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#VillaLügenstein

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Hunderte friedliche Demonstranten sind 2010 bei dem brutalen Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten verletzt worden. Damals hat die CDU regiert. Nun hat sich Winfried Kretschmann stellvertretend bei den Verletzten entschuldigt. Eine Schaubühne.

Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Linken und der Parkschützer, wusste schon im Vorhinein, dass "die Geste kleingeistig bleibt". Vor allem aber hätte das Treffen – drei Monate vor der Landtagswahl – in einen bloßen PR-Termin kippen können, zumal für den Gastgeber. 

Schon unten auf der Richard-Wagner-Straße, vor dem martialischen Tor des Staatsministeriums, wo sich drei Dutzend Stuttgart-21-Gegner und -Gegnerinnen versammelt haben, wird heftig darüber diskutiert an diesem denkwürdigen Nachmittag, ob sich ein Ministerpräsident überhaupt für einen anderen entschuldigen kann. Oder darüber, warum Winfried Kretschmann nicht früher auf die Idee gekommen ist, "endlich mit uns das Gespräch zu suchen", wie eine Frau seufzt. Einig sind sich die meisten, dass er am 13. März 2016 ihre Stimme nicht (mehr) verdient hat. Ein Demonstrant outet sich als "schwankend" – denn dass der CDU-Wolf regiert, das könne doch auch keiner wollen. 

Hier hat Kretschmann keine Freunde, hier sind Politiker grundsätzlich unten durch. Auf die Frage, was er denn erwartet da oben in der Villa Reitzenstein, zuckt Dietrich Wagner die Schultern. "Besser spät als nie", sagt er. Eine Parkschützerin wirft ein, dass sich der grüne Ministerpräsident mit einer Entschuldigung für September 2010, stellvertretend für die damals regierende CDU, bloß drücken wolle vor einer Entschuldigung für die endgültige Räumung des Schlossgartens im Februar 2012. Damals, und da regierte Kretschmann schon, habe es zwar keine Verletzten gegeben, aber es sei ruppig zugegangen, Polizisten hätten provoziert und die Leute herumgeschubst.

Dietrich Wagner nimmt Kretschmanns Entschuldigung an

Oben in der 100 Jahre alten Villa ist weiß eingedeckt. In der Bibliothek, vor 63 Jahren das Arbeitszimmer von Reinhold Maier, dem einzigen FDP-Regierungschef in der deutschen Nachkriegsgeschichte, sind beide Seiten spürbar angespannt. Die Gäste haben einen Fragenkatalog mitgebracht und wollen wissen, warum das grün-rote Versprechen der anonymisierten Kennzeichnung von Polizeibeamten in Großeinsätzen gebrochen wurde. Eine Frau sagt, sie sei gespannt, "wie Kretschmann sich gibt". Vorab hat das Staatsministerium wohlgesetzte Worte an die Medien verschickt: Die Ereignisse könnten nicht ungeschehen gemacht, die körperlichen Wunden nicht geheilt werden: "Wir können uns nur für das Geschehen aufrichtig entschuldigen." An der Kritik, der MP hätte sich früher an die Opfer wenden müssen, ändert das nichts.

Wagner nimmt Kretschmanns Entschuldigung an, stellvertretend für alle Verletzen. Eine formale Legitimation hat er dafür nicht, aber die natürliche Autorität dessen, der durch die schwere Augenverletzung eine zentrale Figur des Widerstands gegen den Tiefbahnhof wurde. Edmund Haferbeck, der am 30. 9. ebenfalls verletzt wurde, macht kein Hehl daraus, dass ihn der Regierungschef beeindruckt hat. Weshalb er ihn auch spontan einlud, wieder einmal auf einer Montagsdemo zu reden. Der Schwarze Donnerstag habe sich tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt, zitiert er Kretschmann. Das Vertrauen in den Rechtsstaat sei auf schlimme Weise beschädigt worden, sagt Haferbeck.

Der Ministerpräsident erinnert sich seinerseits: "Fassungslos" habe er im Schlossgarten das Geschehen miterlebt. Damals war er ein Kämpfer gegen Stuttgart 21, heute ist er Regierungschef im dunklen Anzug. Und für viele ein Verräter. "Oben bleiben!" rufen die, die auf der Richard-Wagner-Straße vor der Tür ausharrten. 

#VillaLügenstein heißt es bald im Netz. Virtuell wird heiß debattiert über das Treffen hoch über dem Talkessel. "Kam gerade in der Landesschau. Seltsames Gefühl. Lauter persönlich bekannte Gesichter im Fernsehen", notiert eine Userin. Einen anderen plagt die Frage, ob "die Grünen jetzt wieder wählbar sind". Die Antworten kommen schnell und reichlich. Wirklich überraschend sind sie nicht.


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19 Kommentare verfügbar

  • Peter S
    am 29.12.2015
    Antworten
    Als einer der vielen unterschlagenen Geschlagener und Angesprühter: Bei mir hat sich keiner der Verantwortlichen versucht zu entschuldigen und Kretschies Manöver wird von mir als zu leicht gewogen.
    Too little too
    Die Gründe sind vielfältig dargelegt worden.
    Wie sich Merkels marktkonforme…
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