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Für breite Schichten der Bevölkerung

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 Fotos: Joachim E. Röttgers  

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Datum:

Am sozialen Wohnungsbau zeigt sich die Geschichte der Bundesrepublik: Bescheidene Anfänge, dann kam das Wirtschaftswunder. Anfangs griff der Staat stark in den Wohnungsmarkt ein, später zog er sich immer mehr zurück.

Bis zu 4000 Wohnungen für 12 000 Bewohner – davon die Hälfte Sozialwohnungen – waren 1990 am Viesenhäuser Hof im äußersten Nordzipfel Stuttgarts geplant: zu geschätzten Gesamtkosten von einer Milliarde D-Mark. Es gab einen Architektenwettbewerb. Archäologen fanden ein bandkeramisches Gräberfeld mit 247 Bestattungen aus der Zeit um 5000 vor Christus. Dann räumte die US-Armee Teile der Robinson Barracks und die Stadt entschied sich anders. Ab 1998 entstanden schließlich 3000 Wohnungen am Burgholzhof: Keine einzige davon gefördert.

Am Viesenhäuser Hof weiden heute immer noch die Pferde. Die Episode illustriert den Endpunkt des sozialen Wohnungsbaus, wie er die alte Bundesrepublik geprägt hatte. Nach dem Krieg waren die Städte zerstört, Kriegsheimkehrer, Heimatvertriebene und Displaced Persons verstärkten den Druck auf den Wohnungsmarkt. Der Staat arbeitete dagegen an, mit Wohnraumbewirtschaftung, Mietgrenzen, Kündigungsschutz und sozialem Wohnungsbau: "Für breite Schichten der Bevölkerung", wie es 1956 im zweiten Wohnungsbaugesetz hieß. Auf den Wiederaufbau folgte das Wirtschaftswunder. Auf kostengünstigen Grundstücken am Stadtrand wuchsen immer gigantischere Sozialsiedlungen in die Höhe.

"Fehler nicht wiederholen" 

Die Konzepte stammten von den modernen Architekten der 1920er-Jahre. Hatten aber die Trabantenstädte von Ernst May in Frankfurt noch Maß und Form, so wurden nun Großwohnsiedlungen wie die Gropiusstadt in Berlin, geplant für bis zu 50 000 Einwohner, schnell zu sozialen Brennpunkten. Von der "Unwirtlichkeit unserer Städte" schrieb der Soziologe Alexander Mitscherlich. "Schade dass Beton nicht brennt", lautete der Titel eines Films über die Berliner Hausbesetzerbewegung, die sich nicht nur für bezahlbare Wohnungen, sondern auch gegen die Flächensanierungen einsetzte.

Wer in Berlin die Abrisshäuser verlassen musste, zog ins Märkische Viertel. Dort stellte sich heraus, dass die Planer Läden und Restaurants, Schulen, Kindergärten und Spielplätze vergessen hatten. "Die Fehler der Trabantenstädte der 60er-Jahre werden nicht wiederholt", behauptete der Stuttgarter Baubürgermeister Hansmartin Bruckmann bei der Präsentation der Pläne für den Viehäuser Hof. Aber auch der Burgholzhof war anfangs mangelhaft an den öffentlichen Verkehr angebunden, und es dauerte sieben Jahre, bis eine türkische Familie einen kleinen Lebensmittelmarkt einrichten konnte.

Niedrigpreiskonzepte 

Zum 1. Januar 1990 hob dann die Bundesregierung das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz auf. Landeswirtschaftsminister Dieter Spöri förderte 1992 bis 1996 noch den Bau von bis zu 15 000 Mietwohnungen im Jahr. Nils Schmid, SPD-Parteigenosse wie er, ließ sich erst nach einer Legislaturperiode finanzpolitischer Zurückhaltung und auf Druck von Architektenkammer, Bauwirtschaft, Mieter- und Hausbesitzerverbänden zu einem Wahlversprechen von jährlich 5000 Sozialwohnungen hinreißen. Allein in Stuttgart stehen derzeit aber 4000 Haushalte in der Notfallkartei des Wohnungsamts. Hatte Stuttgarts Alt-OB Manfred Rommel noch in Sozialwohnungen investiert, so wollte sein Nachfolger Wolfgang Schuster zwar am liebsten die ganze Stadt umbauen, tat aber nichts für bezahlbaren Wohnraum. 

Um "den Beweis zu liefern, dass man mit modernen, technisch einwandfreien Baumethoden gute Wohnungen billiger als bisher bauen kann", schrieben das Bundeswohnungsbauministerium und die Economic Cooperation Administration (ECA) 1951 einen bundesweiten Wettbewerb aus. Aus Mitteln des Marshallplans mit 37,5 Millionen Mark gefördert, wurden in 15 Städten ECA-Siedlungen gebaut. Um zu garantieren, dass sie auch wirklich billiger würden, wurden Fixpreise vereinbart.

Die Bewohner der ECA-Siedlungen waren "zumeist Flüchtlinge, Ausgebombte und Kriegsversehrte", schrieb 1956 das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". Für James W. Butler, den Leiter der ECA, ging es darum, "die Entwicklung im sozialen Wohnungsbau beispielhaft zu fördern." Allerdings kam es in manchen Städten aufgrund der niedrigen Baukosten schon bald zu Problemen. Einige der Siedlungen wurden nach kurzer Zeit wieder abgerissen.

Die ECA-Siedlung am Heimberg in Stuttgart-Feuerbach, entworfen von den Architekten Gero Karrer und Max Hauschild, scheint dagegen recht gut erhalten. Laubengänge erschließen die 170 Mietwohnungen der fünf viergeschossigen Mietshäuser. Bauherr war die Hausbau Wüstenrot.

Besonders originell sind die 36 lärchenholzverschalten Einfamilien-Reihenhäuser in Schottenbauweise: Die 63 Quadratmeter Wohnfläche verteilen sich auf zwei Etagen vorn und, um ein halbes Geschoss versetzt, ein ebenerdiges Stockwerk hinten. Hier scheint die Forderung, ein "menschenwürdiges, glückliches und gesundes Leben zu finanziell ertragbaren Bedingungen" zu schaffen, erfüllt.

Die F-Bronx: An der Nordostecke Stuttgarts, zwischen Rot und Mönchfeld, wo zuvor schon Wohnhäuser für mehr als 20 000 Menschen erbaut worden waren, entstand 1963 bis 1969 der Stadtteil Freiberg: eine Großwohnsiedlung für mehr als 3000 Bewohner, entworfen vom Stadtplanungsamt unter der Leitung von Gustav Heyer mit zahlreichen weiteren Architekten. Über 100 Bauherren waren beteiligt, darunter etliche Genossenschaften.

Hoch hinaus: Der 70 Meter hohe Wohnblock "Julius Brecht", erbaut vom Bau- und Heimstättenwerk und der Baugenossenschaft Zuffenhausen, war seinerzeit das größte Wohnhochhaus Deutschlands. 440 Wohnungen verteilen sich auf die 22 Etagen des von dem Architekten Hans Max Brenner entworfenen Hochhauses. 

Der namensgebende Wohnbaufunktionär Julius Brecht war 1937 in die NSDAP eingetreten, um bald darauf Leiter des Reichsverbandes des deutschen gemeinnützigen Wohnungswesens zu werden. Von 1947 an SPD-Mitglied, wurde er 1951 Direktor des Gesamtverbandes gemeinnütziger Wohnungsunternehmen und war von 1957 bis zu seinem Tod 1962 Bundestagsabgeordneter. Eine 2014 von der Stadt Hannover eingesetzte Kommission kam zu dem Ergebnis, Brecht habe daran mitgewirkt, jüdische Mieter um ihre Rechte zu bringen.

Der Stadtteil Freiberg führt den Gedanken der autogerechten Stadt konsequent zu Ende: auf der Nordseite Parkplatz und Tiefgarage, zur Sonnenseite hin reiner Fußgängerbereich. Schon bald nach Fertigstellung des Hochhausblocks, im Januar 1970, kam aber auch die erste Straßenbahn in Freiberg an. Das einzige Problem: Freiberg, die F-Bronx, ist wie Mönchfeld und Rot ein Stadtteil für Unterprivilegierte.

1999 wurde Freiberg ins Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" für "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf" aufgenommen. Die ursprünglich grauen Häuser erhielten ihre heutigen Farben. Ein Bürgerbeteiligungsprojekt war bei reger Teilnahme gleichwohl mit dem Problem konfrontiert, "an marginalisierte Bewohnergruppen 'heranzukommen', die relativ isoliert leben (z. B. Ausländer mit Sprachproblemen)." 

Bereits in den 1990er-Jahren trafen in Stuttgart fast ebenso viele Neuankömmlinge ein wie im vergangenen Jahr: Flüchtlinge aus Jugoslawien, Aussiedler und Spätaussiedler. Wo sind sie geblieben? Den höchsten Anteil an Aussiedlern verzeichnet mit 21,5 Prozent der Stadtteil Hausen: am Rand eines Randgebiets, zwischen Weilimdorf und der Stadtgrenze. Alle Viertelstunde fährt ein Bus der Linie 90 zur S-Bahn, sonntagabends noch stündlich.

Vorwiegend Donauschwaben aus der Südbatschka (Južna Bačka) in der serbischen Provinz Vojvodina, deren Vorfahren vor 200 Jahren aus Süddeutschland ausgewandert waren, zogen ab 1948 in die schlichten, ein- bis fünfgeschossigen Häuser am Hausenring. 

Hausen, das Stiefkind: 1961 wurde die Siedlung, die bereits über 1000 Bewohner zählte, ein eigenständiger Stadtteil. Zwei Kindergärten, eine Poststelle und zeitweise auch eine Grundschule kamen erst später – durch das Engagement der Bewohner. 1983 liest man im Amtsblatt der Stadt Stuttgart, das Planungsamt erarbeite ein Konzept, um die Gesamtsituation der Siedlung zu verbessern".

Weiter heißt es dort: "In der Vergangenheit sind Einwohner von Hausen weggezogen, weil sie die isolierende Lage, mangelnde Infrastruktur und Wohnungsausstattung, das verbesserungsbedürftige Wohnumfeld und die einseitige Alters- und Sozialstruktur der Bewohner bemängelten." Der gewünschte Erfolg des Planungsamts-Konzepts ist aber offenbar nicht ganz eingetreten. Das Steh-Café steht jedenfalls schon wieder leer.

Wenn den Planern nichts Besseres einfällt oder sie kein Geld ausgeben wollen, malen sie die Häuser bunt an. Mag hier auch sonst nicht viel los sein, das viele Grün macht Hausen zu einem Stadtteil für Familien. Seit 1997 gibt es sogar eine Montessori-Schule. Und wer weg will, hat es nicht weit: Hausen liegt direkt an der Autobahnauffahrt und nicht weit von der S-Bahn-Station Weilimdorf entfernt.


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