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Paradies am Abgrund

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Berliner Vegetarier gründeten vor 123 Jahren die Obstbaukolonie Eden. Nazizeit und DDR hat die Siedlung halbwegs unkompromittiert überstanden. Den Anfang vom Ende brachten die Heilsversprechen des Kapitalismus nach dem Mauerfall. Nun ist das Paradies bedroht. Dabei sind die Impulse, die von Eden ausgingen, aktueller denn je.

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"Die Pioniere wissen immer, warum sie was machen", sagt Rainer Gödde, Archivar und Mitglied des fünfköpfigen Vorstands der Eden-Genossenschaft: "Ihren Kindern können sie das noch erklären. Aber die Enkel und Urenkel können nicht so richtig einschätzen, in welchem Paradies sie hier leben."

Das Paradies ist die Obstbaukolonie Eden am Rande Oranienburgs. 18 Vegetarier gründeten 1893 im Berliner Speisehaus Ceres die Eden-Genossenschaft. Ihr Ziel: "Unter Gleichgesinnten wohnen, den eigenen Bedarf an Obst und Gemüse in bester Qualität selbst anbauen, die Kinder recht gesund und frei aufziehen können und solchen Vegetariern, die mit ihrem vielleicht naturwidrigen, schädlichen Beruf unzufrieden waren, sowie auch ganz unbemittelten Gesinnungsgenossen eine Daseinsmöglichkeit auf naturgemäßer Grundlage schaffen."

Rainer Gödde ist in Eden geboren. Seine Großmutter, die Wiener Schauspielerin Anna Rubner, war in den 1920er-Jahren hierhin gekommen. Ihre Karriere als aufstrebender, aber auch aufmüpfiger Star der Berliner Bühnen war nach einer Vortragsreise plötzlich zu Ende. Sie gründete ein Geschäft für Reformkleidung und zog dann nach Eden, wo sie aus der bestehenden Theatergruppe ein beachtetes Laienensemble machte.

Gödde ist ein wandelndes Lexikon zur Geschichte der Kolonie. Er erzählt, wie vor einigen Jahren beinahe 26 laufende Meter Akten aus dem Genossenschaftsbüro entsorgt worden wären. Und dass zur Zeit der Weltwirtschaftskrise die Vorstände alle auf zehn Prozent ihres Gehalts verzichteten, um arbeitslosen Edenern durch die Anlage eines Bootshafens am Oranienburger Kanal über die Runden zu helfen.

Seine Familie zog noch in seiner Kindheit fort in die Oranienburger Neustadt. Erst kurz vor der Wende, lange nach dem Tod der Großmutter, kam er nach Eden zurück und lebt heute in ihrer einstigen Probe- und Studiobühne. Aus seiner Sicht hat die lange Abwesenheit seine Augen für die Besonderheiten von Eden geöffnet.

Eden war einmal großes Vorbild

Eden ist eine frühe Reformsiedlung, ein Vorbild für andere bis hin zum Mekka der Reformer, dem Monte Veritá bei Ascona. Als 1902 das anderweitig wegweisende Buch "Garden Cities of Tomorrow" von Ebenezer Howard erschien, gab es Eden bereits seit neun Jahren.

In Oranienburg, 30 Kilometer nördlich von Berlin, aber damals schon an die S-Bahn angeschlossen, hatten die Reformer ein Grundstück gefunden: 37 Hektar Schafweide, der Besitzer war mit einer zehnprozentigen Anzahlung zufrieden. Jeder Siedler sollte vom Ertrag seines Grundstücks leben können, nach neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen.

Auf den ersten Blick schien der märkische Sandboden wenig geeignet. 30 000 Zentner "Straßenkehricht", sprich Pferdemist, wurde auf Kähnen aus Berlin herbeigeschafft und mit Schubkarren auf die Felder verteilt. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Um 1900 standen in Eden 15 000 Obstbäume und 50 000 Beerensträucher. Damals hatte die Genossenschaft 150 Mitglieder, 1923 waren es 450.

Angefangen mit selbst gekochter Marmelade, baute Paul Schirrmeister den Obstverwertungsbetrieb auf, der bis zu 100 Mitarbeiter beschäftigte. Apfel- und Sauerkrautsaft, Marmeladen, Gelees und Kompotte, seit 1908 die von dem Arzt Friedrich Landmann entwickelte "Eden-Pflanzenbutter" und die pflanzliche Bratenmasse "Gesunde Kraft": Als einer der führenden Reformwarenhersteller in Deutschland machte Eden gegen Ende der 1920er-Jahre einen Jahresumsatz von fast drei Millionen Mark.

Eden erblühte: Auf eine Reformschule folgten ein Kur- und Erholungsheim mit Badehaus und angebauter Gaststätte, ein Kindergarten und eine Jugendherberge. Es gab eine kleine Bank, Vorläufer heutiger Institute wie der GLS-Bank. 16 Handwerker sowie Kaufleute, Beamte, Lehrer, Künstler und Musiker waren 1907 in Eden ansässig, darunter der Musikwissenschaftler Kurt Klindworth, dessen Stieftochter Winifred den Sohn Richard Wagners heiratete. Neben Theaterstücken fanden häufig Vorträge und Festveranstaltungen statt.

Eden war ein Zentrum der Innovation: Die Obstverwertungsanlage, die unter Dampf schonend naturtrüben Apfelsaft produzierte, hatte Gustav Lilienthal, der Bruder des Luftschiff-Pioniers, entwickelt. Der Architekt erfand auch Beton-Hohlblocksteine, aus denen acht Häuser in Eden erbaut sind. Eine Weltneuheit waren die innen emaillierten Tankbehälter für 10 000 Liter Saft. Heute ist nur noch einer vollständig erhalten.

Eine Oase in kapitalistischer Wüste

Eden war auch ein Motor gesellschaftlichen Wandels: Die drei abstrahierten Bäume im Markenzeichen stehen für Bodenreform, Lebensreform und Wirtschaftsreform. In Eden lebte der Bodenreformer Silvio Gesell, der Geld und Grundbesitz der Akkumulation und der Spekulation entziehen wollte. Seine Freiland- und Freigeld-Theorie erscheint heute als letzte Alternative zum gescheiterten Staatsmonopolkapitalismus im Osten und den globalen Finanzkrisen im Westen. In Eden sah Gesell seine Vorstellungen weitgehend verwirklicht.

"Hier ist der Beweis erbracht, dass Bedingungen geschaffen werden können, unter denen Menschen in leiblicher und seelischer Harmonie zu wirklicher Kultur aufleben können", schrieb der Nationalökonom Franz Oppenheimer: "Die kleine Siedlung blüht wie eine Oase inmitten der kapitalistischen Wüste."

Grundstücke sind in Eden Gemeinbesitz, zu einem moderaten Erbbauzins. Sie werden für 50 Jahre an Genossenschaftsmitglieder vergeben. Die Häuser sind dagegen Privateigentum: Um die notwendigen Reparaturen kümmern sich die Bewohner selbst. Zieht einer weg, kauft der Nachfolger das Haus und tritt in den Erbbauvertrag ein oder schließt einen neuen ab. 

In der Nazizeit nahm die Vegetariersiedlung selbst ihre Gleichschaltung vor. Anna Rubner, Kommunistin, musste "Totila" aufführen, ein Machwerk des Gauleiters Wilhelm Kube. Aber Bewohner jüdischer Herkunft wie der Bildhauer und christliche Prediger Wilhelm Groß, dessen Werke überall in Eden zu sehen sind, überstanden hier den Zweiten Weltkrieg. 

Die DDR förderte Genossenschaften, behinderte jedoch selbstständige Aktivitäten. Der Betrieb lief weiter, ohne expandieren oder sich erneuern zu können, 1972 wurde er verstaatlicht. Häuser von Edenern, die wegzogen oder ohne Erben verstarben, fielen ebenfalls an den Staat. Die meisten befinden sich heute wieder im Besitz der Genossenschaft.

Dann kam der Sündenfall

Nach dem Krieg gründete der Edener Kurt Großmann in Bad Soden im Taunus eine West-Tochter, welche die Reformhäuser belieferte. "Damals hat man sich in die Hand versprochen, dass, wenn die Grenze fällt, die Markenrechte wieder nach Eden zurückfallen", sagt Gödde. Doch als die Mauer dann fiel, verkauften die West-Genossen die Marke ausgerechnet an den Sandoz-Konzern. Aus Sandoz wurde Novartis, Eden ging an die De-Vau-Ge der Sieben-Tages-Adventisten und schließlich 2012 an Heirler Cenovis in Radolfzell, eine Tochter des Schweizer Konzerns Hügli. 

Der Verwertungsbetrieb fiel als Staatseigentum unter die Fittiche der Treuhand, die ihn wie fast alle Ostbetriebe für unwirtschaftlich erklärte und stilllegte. Die Genossenschaft war ihrer einstigen Haupt-Einnahmequelle beraubt. Von ihrem Anteil aus dem Verkauf in Bad Soden konnte sie Wohltaten finanzieren wie die Hundert-Jahr-Feier 1993 oder den Bau eines neuen Kindergartens mit bepflanztem Dach und der größten freitragenden Lehmkuppel Europas.

Der Sündenfall begann mit riskanten Kapitalanlagen. Infolge der Bankenkrise 2008 gingen der Genossenschaft 10 von 17 Millionen Euro verloren. Statt sich auf die ureigenen Werte zu besinnen, setzte der neue Vorstand externe Geschäftsführer ein. Ausgabenkürzungen, Grundstücksverkäufe und Erhöhung der Erbbauzinsen sollten die Finanzen sanieren. Die Geschäftsführer selbst kosteten die Genossenschaft 84 000 Euro im Jahr.

Mittlerweile schreibt die Genossenschaft wieder schwarze Zahlen. Sie hat allerdings Federn gelassen: Das Anlagevermögen ging seit 2011 um rund eine Million Euro zurück. Bibliothek und Volksküche gibt es nicht mehr. Die "Edener Mitteilungen", mit Unterbrechungen seit 1906 erschienen, sind von einem offenen Forum des Austauschs zu einem Mitteilungsblatt des Vorstands geschrumpft.

Zum Eklat kam es 2012, als eine "Apfeldemonstrationsanlage" mit seltenen alten Sorten parzelliert und an Bauwillige vergeben wurde. Dieter Eisenberger, leidenschaftlicher Gärtner und unmittelbarer Anlieger, warb mit acht anderen Edenern dafür, die Anlage selbst zu übernehmen. Eisenberger hat vor Gödde das Museum betreut. "Kein Wort des Dankes", moniert er. Wegen genossenschaftsschädigendem Verhalten drohte ihm der Vorstand sogar mit Ausschluss.

Eden hat seine Seele verkauft

Einige alte Edener sind damals aus Ärger ausgetreten. Nun will der Vorstand die Satzung ändern und Investoren an Land ziehen, um aus dem ehemaligen Obstverwertungsbetrieb ein Wohnprojekt zu machen. Auf dem Festplatz, wo 1932, als absoluter Höhepunkt in der Geschichte der Siedlung, der 8. Internationale Vegetarierkongress stattfand, droht ein Parkplatz zu werden. Alle gegenläufigen Bemühungen sucht der Vorstand mit allen Mitteln zu unterbinden.

Wie es scheint, hat Eden seine Seele verkauft. An der Straße steht ein mexikanisches Grillhaus. Die neue Geschäftsführerin Gabriele Haake, eine frühere Treuhand-Mitarbeiterin, stellt sich in den Edener Mitteilungen als "vierblättriges Kleeblatt" und "Immobilienkaufmann" vor. Am Ort der Freilandbewegung hält die Bodenspekulation Einzug. 

Mit Silvio Gesell hat sich der sonst so gut informierte Rainer Gödde noch nicht näher beschäftigt: Ein schwerwiegender Fehler. Denn die Ideen der Bodenreform sind heute so wichtig wie nie zuvor. Auch der Gedanke des nachhaltigen Wirtschaftens im Einklang mit der Natur, wie er in Eden bereits verwirklicht war, ist heute aktueller denn je. Nur an der Genossenschaftsspitze scheint dies vorbeigegangen zu sein.


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1 Kommentar verfügbar

  • Hein Gorch Hinse
    am 27.08.2019
    Antworten
    Mit dem Verein Ackerdemia in Potsdam gibt es hoffnungsvollen "Nachschub"
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