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Krav Maga im Flüchtlingsheim

Krav Maga im Flüchtlingsheim
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 Fotos: Annette Wandel 

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Datum:

Viele Frauen sind vor sexualisierter Gewalt geflüchtet. Doch auch in deutschen Geflüchtetenheimen hört die Bedrohung oft nicht auf. Zwei Stuttgarter Kampfsportlerinnen geben deshalb Unterricht in Selbstverteidigung.

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Betul hat die Faxen dicke. Im Stuhlkreis des Gemeinschaftsraums in der Geflüchtetenunterkunft in Stuttgart-Rohr sprudelt es nur so aus ihr heraus. Die Syrerin ist seit einem Jahr in Deutschland und wohnt mit rund 200 anderen Menschen hier in der Gemeinschaftsunterkunft im Haus Hohenfried. "Wenn mich zuhause jemand betatscht hat, hab' ich mich immer gewehrt und auch mal zugehauen", erzählt die 36-Jährige. "Aber hier hab' ich oft keine Zeugen, alles ist fremd." Vor Kurzem sei sie auch von Männern in der Unterkunft massiv bedrängt worden. "Die haben mich an den Haaren gezogen", erzählt sie weiter, auf Facebook habe man sie als Schlampe beschimpft.

Betuls Geschichte ist kein Einzelfall. Zusammen mit zehn weiteren Frauen nimmt sie an einem Selbstverteidigungskurs für geflüchtete Frauen teil, für die Gewalt oft bis heute zum Alltag gehört. Denn mit der Ankunft in Europa und Deutschland hören körperliche, meist sexuelle Übergriffe nicht auf. Schon seit 2015 weisen zahlreiche Menschenrechtsorganisationen darauf hin, dass viele Frauen auch nach der Flucht Gefahr laufen, Opfer sexualisierter und häuslicher Gewalt zu werden, durch Partner, Bewohner oder sogar Personal in den Unterkünften.

Dagegen wollen die Betreuerinnen im Haus Hohenfried etwas unternehmen. "Wir wollen das Selbstbewusstsein der Frauen stärken", erklärt Anna-Lena Wißmüller. Deshalb hat sie zusammen mit ihren Kolleginnen die beiden Stuttgarter Kampfsportlerinnen Jessica Wagner und Yvonne Wolz ins Haus geholt für einen Selbstverteidigungskurs. "Re.act" nennen die beiden schlagkräftigen Frauen ihre Workshops, die sie für soziale Einrichtungen, Schulen oder Firmen anbieten. Im September haben sie schon einmal einen Kurs in der Flüchtlingsunterkunft am Nordbahnhof gegeben. Frauen zu empowern, steht im Zentrum ihrer Arbeit. Wolz ist Instruktor von Krav Maga, einer israelischen Kampfsportart, Wagner ist Thaiboxerin. Ihr Credo: neben Schlag- und Tritttechniken auch mentale Stärke fördern. Die Parole: raus aus der Opferrolle.

Die steckt den meisten Frauen hier sichtlich in den Knochen. Einige Heimbewohnerinnen laufen geduckt, als ginge es darum, unsichtbar zu werden. Manche sind barfuß oder in Flipflops erschienen. Wenn Wagner und Wolz selbstbewusst erklären, welche Körperstellen am besten geeignet sind, um sich ungewünschten Körperkontakt vom Hals zu halten, prallen Welten aufeinander. Als Wolz eine Pratze in die Luft hält und Mumina auffordert, fest dagegen zu hauen, kichert die junge Syrerin und wendet sich ab. Es ist dieselbe Verlegenheitslache, die sie mit fast allen Frauen im Raum teilt, wenn sie zulangen sollen. Der Schlag auf die Pratze erfolgt sanft und mit flacher Hand, als hätte sie Angst, etwas zu tun, das sie nicht darf. Danach setzt sie sich rasch an den Rand des Raums, um ihrem Baby die Flasche zu geben.

Zwischen Pratzen und Babyfläschchen

Dass Mumina, Betul und die anderen Frauen hier lernen, wie man sich selbst behauptet, wissen ihre Männer nicht. Als Anna-Lena Wißmüller und Hannah Kohlhase vom Haus Hohenfried durch die Zimmer in der Unterkunft ziehen, um Werbung für den Kurs zu machen, ist die Rede von ein bisschen Sport. Die Partner der Frauen sollen nicht wissen, dass es darum geht, sich zur Wehr zu setzen. Zu groß ist die Sorge, dass das für einzelne Frauen böse enden könnte. Von einzelnen Männern wisse man, dass sie nicht damit einverstanden wären, wenn sie wüssten, dass ihre Frau an einem Selbstverteidigungskurs teilnimmt. "Die haben Schiss, dass sich ihre Frau emanzipiert", sagt Kohlhase, die einen Bundesfreiwilligendienst im Haus leistet. Was hinter verschlossenen Türen passiert, sieht auch der Security-Mann nicht, der Ansprechpartner sein soll, wenn es Ärger gibt.

Den gibt es oftmals auch, weil bei der Konzeption von Unterkünften nicht zu Ende gedacht wurde, weiß Doris Köhncke vom Fraueninformationszentrum FIZ in Stuttgart. Es gäbe seitens des Sozialamts zwar mittlerweile ein Bewusstsein für die Probleme von Frauen in Flüchtlingsheimen und man sei bemüht, sie in den Griff zu bekommen. Auch Unicef und das Familienministerium haben in diesem Sommer einen Leitfaden herausgegeben, der die Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in den Unterkünften sichern soll. Doch an der Umsetzung hapere es noch. "Da wird zum Beispiel bei Systembauten vergessen, dass für das Frauenstockwerk in Heimen ein anderer Schlüssel für die Flurtüren her muss als auf dem Männerstockwerk", erklärt Köhncke. "Oder man denkt zwar an die räumliche Trennung durch Männer- und Frauenstockwerke. Doch die Waschmaschinen stehen in einem Gemeinschaftsraum." Da kann der Gang in den Keller für manche Frau belastend werden.

"Auf geht's, fester!", motiviert Yvonne Wolz die Frauengruppe. Mittlerweile hält sie sich ein großes Stück Schaumstoff dorthin, wo Männer am einfachsten außer Gefecht gesetzt werden können: die Kronjuwelen. Der Reihe nach sollen die Frauen voll zwischen Wolz' Beine treten. "Nicht mit dem Fußrücken, sondern etwas weiter Richtung Schienbein." Damit alle wissen, wie's geht, lässt Jessica Wagner gekonnt ihr Bein nach vorne schnappen, so dass es richtig knallt. Jetzt kommt Betul in Fahrt. Nach zwei, drei zögerlichen Versuchen hat sie den Dreh raus und verpasst Wolz einen Mordstritt. "Super!", freut sich ihre Kollegin. Mumina traut sich noch nicht so richtig. "Stell dir vor, ich bin ein richtiges Arschloch und du willst mich wirklich treten", feuert Wolz sie auf Englisch an. Doch so richtig hilft es nicht. Wieder kichert die 25-jährige Syrerin verlegen.

"Stell dir vor, ich bin ein richtiges Arschloch!"

Nach einer starken Stunde Praxis können die Teilnehmerinnen Fragen an die beiden Workshop-Macherinnen stellen. Betul will wissen, ob sie rechtlichen Ärger bekommen kann, wenn sie sich gegen Angriffe wehrt. Natürlich nicht, erklärt Wolz. Den bekomme man nur, wenn man mit unangemessener Härte rangehen würde, die weit über das nötige Maß hinausginge. In diese Situation komme man als durchschnittlich trainierter Mensch jedoch nicht. "Aha", sagt Betul und überlegt. Dann erzählt sie von ihrem "Ex-Husband", der zusammen mit ihren beiden kleinen Kindern in einer anderen Unterkunft wohnt und schon öfter übergriffig geworden sei. "Der kommt nicht damit klar, dass Frauen getrennt von Männern leben können, auch wenn man gemeinsame Kinder hat", sagt sie. Die übrigen Frauen schweigen.

Wolz und Wagner wissen, dass man ihre Trainingseinheiten wiederholen müsste, um etwas am Habitus der Frauen zu ändern. Doch die meisten Einrichtungen könnten sich solche Workshops einfach nicht leisten. Der Kurs im Haus Hohenfried wird finanziell gestemmt vom Flüchtlingsfreundeskreis in Rohr und der Türkischen Gemeinde. Vorerst bleibt er eine einmalige Sache. Am Ende bleiben immerhin drei Frauen im Stuhlkreis zurück, die aufmerksam zuhören, als Wolz und Wagner klar machen, dass sie ein Recht auf das Wort "Nein" haben – und ihm im Zweifel mit einem Tritt Nachdruck verleihen dürfen. "Wenn du mal richtig große Probleme hattest, wirst du manchmal sogar stärker", sagt Betul. Die beiden anderen Frauen nicken.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ute Lang
    am 02.08.2019
    Antworten
    Hallo kommt das Flüchtlingsheim nun weg?
    Wann läuft den der Vertag aus ?
    Brauchen Sie noch irgendwelche Spenden?

    Mit freundlichen Grüßen
    Fr. Lang
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