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Wider den Leistungswahn

Wider den Leistungswahn
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Schneller, höher, stärker – das olympische Credo ist Alltag in einer Arbeitswelt, die zunehmend auf Effizienz getrimmt ist. Immer mehr Menschen machen diese Strukturen krank, sagt Rolf Siedler, der seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Betriebsseelsorge arbeitet. Diese veröffentlicht regelmäßig Kalender mit Aufnahmen aus der Arbeitswelt. In unserer Schaubühne zeigen wir eine Auswahl.

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Permanente Verfügbarkeit, extreme Erwartungen, Kontrolle auf Schritt und Tritt. Die Arbeitswelt habe zwar in Sachen Sicherheit und Sauberkeit sensationelle Fortschritte gemacht, sagt Rolf Siedler, "gleichzeitig werden aber die Anforderungen an Arbeitnehmer immer unrealistischer." Der Drucker verweigert den Dienst und der Arbeitszeitnachweis kommt einen Tag zu spät? Ein Kündigungsgrund! Siedler, Theologe und Philosoph, spricht von einer zunehmenden Null-Fehler-Kultur. Seit 22 Jahren arbeitet der 60-Jährige bei der Betriebsseelsorge der katholischen Kirche in Aalen, die allen Konfessionen kostenfrei offensteht. Menschen, die seine Hilfe suchen, sieht Rolf Siedler nicht als Klienten, Kunden oder Patienten, sondern als Gesprächspartner auf Augenhöhe, ganz egal, ob sie Führungskräfte, Facharbeiter oder Aushilfskraft sind. Doch egal ob gut oder schlecht bezahlt: Gemeinsam ist ihnen, dass sie kurz vor dem Kollaps stehen, weil ihnen ein unmenschlich dichter Berufsalltag zu viel abverlangt.

Auch Unternehmen wundern sich inzwischen, so Siedler, dass es ihnen reihenweise die besten Leute "weghaut". In seinen Seminaren sitzen junge Betriebswirte anfangs noch selbstsicher auf ihren Stühlen und belächeln die verordnete Betriebsseelsorge milde. So lange, bis Siedler von seinen Erfahrungen erzählt. Von Fällen, in denen Menschen über Jahrzehnte hinweg scheinbar problemlos funktionieren. Jahre, in denen Beschwerden ausgeblendet wurden, in denen sich immer mehr ansammelt, immer mehr Spannung aufstaut. Und schließlich ist es eine Kleinigkeit, die alle Schutzmauern bröckeln lässt. Dann wird es plötzlich leise im Raum. Wenn Siedler vom Büroangestellten berichtet, der sein Soll stets erfüllt und sich bei Hunderten Überstunden nie über seine Arbeitsbedingungen beklagt hat. Bis der Betrieb die Kaffee-Ecke wegrationalisiert. Ein vermeintlich nichtiger Vorgang, doch zu viel für den Mann Mitte 40, dem damit der letzte Rückzugsort weggestrichen wurde, der letzte Ruhepol, an dem er mal eine Pause einlegen, sich ab und zu ein paar Minuten mit Kollegen unterhalten konnte. Mucksmäuschenstill wird es im Seminar.

Heute sind psychische Erkrankungen mit knapp 43 Prozent Anteil die häufigste Ursache für Frühberentungen. Die Betroffenen sind im Durchschnitt keine 50 Jahre alt. Seit den 1990er Jahren haben sich die Fehltage wegen Burnouts, Depressionen und Co. mehr als verdoppelt. Häufig trifft es bereits Berufsanfänger, die kurz nach Studium oder Ausbildung vom Übergang von Theorie zu Praxis überfordert sind. "Meistens erwischt es Ideenreiche, Engagierte. Welche, die Ambitionen haben und sich einbringen wollen – denen dann zu viel zugemutet wird, die sich ausbeuten lassen", weiß Siedler. "Das Neinsagen wurde in der Arbeitswelt verlernt", sagt der Mann, der seit Jahrzehnten von Berufs wegen darauf schaut. Er wünscht sich "eine Kultur des Grenzensetzens" und fordert Arbeitnehmer auf, sich nicht alles gefallen zu lassen.

Das allerdings erfordert Courage. Viele Konzerne suchen sich lieber Ersatz, sortieren die menschlichen Zahnräder aus, wenn sie irreparabel verschlissen sind. Darf man sich also trauen? Siedler antwortet mit einer Gegenfrage: Rentiert es sich, für ein paar Jahre in Brot und Lohn seine Gesundheit lebenslang aufs Spiel zu setzen? Er erzählt von Gesprächspartnern, bei denen Kündigungen letztlich sogar befreiend gewirkt hätten: "Weil sie das zwingt, sich mit einem Plan B zu befassen." Und den gebe es fast immer.

Doch Rolf Siedler kritisiert Strukturen in der Wirtschaft, die der Illusion von grenzenlosem Wachstum mit grenzenloser Optimierung folgen. "Das macht immer mehr Menschen krank." Viele Betriebe böten inzwischen unternehmenseigene Therapien an, allerdings fast immer unter der Prämisse, dass die Arbeitskräfte möglichst schnell wieder funktionieren: "Wer einen Burnout hat, soll sich mit seiner Behandlung gefälligst beeilen." Zurück an die Arbeit!

Und weil schon die Schule bedingungsloses Highperformen zum obersten Gebot erklärt, gilt noch immer als schwach, wer sich Hilfe sucht. Mag die Arbeit auch schneller und dichter geworden sein, so Siedler, "die Vorurteile und blöden Sprüche sind noch genauso dumm wie vor 20 Jahren." Aus Scham vor Schande oder Angst vor dem Eingeständnis vermeintlicher Schwäche suchen viele erst dann Hilfe, wenn sie völlig ausgebrannt sind. Was es hier braucht, ist neben guter Beratung ein fundamentales Umdenken – weg von einer Ökonomisierung um jeden Preis und hin zu einer Arbeitswelt, die Gesundheit, Anerkennung und Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt.

 

Seit 1987 erscheint jährlich ein Kalender der Betriebsseelsorge Baden-Württemberg mit Momentaufnahmen aus der Arbeitswelt. Von Anfang an sind Bilder unseres Fotografen Joachim E. Röttgers mit dabei, die letzten 28 Jahre in Folge stammten die Titelbilder von ihm. Die Fotostrecke oben zeigt davon eine Auswahl.


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3 Kommentare verfügbar

  • Schwabe
    am 06.04.2017
    Antworten
    zu Fred Tauber, 05.04.2017 01:21
    Sich sachlich mit dem Kommentar auseinanderzusetzen den man kritisiert ist scheinbar nicht Sache der katholischen Kirche bzw. des Herrn Tauber - Verleumdung, Indiskretion und Unterstellungen schon eher.
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