KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Kleinwohnhäuser mit Stallungen

Kleinwohnhäuser mit Stallungen
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Stuttgart braucht mehr bezahlbaren Wohnraum. Das Problem ist indes nicht neu: Am schlimmsten war es nach Inflation und Weltwirtschaftskrise in den 1920er- und 1930er-Jahren. Eine Schaubühne über die Geschichte des sozialen Wohnungsbaus.

Das Problem ist nicht erst durch die Flüchtlingskrise entstanden: Immer schwieriger wird es für Arbeitslose, Rentner, Studierende und Menschen mit niedrigem Einkommen, in einer Stadt wie Stuttgart eine bezahlbare Wohnung zu finden. Je mehr Menschen suchen, desto stärker steigen die Preise. Die unsichtbare Hand des Marktes treibt alle, die keine Wohnung finden, in die Randlagen, ins Umland oder auf die Straße – ohne Wohnbauförderung eine aussichtslose Situation.

Dabei verdanken einige der wichtigsten Akteure wie die Stuttgarter Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft (SWSG) sowie eine ganze Reihe ursprünglich gemeinnütziger Unternehmen, Genossenschaften und Vereine, die bis heute zu den größten Vermietern gehören, ihre Entstehung eigentlich der Wohnungsnot. In ihren Satzungen ist festgehalten, dass sie sich um bezahlbaren Wohnraum kümmern. Bei näherer Betrachtung besteht ein Großteil des Stadtgebiets, etwa weite Teile des Stuttgarter Ostens oder des Vororts Weilimdorf, aus Siedlungen, die gezielt erbaut wurden, um Einkommensschwachen eine Bleibe zu stiften.

Die schlimmste Zeit, von den beiden Weltkriegen abgesehen, waren die 1920er- und 1930er-Jahre. Die Inflation hatte 1923 Sparer enteignet und Grundbesitzer reich gemacht. Ausgelöst durch die französische Besetzung des Ruhrgebiets, druckte das Deutsche Reich Banknoten, was das Zeug hielt. Nach der Inflation ging die Konsolidierung auf Kosten der Arbeitnehmer – 1926 war mit 2,2 Millionen Arbeitslosen ein vorläufiger Höchststand erreicht –, aber auch des Mittelstands und der Beamten, die Stellenstreichungen und Gehaltskürzungen hinnehmen mussten.

Und es kam noch dicker: Nach dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 geriet die Weltwirtschaft ins Trudeln, 1932 war jeder dritte Deutsche arbeitslos. Zwar gab es seit 1927 eine Sozialversicherung, die half aber nur wenigen. Es fehlte an allem, nicht nur an Wohnungen. Die dritte Notverordnung des Reichskanzlers Brüning sah 1931 die Förderung von Kleinsiedlungen in Randgebieten vor. Mit verhältnismäßig niedrigen staatlichen Zuschüssen sollte die Wohnungsnot durch "Seßhaftmachung der Bevölkerung auf dem Lande" gelindert werden, um Arbeitslosen und Kurzarbeitern durch Kleintierhaltung und Gartenbau "den Lebensunterhalt zu erleichtern".

Solche Nebenerwerbssiedlungen gab es auch noch in der Nachkriegszeit. Vor allem Ostvertriebene, die von der einheimischen Bevölkerung oftmals angefeindet wurden, erhielten die Möglichkeit, sich in der ersten Zeit durch Subsistenzwirtschaft über Wasser zu halten. Siedler aus Osteuropa waren das Anpacken gewohnt und griffen zur Selbsthilfe.

1926 begann die Stadt Stuttgart, am Rand des Stadtteils Heslach 176 Reihenhäuser mit Kleinwohnungen für städtische Arbeiter und Angestellte zu errichten: das Eiernest. Hier gab es drei Wohnungstypen: mit zwei Zimmern und 54 Quadratmeter Wohnfläche, drei Zimmern und 58 Quadratmeter sowie vier Zimmern und 60 Quadratmeter. Zu jedem Haus gehörte ein ungefähr 130 Quadratmeter großer Garten.




Frau Lebzelter lebt seit 1970 im Eiernest und fühlt sich hier sehr wohl. Ihr Schwiegervater war einer der ersten Bewohner. Badezimmer gibt es erst seit einer Renovierung der gesamten Siedlung um 1980.

Eigentum im Grünen: Seit 2004 hat die SWSG 110 der 176 Häuser verkauft. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Mieterbeirat kam es zu folgender Einigung: Verkauft wird nur, wenn ein Mieter wegzieht oder verstirbt. Bewohner der Siedlung haben Vorkaufsrecht. Nur wenn sich kein Käufer im Eiernest findet, kommen auswärtige Interessenten zum Zug.

1902 veröffentlichte der englische Architekt Ebenezer Howard das Buch "Garden Cities of Tomorrow". Unmittelbar anschließend gründete sich die Deutsche Gartenstadtgesellschaft. Schon bald bauten Theodor Fischer und Paul Bonatz, die führenden Stuttgarter Baumeister, in Reutlingen und Friedrichshafen Werkssiedlungen als Gartenstädte. In Stuttgart setzte sich der Gedanke erst aufgrund der Wohnungsnot durch: Holzhäuser waren schnell und billig zu errichten.

Als gut erhaltene Arbeitersiedlung steht das Eiernest seit 1986 unter Denkmalschutz. 2010 wurde ein Denkmalpflegeplan erstellt. Auf Drängen des Denkmalamts nahmen 30 Mieter bauliche Veränderungen wieder zurück, sodass die Siedlung heute einheitlich dem Erscheinungsbild und den Farbtönen der Bauzeit entspricht.

Die Siedlung Wolfbusch bei Weilimdorf entstand ab 1932 auf der Grundlage der Brüning'schen Notverordnungen. Die Stadt stellte das Grundstück den Mietern, zumeist Arbeitslose und Kurzarbeiter, im Erbbaurecht zur Verfügung, um dort im Selbstbau kleine ein- bis zweigeschossige Wohnhäuser zu errichten.

Bauträger war die Stuttgarter Siedlungsgesellschaft (SSG), die sich 1933 mit dem Vorsatz gegründet hatte, "auf gemeindeeigenem, an den Stadträndern gelegenem Gartenland Kleinwohnhäuser mit Stallungen zu errichten und den Erwerbslosen dort mit ihren Familien gleichzeitig Heimstatt, Existenzsicherung und eine nutzbringende Tätigkeit zu bieten, indem man u. a. die Bewirtschaftung einer Siedlerstelle gegen geringen Miet- oder Pachtzins überließ." Weitere Kleinsiedlungen baute die SSG in Steinhaldenfeld, Hoffeld und Neuwirtshaus.


Wolfbusch besteht aus fast 350 Einfamilienhäuschen. Aus der SSG wurde 1991 die SWSG, die 2012 angefangen hat "nachzuverdichten". Das heißt, einzelne Häuser abzureißen und durch größere zu ersetzen. Sehr zum Verdruss der alteingesessenen Bewohner, die bisher keine Parkplatznöte kennen.

Der Besitzer dieses Hauses ist 96 Jahre alt und lebt von Anfang an in der Siedlung. Es gibt einen Verein, die Siedlergemeinschaft Wolfbusch mit 175 Mitgliedern, die seit 1975 die Wolfbusch-Hocketse veranstaltet. Nach vorübergehender Notlage funktioniert seit 2015 auch wieder die Grundversorgung: Zuerst kam ein Wochenmarkt, nun ist auch der kleine Supermarkt wieder in Betrieb.

Viel Rasen zu mähen: Zu jedem Haus gehören 6 Ar Grundstücksfläche, die ursprünglich der Selbstversorgung dienten. Ein Kleintierstall gehörte zwingend zur Ausstattung staatlich geförderter Kleinsiedlungen.

Auch Büsnau besteht zu großen Teilen aus kleinen Einfamilienhäuschen. Gebaut wurde die Siedlung ab 1946 von der Buchenländer Siedlungsgenossenschaft. Buchenland, das ist die Bukowina, die nach dem Ersten Weltkrieg von Österreich-Ungarn an Rumänien fiel und deren Nordhälfte die Sowjetunion 1940 besetzte. Bald darauf einigten sich Moskau und Berlin, die deutschstämmige Bevölkerung ins Deutsche Reich umzusiedeln.

Die idyllische Lage zwischen Wald und Feldern, Bärensee und Katzenbachsee verdankt Büsnau allerdings eher der feindseligen Stimmung in der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen aus dem Osten. Und dem Umstand, dass die Stadt der Genossenschaft weit außerhalb am Waldrand gelegene Grundstücke zur Verfügung stellte.

Die ersten Anfänge liegen sogar noch weiter zurück. Ursprünglich war 1938 eine SA-Siedlung geplant, die jedoch nach Kriegsbeginn ins Stocken kam. Dies hat der achtzigjährige Richard Weber 2014 in einer kleinen, mittlerweile vergriffenen Broschüre festgehalten. Weber lebt seit seinem fünften Lebensjahr 1939 in Büsnau.


Es gibt auch einige mehrgeschossige Wohnblocks, die heute von der Vereinigten Filderbaugenossenschaft verwaltet werden, die 1975 aus dem Zusammenschluss der Buchenländer Siedlergenossenschaft mit der Selbsthilfe Möhringen entstand. Sie hat 1250 Mitglieder und besitzt insgesamt 1003 Wohnungen, 461 davon in Büsnau.


Nachbarschaft im Grünen: Wegen der traumhaften Lage, der Nähe zur Universität und der guten Anbindung an den Straßenverkehr ist Büsnau zu einem begehrten Wohnort geworden, dem seine Entstehung in einer schwierigen, entbehrungsreichen Zeit freilich immer noch anzusehen ist.


Fortsetzung folgt.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

  • Demokrator
    am 25.05.2016
    Antworten
    Dieser Artikel ist einer der (besten) Gründe, warum man jede Woche den Kontext liest! :)
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!