte, im Gegenteil. Geplant habe er Unmengen an Comics, könne das aber nicht mehr finanzieren, sagte er Ende 2015. Denn während der Arbeit an einem Comicband könne er ja keine – ungeliebten, aber zum Broterwerb nötigen – Auftragsarbeiten annehmen. "Und die Vorschüsse der Verlage sind, höflich ausgedrückt, lachhaft."

Was hat sich nun geändert? "Die Vorschüsse nicht", sagt Seyfried. Was dann? Die Passion fürs Zeichnen? Das klingt dem Meister offenbar zu romantisch. "Risikobereitschaft würde ich es nennen." Und als er sich entschlossen hatte, den Comic zu machen, sei der Frankfurter Westend Verlag der einzige gewesen, der interessiert war. Vor 40 Jahren, als sein erster Band "Wo soll das alles enden?" zu Hunderttausenden über die Ladentheken ging (was für jüngere deutsche Comiczeichner in etwa so vorstellbar ist wie eine absolute Mehrheit der SPD in Ba-Wü), da war das noch anders, da bemühte sich sogar der Rowohlt-Verlag um ihn.

Sei's drum, die Vergangenheit und erst recht deren Verklärung interessieren Seyfried nicht. Eineinhalb Jahre hat er an seinem neuen Werk gearbeitet, am Ende sei es noch ziemlich stressig geworden, weil der Comic pünktlich zum Siebzigsten fertig werden sollte. Aber es hat geklappt, die Verkäufe laufen wohl gut, und auch die Präsentation beim Comicsalon in Erlangen am vergangenen Wochenende sei "sehr erfolgreich" gewesen. Ein paar Leute kennen ihn doch noch, den "Spontifex Maximus", wie Seyfried schon 1978 in "Konkret" und im "Spiegel" genannt wurde, lange bevor Joschka Fischer diesen Titel usurpierte.

Obdachlose Comicfiguren

"Zwille" heißt der neue Comic, der in vielem an Seyfrieds Werke aus den 70ern und 80ern anknüpft, schon mit dem Titel: Der rauschebärtige Anarchist Zwille ist seine wohl populärste Figur, zuletzt tauchte er – allerdings glattrasiert – 1997 in "Let the bad Times roll" auf. Einige Verweise auf diesen Band werden Kenner gleich zu Beginn entdecken, wenn der nun wieder überaus haarige Titelheld gleich zwei Rückschläge hinnehmen muss: Er und sein Kumpel Mac Öko kriegen keine Sozialhilfe mehr, die sei für Comicfiguren ersatzlos gestrichen – weil die nicht altern. "Da haben die Schiss, dass wir dem Sozialstaat Hunderte von Jahren auf der Tasche liegen", folgert Zwille. Und dann wird auch noch die Unterkunft der beiden, das letzte besetzte Haus in Berlin-Kreuzberg, von der Polizei geräumt. Geld- und obdachlos, wollen sie ihren früheren Zeichner Seyfretti aufsuchen. Doch der hat seine Villa in Wannsee längst verlassen und versucht mittlerweile in einem bunkerartigen Anwesen in Italien Comics – oder "Fumetti", wie sie dort heißen – zu produzieren. Und so geraten die beiden Kumpels in die Fänge der "Graphic Novel Authority" (GNA), deren hinterlistiger Chef Graphael Nowellnikov die exklusiven Rechte Zwilles und Mac Ökos als Comicfiguren leasen will. Da viel Geld winkt, willigen die beiden ein – und sehen sich bald unfreiwillig als Werbefiguren für eine Jeans-Kampagne und für den Berliner Senator Schmarotzke von der PDF (Partei Demagogischer Finanzfetischisten), zuständig für Stadtabwicklung.

"Zwille" strotzt vor selbstironischen Referenzen, Seyfried nimmt Gentrifizierung und allgegenwärtige Kommerzialisierung aufs Korn, und auch der Comicmarkt und der Marketingbegriff "Graphic Novel" kriegen ihr Fett weg. Letzeren und dessen inflationäre Verwendung mag Seyfried überhaupt nicht, "das ist eine Idee der Buchhändler und Verleger, um etwas auf ein literarisches Niveau zu heben, obwohl es das auch mit dem Begriff Comic haben könnte. Vielleicht bin ich zu konservativ geworden – bei mir waren es immer Comics und werden es immer Comics bleiben."

Ob Comic oder was auch immer, das größte Vergnügen sind auch bei "Zwille" wieder die kleinen Details, die von ungetrübt genauer Beobachtungs- und satirischer Zuspitzungsgabe sowie Kalauerfreude künden, ob bei gentrifizierten Straßen oder Wahlwerbung. Da steht dann etwa SPD für Semi-Sozialoide Partei Deutschlands, und ein auffallend an Alexander Gauland erinnernder Herr wirbt für die DNS, die "Demokratischen Nationalsozialisten".

Schön auch, dass der Look wesentlich lebendiger wirkt als Seyfrieds zuletzt gelegentlich etwas steril wirkende Cartoons – erstaunlicherweise gerade dadurch, dass die Grundzeichnungen gar nicht getuscht sind wie früher, sondern die gescannten Bleistiftvorzeichnungen digital koloriert wurden. "Das hängt auch mit der Zeitnot zusammen", sagt Seyfried, "ist aber nicht nur eine Notlösung. Während ich daran gearbeitet habe, gefielen mir die Bleistiftzeichnungen einfach besser."

Flucht aus Berlin? Erstmal macht sich Seyfried an den nächsten Comic

Sein Comic-Alter-Ego Seyfretti lässt Seyfried in "Zwille" irgendwann klagen: "Was ist nur aus Berlin geworden?! Törnt mich total ab!" Auch die Meinung des Zeichners? "Ja, es ist halt so eine Hassliebe. Was ich sehe, wie sich die Stadt entwickelt, das finde ich ganz abscheulich. Wie die Stadt versaut wird, wie man die Mieter an die Ränder verdrängt, weil es einfach nicht mehr bezahlbar ist."

Ein Prozess, den auch Seyfried selbst zu spüren bekommt. Seit 2005 lebt er in Berlin-Schöneberg, doch seine Wohnung dort kann er nicht mehr bezahlen. Jetzt geht er zurück nach Kreuzberg, das zwar eigentlich noch teurer ist, "wo ich aber dank eines Freundes was Günstiges gefunden hab". Wenn er irgendwann dort auch weichen müsste, würde er jedenfalls nicht in die Berliner Plattenbau-Bezirke gehen. "Dann würde ich lieber aufs Land ziehen!" "Flucht aus Berlin" hieß ja schon ein Seyfried-Band von 1990.

Doch daran denkt er einstweilen nicht. Sondern lieber an neue Pläne. "Vor vier Monaten hätte ich noch gesagt, es wird keinen Comic mehr von mir geben, aber inzwischen habe ich tatsächlich wieder mit einem neuen angefangen." Diesmal, ohne sich vorab an einen Verlag zu binden, "damit ich nicht wieder in so'n Stress komme." Durch die deadlinegetriebene Arbeit an "Zwille" habe er sich den Rücken versaut, sei "die letzten Monate einfach zu viel am Schreibtisch gehockt." In "Zwille" geht sein Alter Ego Seyfretti übrigens am Ende einen ganz anderen Weg, mit dem man "zehnmal mehr verdient als mit irgendeinem Comic." Aber der sei jetzt nicht verraten.

 

<link https: www.westendverlag.de buch zwille _blank external-link>Gerhard Seyfried: Zwille, Westendverlag, 64 Seiten, 16 Euro.


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