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Schmuddel statt Schmuck

Schmuddel statt Schmuck
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Das Leonhardsviertel, Stuttgarts einziges komplett erhaltenes Altstadtquartier, könnte ein Schmuckstück sein. Doch es ist zur Schmuddelecke verkommen. Nun geht die Stadt gegen illegale Bordelle vor. Doch sie hat selbst zum Verfall beigetragen.

Wenn Stuttgarter von ihrer Altstadt – oder liebevoll vom "Städtle" – reden, meinen sie nicht etwa das historische Stadtzentrum. Denn davon sind nur noch eine Handvoll wiederaufgebaute Repräsentationsbauten übrig. Sie meinen die frühere Leonhardsvorstadt, die sich heute in Bohnen- und Leonhardsviertel teilt. Das Bohnenviertel, so genannt, weil in früheren Zeiten die Bewohner im Garten Gemüse anbauten, sollte Anfang der 1970er-Jahre abgerissen werden. Da der Denkmalschutz damals Aufwind hatte, wurde stattdessen eine Sanierung beschlossen, die allerdings auf eine Mischung von Alt- und Neubauten hinauslief. Nur im Leonhardsviertel steht noch flächendeckend die historische Substanz.

Ein Rotlichtviertel ist das Quartier schon lange. Im legendären Finkennest hingen früher voluminöse Damenunterhosen als Lampenschirme von der Decke. Neu ist, dass es sich überwiegend um Armutsprostitution handelt. In die Jakobstraße 3 sollte einmal das Ungarische Kulturinstitut einziehen. Als die Ungarn merkten, in welche Umgebung sie geraten waren, suchten sie sich einen besseren Ort in schöner Halbhöhenlage. Heute sind es vor allem Ungarinnen, Bulgarinnen und Rumäninnen, die in Stuttgarts Altstadt anschaffen gehen. Ihre begrenzten Einnahmen teilen sich Zuhälter, Pächter und Vermieter. Für die Frauen, die sich auf den verzweifelten Weg nach Mitteleuropa gemacht haben, um daheim ihre Familie zu ernähren, bleibt nur wenig übrig.

Die Hausbesitzer machen sich nicht unbedingt selbst die Finger schmutzig. Manch einer will gar nicht gewusst haben, was da in seinem Haus vor sich geht. Die Verantwortlichen sind schwer zu fassen. Denn die Prostitution im Leonhardsviertel geschieht illegal, bestenfalls in einer Grauzone. 150 Euro pro Tag verlangen sie für ein Zimmer: Bei einem Haus mit zehn Zimmern sind das mehr als 200 000 Euro im Jahr. In die Bausubstanz investieren die Besitzer nicht, oder wenn, dann nur um barocke Fassaden unter einer dicken Schicht billigsten Dämmputzes verschwinden zu lassen.

Ungefähr die Hälfte aller Häuser des Leonhardsviertels steht unter Denkmalschutz. Das ist viel, letztlich aber völlig inkonsequent. Während in der Calwer Straße 1976 erstmals eine "Gesamtanlage" unter Ensembleschutz gestellt wurde, von der allerdings nur die Fassaden erhalten blieben, steht im Leonhardsviertel die Bausubstanz noch.

Doch die Hälfte war den Denkmalschützern offenbar nicht gut genug: So steht von einer Gruppe von Arbeiterhäusern, die der berühmte Architekt Theodor Fischer 1906 errichtet hat, nur der prominentere Kopfbau der Leonhardstraße mit der Hausnummer 13 unter Schutz, die Nummer 11 nebenan nicht. Auch unter den älteren Häusern der Leonhardstraße sind nur vier geschützt, zwölf nicht: eine Einladung an Puffbesitzer, ihre Immobilien herunterzuwirtschaften.

Seit zehn Jahren kämpft Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle einen zähen Kampf gegen den Verfall der Gebäude, gegen illegale Bordelle, aber oft auch gegen die Stadtverwaltung, die durch den Verkauf vieler Häuser selbst maßgeblich zu der Entwicklung beigetragen hat. Seit die Stadt 2001 Schienengrundstücke im Vorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs für 459 Millionen Euro erwarb, hat sie sehr viele andere Grundstücke abgestoßen, um die Bilanz auszugleichen. 650 Millionen Euro hat sie damit in den folgenden zehn Jahren zwischen 2002 und 2011 eingenommen. Dazu haben auch mehrere Häuser im Leonhardsviertel beigetragen, die früher der städtischen Wohnungsgesellschaft SWSG gehörten und gegen deren Besitzer die Stadt seither wegen illegalem Bordellbetrieb klagt.

Seit einiger Zeit gibt es eine Bürgerinitiative, die kürzlich zum zweiten Mal ein sogenanntes <link http: www.die-anstifter.de veranstaltungen unsere-altstadt-darf-nicht-vor-die-hunde-gehen-2-schmuddel-bankett _blank external-link>Schmuddelbankett veranstaltet hat. Auf sie setzt Kienzle ihre Hoffnung: auf seriöse Kneipenwirte, auf Vermieter, die Wohnungen meinen, wenn sie von Wohnungen sprechen, auf Bewohner des Quartiers und Altstadt-Originale wie den Maler Jürgen Leippert, der im Eckgebäude am Leonhardsplatz sein Atelier hat. "Nichts gegen das Rotlichtmilieu", stellt die Bezirksvorsteherin klar: "Es geht um die Altstadt: ein einvernehmliches Nebeneinander von Milieu und Nichtmilieu."

"Der Schatten" am Eingang zur Leonhard- und Jakobstraße. Der Besitzer, ehemals CDU-Bezirksbeirat, Mitglied der Synode der Evangelischen Landeskirche und der Christusbewegung "Lebendige Gemeinde", geriet vor drei Jahren in die Schlagzeilen, weil in seinen Häusern Prostitution stattfand. Damals gehörten das Haus Leonhardstraße 1 und die Nachbargebäude Jakobstraße 2 und 4 zur Hälfte ihm, zur anderen Hälfte seinem inzwischen verstorbenen Vater. Inzwischen hat er zu renovieren begonnen und will das Haus den Altpietisten (Apis) übergeben, die daraus ein "Hoffnungshaus" machen wollen, das "gefallenen Mädchen" hilft, auf den Pfad der Tugend zurückzufinden.

"Der Schatten" hat inzwischen seine Fensterläden geschlossen. Über der Tür eine reich verzierte Kartusche mit der Jahreszahl 1769, den Initialen des Erbauers Carl Friedrich Wölfle und einem Wappen mit zwei gekreuzten Schlüsseln, dem Zunftzeichen der Schlosser.

Während sich das ganz kleine, anschließende Haus in der Jakobstraße 2 weiterhin in einem erbärmlichen Zustand befindet ...

... hat der Besitzer das Haus Jakobstraße 4 mittlerweile an die Stadt verkauft. Und schon geht die Rede von einem Gutachten, demzufolge das nicht denkmalgeschützte Gebäude angeblich nicht zu erhalten sei. Es wäre ein Präzedenzfall: Von Abrissen ist das Leonhardsviertel bisher verschont geblieben. Macht der Rückkauf der Stadt alles nur noch schlimmer?

Leo 6: Dieses stattliche, aber nicht denkmalgeschützte Haus, früher vermietet von der SWSG, hat die Stadt 2009 verkauft und im Jahr darauf sogleich gegen den neuen Besitzer geklagt: Obwohl dieser eine Nutzungsbeschränkung akzeptiert hatte, dient das Haus seither als Bordell. Nun hat das Landgericht entschieden: Das illegale Bordell ist zu schließen, wenn nicht, droht eine Strafzahlung von bis zu einer Viertelmillion Euro. Nach Berechnungen des städtischen Anwalts braucht der Besitzer ungefähr 15 Wochen, um mit dem Bordell so viel Geld zu verdienen. Fünf Jahre lang hat er den Prozess schon mit allen möglichen Tricks verschleppt, nun ist damit zu rechnen, dass er Revision einlegt. Ein erprobtes Verfahren: Das Haus Leonhardstraße 16, früher ebenfalls SWSG, hatte derselbe Eigentümer bereits 2007 erworben. 2010 unterlag er vor Gericht, doch erst 2012 war Schluss mit dem horizontalen Gewerbe.

"Girls, Girls, Girls" wirbt ein Schild an der Fassade des Gebäudes Leonhardstraße 8, in dem Peter Grohmann und Freunde 1964 den Club Voltaire eröffneten. Vom charismatischen Altlinken Fritz Lamm bis zum jungen Joschka Fischer traf sich dort die oppositionelle Intelligentsia. Prostitution ist hier schon seit 2005 untersagt. Und doch hatte der Eigentümer die Chuzpe, auf Bestandsschutz zu klagen. Nun ist der Besitzer von sechs Häusern im Viertel gestorben. Das Gebäude Weberstraße 3 hat die Tochter sorgsam renovieren lassen. Es beherbergt jetzt die neue In-Kneipe Paul & George.

... innen pfui: Die Hinterhöfe des Leonhardsviertels, mit einzelnen Bäumen und historischem Kopfsteinpflaster, könnten ein Idyll sein, wo zehn Meter von der Hauptstraße entfernt behütet Kinder spielen. Im gegenwärtigen Zustand sind sie bestenfalls Parkplatz, schlimmstenfalls Müllhalde.

In der Weberstraße 5 a befand sich bis 2014 ein illegales Bordell. Zu einer hohen Strafzahlung verurteilt, zog der Besitzer es vor, das kleine Handwerkerhaus mit zehnjährigem Vertrag an die Caritas zu vermieten, die dort eine Pension für Männer einrichtet, die Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden.

Vom Hotel Türmle aus, früher ebenfalls eine Pension für wohnsitzlose Männer, breitet sich die Prostitution wieder im Bohnenviertel aus, wo sie mit der Sanierung der 1970er-Jahre eigentlich verschwunden war.

Zimmer ab 55 Euro, Kinder bis sechs Jahre frei im Zimmer der Eltern: So steht es auf dem Preisschild am Hotel Türmle. In Wirklichkeit kosten die Zimmer 150 Euro, und was dort geschieht, ist ganz und gar nicht jugendfrei.

Veronika Kienzle bereitet das Leonhardsviertel viel Kopfzerbrechen. Drei Wochen nachdem sie 2004 erstmals zur Bezirksvorsteherin Mitte gewählt wurde, bemerkte sie auf einem Spielplatz im Zentrum der Altstadt junge Strichmädchen, die sich mit Heroin vollpumpten. Von dem Moment an war ihr klar, dass sie etwas für das Quartier tun müsste.

Die Häuser in der Weberstraße 6 und 8 gehören den Hells Angels. Mit ihnen hat Kienzle keine Probleme. Am Wirtshausschild hängt ein Galgenstrick, in Anspielung auf die Historie: Rückseits verläuft die Richtstraße, der Weg zum Scharfgericht. Die Rocker halten ihr Vereinsheim gut in Schuss. Es gibt Handwerker unter ihnen, wie die neu angefertigten, schmiedeeisernen Fenstergitter zeigen.

Buntes Durcheinander: Auf das Vereinsheim der Hells Angels folgen die Champain Bar und dann die Geschäftsstelle des Verschönerungsvereins und des Schwäbischen Heimatbunds: Die beiden Häuser mit den Adressen Weberstraße 2 und Richtstraße 3 haben eine lange Geschichte: Entstanden zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, waren sie, 1993 angeblich abbruchreif, die ersten im Leonhardsviertel, die dann bis 1996 denkmalgerecht saniert wurden.

Muss das sein? Die Champain Bar in der Weberstraße 4 lockt mit grellem Gelb und gar nicht ortstypischem, rundbogig ausgemauertem Türgewände. Es handelt sich um ein denkmalgeschütztes Gebäude aus dem 17. Jahrhundert.

Beginn eines Umdenkens? Das Haus Hauptstätter Straße 49 mit dem Café Mistral hat die Stadt zurückerworben. Der Bau aus dem 17. Jahrhundert war einmal städtisches Armenhaus. Einer Renovierung stehen einstweilen noch langjährige Pachtverträge entgegen. Zwei Häuser weiter in der Hauptstätter Straße 45 – ebenfalls eine städtische Immobilie – hat soeben die neue Szenekneipe "Immer Beer Herzen" eröffnet.


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5 Kommentare verfügbar

  • Andreas Karl
    am 10.09.2015
    Antworten
    Solange die Stadt Stuttgart an der Vermietung der Häuser für die Armutsprostitution direkt oder indirekt dran verdient, wird sich nichts ändern. Die Stadt sollte ein Konzept erstellen, wie das gesamte Areal inklusive Bohnenviertel-Leonhardsviertel erschlossen und attraktiver gemacht werden kann.…
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