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Lenin unterm Maggi-Turm

Lenin unterm Maggi-Turm
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Lenins Reise aus dem Schweizer Exil nach Russland führte auch durch Baden-Württemberg. In Singen stand sein Zug gar eine Nacht auf dem Abstellgleis unterm Maggi-Turm. Eine nach-revolutionäre Bahnfahrt im Drei-Löwen-Takt.

Für die Frau von der Bahn gibt es kein Vertun. "Klar hätte ich Lenins Zug rangiert", sagt Marit Picht auf dem Singener Bahnsteig und blinzelt in die Sonne. Das Tattoo an ihrem Arm leuchtet mit den Neonfarben ihres Signal-Anzugs um die Wette. Frau Picht ist Rangierbegleiterin. Von Lenins Revolutionszug hat sie noch nie gehört, hier in Singen sei das kein Thema, und überhaupt: "Lenin und Stalin, klar, kenn ich, aber mehr fällt mir dazu nicht ein". Ein kurzer Blick über die Gleise hinüber zum Maggi-Werk, dort stand er also vor 100 Jahren, der legendäre Zug, aha.

Ja, hier stand er am 9. April 1917. Unterm Maggi-Turm parkten die Deutschen den Waggon der Schweizer Exilrussen. Es war die erste Nacht einer siebentägigen Reise und die revolutionäre Reisegruppe stimmte munter die Marseillaise an. Kein Wunder, denn die deutschen Begleiter hatten die Revolutionäre nicht nur mit Butterbroten, sondern auch mit Bier aus Singen versorgt, was die Stimmung im verplombten Waggon erheblich verbesserte. Lenin sang übrigens nicht mit. Aber der Reihe nach.

Wir sind unterwegs von Schaffhausen nach Stuttgart. 100 Jahre nach Lenin zuckeln wir im Drei-Löwen-Takt auf seinen Spuren. Sein Weg führte ihn vom Züricher Exil nach Petrograd, in sieben Tagen. Wir begleiten ihn von Schaffhausen über Gottmadingen, Horb und Herrenberg bis Stuttgart. In der Luft liegt ein Hauch von Herbst und Nostalgie, in der Hand Catherine Merridales Buch über diese legendäre und mythisch aufgeladene Zugfahrt, von der der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit" schwärmte: "Millionen vernichtender Geschosse sind in dem Weltkriege abgefeuert worden. [...] Aber kein Geschoß war weittragender und schicksalsentscheidender als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts, in dieser Stunde von der Schweizergrenze über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu zersprengen."

Die britische Historikerin Catherine Merridale ist da erfreulicherweise weit weniger pathetisch. Sie weiß auch, dass die entschlossenen Revolutionäre schon zwei Stunden nach ihrer Abfahrt in Zürich enteignet wurden. An der Grenze zu Deutschland. Im Schweizerischen Schaffhausen. Dort mussten sie auf Bahnsteig 3 hilflos mitansehen, wie Schweizer Zollbeamte in ihrem Gepäck stöberten, in Decken, Büchern wühlten und vor allem im üppigen Proviant. Die Revolutionäre hatten zwar eine Durchfahrtgenehmigung für Deutschland, aber die Rechnung ohne den Schweizer Zoll gemacht. Wegen einer Kriegsvorschrift durften Käse, Wurst und hartgekochte Eier nicht in den Mengen, die sie dabei hatten, ausgeführt werden. Der Proviant wurden kurzerhand beschlagnahmt, nur ein paar Brote blieben übrig.

"Schoki läuft ganz gut", sagt die Kiosk-Verkäuferin, die hundert Jahre später die Bahngäste in Schaffhausen mit Proviant versorgt, aber auch Chips und Bonbons würden gerne genommen. Lenin und die Enteignung auf Bahnsteig 3? "Weiß i net", lacht sie: "Sport und Geschichte dürfen Sie mich net fragen." Hundert Jahre sind eine hübsche Zahl für Jubiläen. Doch hundert Jahre Betriebsamkeit verwischen Erinnerungen und Spuren.


Der Schock der Enteignung war kaum überstanden, als die 32-köpfige Gruppe in Gottmadingen, dem ersten Halt auf deutscher Seite, erneut der Panik nahe war. Denn "zu ihrem Entsetzen sahen sie zwei ernste Männer in grauer Uniform auf dem Bahnsteig: grimmige Typen, wie sie entsandt werden, wenn eine überraschende Verhaftung geplant ist", schreibt Catherine Merridale. Doch daran dachten die Offiziere Rittmeister von der Planitz und Leutnant von Bührin nicht im Traum. Ihr Job war es, die Reisenden vom Schweizer in den deutschen Zug zu begleiten. Und zwar im Auftrag des Deutschen Reichs. Dahinter steckte das Kalkül, den russischen Kommunisten Lenin und sein Gefolge aus dem Schweizer Exil schnellstmöglich nach Petrograd zu transportieren, um die Revolution dort voranzutreiben, den Kriegsfeind Russland zu destabilisieren und so zum Waffenstillstand zu bewegen.

"Lenin war seit der gescheiterten Revolution 1905 im Schweizer Exil", weiß der Zuggast aus Frankfurt/Oder. Endlich jemand, der keine Stöpsel im Ohr oder von Lenin noch nie gehört hat. Draußen fliegt das Industriegebiet von Sulz am Neckar vorbei, dann mäandert die Bahn gemütlich am Neckar entlang. "Die Idee vom Sozialismus war schon gut", sagt der Mann noch, bevor er aussteigt, und seine Frau nickt, "aber die Menschen haben halt nicht mitgespielt." Draußen drängt sich der Schwarzwald enger an den Zug, auf den Feldwegen führen Menschen ihre Hunde Gassi, Radfahrer nutzen das sonnige Herbstwetter für einen Ausflug.

Revolutions-Zug

„Scheiße“, sagte Lenin in Zürich: In Russland wurde der Zar gestürzt und der Revolutionär hockte im Exil in der Schweiz. Bald darauf dampfte er mit 32 Genossen in einem deutschen Dampfzug und einem plombierten Waggon von Zürich nach Petrograd: Vom 9. April bis zum 16. April 1917 waren die Revolutionäre unterwegs. Über die Route wurde immer wieder gestritten. Laut der britischen Historikerin Catherin Merridale führte sie von Zürich quer durchs Deutsche Reich über Singen, Stuttgart, Karlsruhe, Frankfurt und Berlin, weiter über Schweden und Finnland nach Petrograd. Organisiert hatte die revolutionäre Reise das Deutsche Reich. Dort hoffte man im vierten Kriegsjahr 1917, den Kriegsgegner Russland zu schwächen, indem man dort die Revolution vorantrieb. Es war eine Reise, die die Welt veränderte. Bevor das Jahr 1917 zu Ende ging, war Lenin zum Gebieter eines revolutionären neuen Staates geworden. (sus)

Vor hundert Jahren im April standen auf den Feldern vom Hunger und vom Krieg ausgezehrte Menschen, die den wohlgenährten Exil-Russen in ihrem Waggon misstrauisch nachschauten. Die hatten aufgehört, die Marseillaise zu schmettern, als die deutschen Begleiter sie darauf hinwiesen, dass das bei den Deutschen derzeit nicht so super ankäme.

Drinnen hatte Lenin mit weißer Kreide eine Demarkationslinie ziehen lassen, welche die deutschen Begleiter von den Revolutionären trennte. Wladimir Illjitsch Uljanow, genannt Lenin, wollte so schnell wie möglich ins revolutionäre Russland. Doch er wollte nicht als Kollaborateur des Klassenfeindes Deutschland verdächtigt werden. Der einzige, der die Linie übertreten durfte, war der Schweizer Fritz Platten, der zum offiziellen Mittelsmann der Gruppe geworden war.

Sein organisatorisches Geschick bewies Lenin bereits im Revolutionszug und zwar in der Toilettenfrage. Da er das Rauchen im Waggon strikt verboten hatte, bildeten sich vor der einzigen Toilette Schlangen von Rauchern und Toilettenbenutzern. Kurzerhand händigte Lenin Passierscheine zweiter Klasse für die Raucher aus, die von Passierscheinen erster Klasse anderer Interessenten übertrumpft werden konnten.

Die Route am zweiten Morgen führte von Singen hinauf zum Neckartal, durch die Städte Rottweil und vorbei an der alten Burg Hohenberg in Horb. "Den Reisenden fiel auf, dass sich kaum Menschen zeigten. [...] Während die Passagiere ihre letzten altbackenen Brötchen aufaßen und die Krümel von ihren Holzsitzen wischten, bemerkten sie auch, wie dünn und matt die Menschen waren. Die Dorfbewohner starrten zurück, wenn sich der Zug verlangsamte, und erst als die Russen erfuhren, dass seit 1914 kein Deutscher mehr ein Weißbrötchen zu Gesicht bekommen hatte, begriffen sie, warum die Mienen so hungrig und überaus feindselig waren", schreibt Merridale in ihrem Buch.

Peter Lorenz will sich die "Reise in die Revolution" besorgen, gleich morgen. Lorenz ist 70, Architekt, auf dem Weg von Radolfzell nach Aachen, wo er ein Haus baut für sein Patenkind, Anthroposoph und "von Haus aus sozialistisch eingestellt". In Singen ist er zugestiegen, an Lenin erinnert sich der Alt-68er gut. "Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute auf der Revolutionsstrecke fahre, hätte ich eine rote Fahne mitgebracht", sagt er und grinst. Lorenz, der sich gerne mit Verstorbenen unterhält, seit er in ein gewisses Alter gekommen ist, will heute noch mit Lenin sprechen. Darüber, was aus der Welt und den kommunistischen Idealen geworden ist. Und wenn er schon dabei ist, auch mit Heiner Geißler, den er sehr schätzt, der bei der S-21-Schlichtung aber "nicht mutig genug war".

Über die Panoramastrecke mit Blick auf Stuttgart geht unsere Nostalgietour zu Ende. Peter Lorenz setzt sein Barett auf, schaut kurz ins tiefe Loch am Bahnhof und geht zu seinem Anschlusszug. Am Abend will er in Aachen sein.


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1 Kommentar verfügbar

  • albrecht götz von olenhusen
    am 03.11.2017
    Antworten
    diese ausgabe hat mir ausnehmend gut gefallen, insbesondere der artikel zu lenins
    reise im plobierten waggon - das historische werk der englischen gelehrten ist besser als sein rezensionsruf - auch anders als belzners roman weiland über die reise in die revolution. lenin hat einen menschewiki auf…
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