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Die Rattenfänger von Stuttgart

Die Rattenfänger von Stuttgart
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Manchmal müssen Geschichten reifen. Wie die Fotoreportage über zwei Rattenfänger, die wir vor genau einem Jahr auf ihrer Tour begleitet haben. Eine nicht alltägliche Arbeit, die beide Schädlingsbekämpfer mit Können, Leidenschaft und guter Laune verrichten.

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Sechs Wochen lang sind sie in drei Zweierteams in Stuttgart und seinen Teilorten unterwegs, um der großstadtimmanenten Rattenplage Herr zu werden. Hasan Tanrikut, seit 16 Jahren Ratten- und Schädlingsbekämpfer, und sein Kollege Heiko Müller, seit einem Jahr zertifiziert in diesem Beruf, sind eines der Teams und an diesem Tag unterwegs mit "Rocky 26", Gefährt Nummer 26 im Fuhrpark der Firma Rockstroh - Slogan: "We love dirty jobs".

Tanrikut fährt langsam durch Untertürkheim und markiert in Neonfarben die abgearbeiteten Straßen auf einem Stadtplan, Müller sitzt hinten auf der Ladefläche, bereit zum Absprung. Ein eingespieltes Team, das an diesem Tag dutzende Gullydeckel mit blauen Rattengiftködern bestücken wird. Deckel auf, Köder rein gehängt, Deckel zu, Punkt drauf, damit man weiß, wo man schon war, Deckel zu, weiter geht's. 

"Katastrophe!"

Im Gully im Selmaweg ist das Wasser weiß. Waschmittel vermutlich. "Katastrophe", sagt Tanrikut, "was wir so alles sehen. Pommes, Gemüse, die Leute schmeißen alles ins Klo." Darüber kann er sich richtig aufregen. Erstens, weil Essensreste nicht ins Klo gehören, sondern in die Biotonne. Und zweitens, weil Ratten keine Köder fressen, wenn sie stattdessen ein Portiönchen Spaghetti Bolognese finden. Ein Toilettenpapier schwimmt vorbei, in einer Pfütze liegt ein Kack-Würstchen...Deckel drauf, Punkt, weiter.

"Ratten sind sehr intelligenten Tiere", sagt Hasan Tanrikut, knapp 40 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. "Wenn sie unten in den Kanälen nichts mehr finden, laufen sie die Rohre hoch. Da sitzt dann jemand auf dem Klo und plötzlich" – er schnappt mit den Fingern – "zwick! – aua!" Er grinst, Scherz. Aber nur ein kleiner. "Wenn die Ratten hochkommen würden, würden sie die Stadt übernehmen. Sie wären überall, das kann sich keiner vorstellen."

Heiko Müller springt aus dem Auto, schiebt den Haken in ein Loch im Gullideckel, zieht kräftig, rumms. Eine Damenbinde klebt an der Backsteinwand, wie eine riesige weiße Nacktschnecke. Eine alte Frau in Karos und mit einer Astschere in der Hand kommt aus einem Vorgarten, kuckt neugierig in einen offenen Schacht. "Sehr nützlich", sagt sie in Richtung Köder und berichtet, wie eine so große Ratte – sie breitet die Arme auf Schäferhundlänge aus – gestern abend da hinter den Mülltonnen verschwunden wäre. "Die Katzen hier jagen die immer", sagt die Frau, mords Radau jedes Mal. Die Leute in den Randbezirken seien immer sehr nett, sagt Hasan Tanrikut, macht die Autotür zu, gibt Gas und lächelt. Stuttgart Innenstadt wäre anders, "der Verkehr ist schlimm. Da kann man nicht einfach an einem Gullydeckel anhalten, sonst hupt sofort jemand und regt sich auf." Tanrikut bremst, Heiko Müller hakt den Haken ein, ratsch, Gully auf. Nach zwei Stunden auf Tour ist das Geräusch beinahe vertraut.

Rattenbabys und Schauergeschichten

Klar, manchmal täten ihnen die Tiere schon leid, die sie vergiften, erzählen die beiden Männer. In einem Regenbecken habe er mal ein Nest mit elf rosaroten Rattenbabys gefunden, erzählt Tanrikut. Er habe sie sogar zu seinem Chef getragen, um zu fragen, was er machen soll. Der sagte: "Die werden doch auch mal groß!" und Rattenfänger bliebe eben Rattenfänger. "Das war schlimm, das hat im Herz wehgetan." Andererseits erinnert er sich noch gut an eine Mülldeponie mit unzähligen großen, grauen Tieren, ganz ohne Scheu vor Menschen. "Das war krass", Tanrikut zieht die Augenbrauen zusammen. "Es waren so viele! Und sie hatten überhaupt keine Angst." Es klingt richtig schaurig, wie er das erzählt.

Ob er seine Arbeit mag? "Sehr, sehr gerne", sagt er ohne zu zögern. Es ist Mittag, und zur Pause fahren die beiden auf einen kleinen Feldweg mit Blick über grüne Weinreben und viel graues Daimlergelände. "In einer Fabrik würde ich keine Luft bekommen. Aber bei dieser Arbeit bin ich immer draußen." Wenn er im Herbst an einem Apfelbaum vorbeikommt, pflückt er sich immer eine Frucht davon. "Das ist schön", sagt Hasan Tanrikut und beißt in sein Pausenbrot. 

Making of

Fast ein halbes Jahr lang haben wir auf die Tour mit den beiden Rattenjägern gewartet. Von der offiziellen Ausschreibung der Stadt bis zu unserem Treffen mit den beiden gut gelaunten Männern und ihren knallblauen Ködern vergingen Monate. Was letztendlich fehlte zur vollständigen Ratten-Reportage, war eine Ratte. Keine einzige traute sich vor das Objektiv unseres Fotografen, es kam nicht einmal eine vorbeigehuscht. Kluge Tiere eben. Aber ein Nachfolgetermin platzte, ein dritter ebenfalls, und dann drehte sich die Medien-Welt schon wieder andersherum. So kam es, dass die Fotogeschichte über Hasan Tanrikut und Heiko Müller ein Jahr lang im Kontext-Archiv schlummerte. (ana)


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3 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 04.03.2018
    Antworten
    Vor längerem habe ich beobachtet wie Spatzen massenhaft aus Rattenfallen gefressen haben (längliche, quadratische Metallkästen mit ca. 5x5cm und jeweils einem runden Loch an beiden Enden). Die Rattenfallen waren in dichtem Gebüsch (in dem sich bekanntlich auch gerne Spatzen aufhalten) bei der…
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