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Heilquellen-Müllgebiet

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Mitten im Heilquellenschutzgebiet in Stuttgart-Bad Cannstatt liegt ein stillgelegter Travertin-Steinbruch. Früher wurde das gelbliche Gestein von dort aus in alle Welt geliefert, heute ist das Gebiet Naturoase und Technikdenkmal. Doch jetzt wollen Recyclingunternehmen dort gefährliche Abfälle und täglich mehr als 20 000 Tonnen Müll verarbeiten. Dagegen rührt sich Widerstand.

Die Erbauer haben sich alle Mühe gegeben, die imposante Anlage harmlos und freundlich aussehen zu lassen. In Türkis und Pink sind die Wände verkleidet, Kletterpflanzen ranken daran empor. In Neonschrift steht "Rauchgasreinigung" an der Außenwand des Müllheizkraftwerks Münster. Seit 1965 wird hier Müll verbrannt. Die bunten Bauten stammen aus den späten achtziger Jahren, 1993 ging die Rauchgaswaschanlage in Betrieb. 180 Meter ragt ein Schornstein in den Himmel. Er soll die Abgase möglichst weit oben in die Luft pusten.

Neckartalstraße und Stadtbahngleise führen mitten durch die Anlage. Wie bestellt und nicht abgeholt stehen direkt daneben 14 monumentale Säulen im typischen Travertin-Gelb. Die Stadt Berlin hatte die 15 Meter hohen Säulen 1936 beim hier ansässigen Steinbruchbetrieb Adolf Lauster in Auftrag gegeben, um daraus ein Mussolini-Denkmal zu errichten. Hoch oben links steht noch die Fabrikantenvilla, hinten rechts die riesige Vierkranhalle, oberhalb davon die Versandhalle. Wie das große Loch im Boden sind sie Zeugnisse des Travertinabbaus, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. Alle Gebäude stehen wie die Säulen seit 1987 unter Denkmalschutz.

Aber sie sind nicht zu besichtigen. In der Vierkranhalle wurde von 1991 an Müll aus den gelben Säcken sortiert. Lauster war pleitegegangen und hatte den Steinbruch verkauft. Danach entstand dort das vergrößerte Müllkraftwerk. Vor der Halle, halb unter hohen Wellblechdächern, türmt sich heute geschreddertes Papier, wie zu silbergrauen Strohballen gepresst.

"Wir entsorgen alles" steht auf einem Transparent der Firma Degenkolbe Recycling an der Zufahrt auf das Gelände: "ab 02. 01. 2017 hier!" Wirklich alles? Barbara Kern vom Stuttgarter Wasserforum hat es ausprobiert. Eine Bleibatterie und quecksilberhaltige Leuchtstoffröhren habe der Entsorger anstandslos angenommen, erzählt sie. Dabei hat Degenkolbe dafür noch gar keine Genehmigung.

Bisher am Cannstatter Güterbahnhofsareal ansässig, hatte das Unternehmen dort Altpapier und Kunststoffabfälle angenommen. Der frühere Güterbahnhof befindet sich seit 2001 im Besitz der Stadt und soll ein Wohngebiet werden. Noch ist nichts gebaut, die Böden sind kontaminiert. Nun ist der Entsorger umgezogen und hat mit den beiden anderen Unternehmen, Karle Recycling und Fischer aus Weilheim, die den Lauster-Steinbruch im Frühjahr erworben haben, beantragt, im Steinbruch einen großen Recyclingpark einzurichten, in dem auch gefährliche Stoffe gelagert werden sollen.

Ende Juli wurde das Vorhaben bekanntgegeben. Über die Sommerferien lagen die Antragsunterlagen aus. Aber Jan Reichler, ein Anlieger aus dem benachbarten Stadtteil Münster, entdeckte, dass die Unterlagen unvollständig waren. Nun liegen die ergänzten Unterlagen bis zum 22. November erneut im Bezirksrathaus Bad Cannstatt und im Regierungspräsidium aus. Die Einspruchsfrist läuft bis 6. Dezember.

Reichler sieht über die Gleise hinweg unmittelbar auf den oberen Teil des Lauster-Geländes. Die so genannte Schusterbahn brachte früher Arbeiter aus Untertürkheim zum Salamander-Werk nach Kornwestheim, dann Kohle zum Kraftwerk, heute verkehren wieder vier Regionalzüge am Tag. Als in Stuttgart 2006 die Müllabfuhr streikte, wurde oben im Lauster-Areal der Müll einfach offen abgekippt. "Es stank bestialisch", erzählt Reichler, "und Ratten liefen über meinen Hof". Schließlich musste das Umweltbundesamt einschreiten. Seitdem hat Reichler ein waches Auge auf alles, was sich auf der anderen Seite der Bahngleise ereignet.

Ölfilter, Frostschutzmittel, ausdrücklich auch mit gefährlichen Stoffen, verunreinigte Schutzkleidung, Bleibatterien, quecksilberhaltige Leuchtstoffröhren, asbesthaltige Dämmmaterialien: Dies alles wollen Karle, Fischer und Degenkolbe auf dem Lauster-Areal lagern und weiterverarbeiten, durchschnittlich 215 Tonnen gefährliche Stoffe pro Tag. Der Großteil der Gemeinderäte scheint nichts dabei zu finden, ebenso die Bezirksbeiräte von Bad Cannstatt und Münster.

Lediglich die Grünen und SÖS-Linke-Plus im Gemeinderat haben noch ein paar Fragen, nachdem das Projekt kürzlich im Ausschuss für Umwelt und Technik vorgestellt wurde. "Sollen auch radioaktiv verseuchte Materialien, z.B. Bauschutt aus dem AKW Obrigheim, dort gelagert werden?", möchten die Grünen wissen. Wenn ohne Genehmigung jetzt bereits Bleibatterien und Leuchtstoffröhren angenommen werden, öffnet dies allen Befürchtungen Tür und Tor.

An erster Stelle steht die Sorge um das Heilquellenschutzgebiet. Bad Cannstatt besitzt nach Budapest die zweitgrößten Mineralwasservorkommen Europas. Seit der Nachkriegszeit gibt es ein Monitoring, doch erst 2002 wurde ein Schutzgebiet festgelegt, bestehend aus einer Kern-, einer Innen- und einer Außenzone. Die Kernzone reicht bis ans Müllkraftwerk, der Lauster-Steinbruch gehört zur Innenzone.

Wenige hundert Meter entfernt entspringt im einzigen verbliebenen offenen Quelltopf, im Hinterhof eines Sportbads und nicht öffentlich zugänglich, die Mombachquelle. Sie gehört nicht zu den hochmineralisierten Quellen, speist gleichwohl aber auch das Mineralbad Leuze und das Cannstatter Mineralbad. Sogar direkt im Inneren des Müllkraftwerks gibt es eine Quelle, die Travertinquelle, durch ein Brunnenhäuschen gefasst.

Travertin ist ein poröses Gestein, andernfalls könnte das Mineralwasser hier gar nicht an die Oberfläche treten. Tatsächlich ist das Gestein aus Kalkablagerungen entstanden, die sich im Lauf hunderttausender Jahre beim Austreten des Mineralwassers abgesetzt haben. Wer garantiert, dass die gefährlichen Stoffe, die auf dem Gelände umgeschlagen werden sollen – aber auch Giftstoffe aus Lacken, Beschichtungen oder von behandelten Hölzern – nicht in den Boden gelangen?

Weitere Kritikpunkte betreffen Lärm, Staub und Verkehrsbelastung. Die drei Abfall-Unternehmen sprachen zunächst von hundert LKW am Tag. Beantragt haben sie aber tausend. Mittlerweile seien aus den einhundert "wenige hundert" geworden, moniert Reichler. Bereits jetzt fährt alle paar Minuten ein schwerer Muldenkipper der Firma Fischer unmittelbar neben den Kolossalsäulen die steile Einfahrt hinauf. Zwanzig und mehr Laster stehen ständig im oberen Teil des Areals Schlange.

Vom Verkehrsaufkommen hängt auch die Lärm- und Staubbelastung ab. Beim Abkippen der Mulden wird viel Staub aufgewirbelt. Wenn er problematische Stoffe enthält, ist die Gesundheit der Anwohner von Münster gefährdet. "Um das Staubaufkommen bei der Anlieferung und Aufbereitung der mineralischen Güter zu reduzieren werden Bedüsungssysteme zu deren Befeuchtung installiert", steht in einer Anfrage von SÖS-Linke-Plus. "Kann das Besprenkeln dazu führen, dass verschmutztes Oberflächenwasser auch in die Heilwasserschichten eindringt und diese verschmutzt?", Und ganz generell stellt sich die Frage, ob Müll, zumal verseuchter, überhaupt in den Travertin-Steinbruch und ins Heilquellenschutzgebiet gehört. Zumal es sich nicht gerad um kleinen Mengen handelt: Täglich bis zu 22 917 Tonnen sollen am neuen Standort abgeladen werden, so steht es im Antrag der Entsorger.

Die Steinbrüche am linken Neckarufer gehörten zu den bedeutendsten Travertinvorkommen Deutschlands. Das Hotel Graf Zeppelin am Bahnhof ist aus dem gelblichen Stein gebaut, ebenso der Königin-Olga-Bau am Schlossplatz, der um 1927 errichtete Mittnachtbau, heute Sitz des Wissenschaftsministeriums, und die Neue Staatsgalerie von James Stirling. Lauster lieferte in alle Welt, bis nach Japan und Argentinien. Aus Cannstatter Travertin besteht auch der monumentale Bau der IG Farben in Frankfurt und der Flughafen Berlin-Tempelhof.

Im Travertin der Cannstatter Steinbrüche wurden bedeutende Fossilien gefunden, die sich heute im Naturkundemuseum am Löwentor befinden. Die angrenzenden kleineren Steinbrüche der Unternehmen Haas und Schauffele sind seit 2010 Travertinparks. Und könnten sogar Unesco-Weltnaturerbe sein, sagt die Landschaftsplanerin Barbara Drescher: wie die Grube Messel bei Darmstadt. Dort wurde bis 1970 Ölschiefer abgebaut, dann sollte eine zentrale Mülldeponie für Südhessen eingerichtet werden. Ende der Achtzigerjahre verzichtete die hessische Landesregierung dann auf das Vorhaben, und die Grube Messel landete prompt auf der Welterbeliste.

Der Travertinpark ist Naturoase und Technikdenkmal zugleich. Jahrelang hat ein früherer Lauster-Mitarbeiter darauf hingearbeitet. Er würde den Park gern auf das gesamte Areal erweitern, mit der alten Villa als Ausflugscafé. Eine schöne Vision. Die Stadt Stuttgart steht im Begriff, sie im Müll zu versenken.
 

Info: 

Am 21. November um 19 Uhr laden das Stuttgarter Wasserforum und die Linke Bad Cannstatt zu einer Informationsveranstaltung im Thouret-Saal des Cannstatter Kursaals.


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1 Kommentar verfügbar

  • Ralf Laternser
    am 14.03.2018
    Antworten
    Nicht erwähnt wurde ein immer möglicher Unglücksfall - insbesondere ein Brand. Meiner Meinung nach ist die Lage neben der Müllverbrennungsanlage besonders günstig. Den wie beim Dualen System (in den alten Lauster-Hallen) ist das "thermische Recycling" ein sehr bequemer und kostengünstiger Weg unsere…
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