Trotz dieses seit Jahren anhaltenden Booms ist der europäische Bart im Vergleich zu früheren Jahrhunderten einem massiven Bedeutungsverlust ausgesetzt. So war es im Mittelalter nicht unüblich, bei seinem Barte zu schwören. Doch mit einem zunehmend "aufgeklärten Weltbild wird der exponierte Bart als medialer Träger der Macht gesellschaftlich nicht mehr als metaphorischer Ausdruck göttlicher Omnipotenz wahrgenommen", schreibt die Philosophin Christina Wietig in ihrer Doktorarbeit über die "Kulturgeschichte des Bartes von der Antike bis zur Gegenwart". Die bewusste Formgebung eines Bartes, führt sie darin aus, sei demnach "Ausdruck einer kulturellen Überhöhung und somit Bestandteil des zeitgemäßen mentalen Körperbildes der jeweilig konventionellen anthropologischen Körperbildästhetik."
Je nach Kontext ist die Bartphänomenologie damit nicht nur ein modisches Statement, die Gesichtsbehaarung kann auch zum Träger für politische Botschaften werden. So begnügte sich die vermaledeite Bourgeoise während der Industrialisierung nicht damit, das Proletariat um Produktionsmittel zu prellen. Sie nahm der Arbeiterschaft obendrein ein Stück ihrer Identität, indem Konservative zusehends begannen, den ikonischen Revoluzzerbart zu adaptieren, zu schniegeln und damit zu verunstalten. Spätestens seitdem patriotische Preußen anfingen, den imposanten Backenbart ihres Kaisers Wilhelm I. zu imitieren, mutierte das einstige Symbol der Auflehnung gegen die herrschende Klasse vollends zum haargewordenen Untertanenbewusstsein (siehe Wietig: "Die Nachahmung der monarchischen Bartform als politisches Symbol der Kaisertreue und der Konformität").
Der Bart ist ein Bluff
Dass es ideologisch denkbar unterschiedlich ausgerichteten Gruppen gelungen ist, einen bestimmten Barttyp als identitätsstiftendes Symbol für sich zu vereinnahmen, verdeutlicht die universelle Beliebigkeit der Bedeutungen, mit denen die Gesichtsbehaarung versehen werden kann. Dabei handelt es sich um einen Mythos, dass ein üppiger Bartwuchs ein Zeichen für Männlichkeit und Dominanz darstellen muss. Eine Korrelation zur Körperkraft liegt nicht vor. Vielmehr ist der Bart ein Bluff: So kann er jene Gesichtspartien verdecken, <link https: www.spektrum.de wissen was-wir-ueber-baerte-wissen-und-was-nicht _blank external-link-new-window>die direkte Rückschlüsse auf die Muskulatur ihres Trägers zuließen. Vielleicht dient eine kraftvoll-krause Bartbastion auch dazu, verkappte Unsicherheiten hinter ihr zu verstecken
Sicher ist jedenfalls: Wie ein adonisähnlicher Astralkörper meist nicht ohne Training zu erlangen und instandzuhalten ist, setzt auch beim Prachtbart Schönheit Schmerz voraus. So berichten langjährige Vollbartträger von einem fiesen Piksen beim Wachsenlassen, das könne bisweilen ganz schön jucken. Und anschließend muss das Gesichtshaar gepflegt werden, um schön geschmeidig zu bleiben. Timi Osmani rät dazu, den Bart täglich einzuölen und zu bürsten, "damit das auch ordentlich aussieht".
Aus dem gleichen Grund schneidet er seinen eigenen Bart nicht selber: "Das ist unmöglich, das bei sich selbst so präzise hinzubekommen", sagt er mit sichtlichem Stolz. Also schneiden sich die Drei bei Timi ihre Bärte gegenseitig. Der Ablauf ist dabei der gleiche wie bei den Kunden, Osmani nennt dieses Prozedere gar "ein Ritual, das Ruhe bringt". Eine ganze Stunde nehmen sie sich im Schnitt Zeit für das Gesamtpaket, das neben der Rasur auCH einen Haarschnitt umfasst und stolze 70 Euro kostet. Dafür gibt es neben warmen Kompressen und einer Kopfhautmassage, wenn gewollt, zum Abschluss einen frischen Duft aufgesprüht. Der Lederjackenträger, der gar nicht mehr so grimmig guckt, wünscht sich Lavendel.
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