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Von St. Pauli lernen

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Gegen Immobilienspekulation helfen keine Argumente. Aber der Kampf muss nicht aussichtslos sein. Das zeigt das Beispiel der Esso-Häuser an der Hamburger Reeperbahn. Dort plant der Investor inzwischen Sozialwohnungen nach Wünschen der Anwohner.

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Die Esso-Tankstelle am Hamburger Spielbudenplatz war Legende. 1949 in der Mitte der Reeperbahn als erste nachkriegsdeutsche Station des Mineralölkonzerns erbaut, tankten Nachtschwärmer hier nicht nur rund um die Uhr Sprit, sondern auch preisgünstige Getränke, kauften frische Brötchen, reinigten ihr Auto in einer der ersten Waschanlagen des Landes oder parkten in der zugehörigen Tiefgarage. Direkt dahinter errichtete der Pächter der Tankstelle, Ernst Schütze, um 1960 zwei achtgeschossige Wohnbauten mit 110 Wohnungen, seinerzeit ein Vorzeigeprojekt. 1997 gelang es dem Sohn, die Grundstücke vorzeitig aus dem Erbbauvertrag zu lösen und zu einem Spottpreis von 9,4 Millionen D-Mark zu erwerben. Zwölf Jahre später erhielt er dafür von der Bayerischen Hausbau GmbH (BHG) das Vierfache: 18,9 Millionen Euro.

Ohne Umschweife stellte der neue Besitzer die Mieter 2009 vor die Alternative, entweder einen neuen befristeten Vertrag zu unterschreiben oder sofort auszuziehen. Die Strategie war klar: entmieten und neu bauen, mit hohem Gewinn. Nebenan begann gerade der Bau der "Tanzenden Türme" – Bürohochhäuser des Strabag-Konzerns – und eines Viersternehotels der österreichischen Arcotel-Kette: "Als Ausgangspunkt zur Erkundung des Hamburger Nachtlebens ist diese Adresse kaum zu toppen", meldete "Die Welt" 2012 zur Eröffnung.

Ursprünglich der Ort vor den Toren der Stadt, ist St. Pauli traditionell keine bevorzugte Wohnlage. Doch seit geraumer Zeit sind im gesamten Stadtteil Verdrängungsprozesse im Gang. Nun sollten mitten im Herzen des Kiez abermals sozial Schwächere vertrieben werden. Es bildete sich eine Mieterinitiative, die informierte, beriet und für Öffentlichkeit sorgte.

Beliebte Spielchen abbruchwilliger Immobilienbesitzer

Die Bewohner von St. Pauli gelten als rebellisch. Bekannt ist der Fall der in den 1980er-Jahren besetzten Häuser an der Hafenstraße. Damals erzielte die CDU bei den Bürgerschaftswahlen noch 30 Prozent, 2011 waren es nur noch 5,8, vier Jahre später gar nur 4,1 Prozent. Stärkste Fraktion ist seit 2015 Die Linke. Das zeigt, wie der Stadtteil tickt. Die Bewohner der Esso-Häuser wollten sich die Vertreibung nicht bieten lassen.

Nun begann das Tauziehen: auf der einen Seite Mieterversammlungen und Verhandlungen mit der Stadt. Auf der anderen Seite arbeitete die BHG mit immer härteren Bandagen: Sie ließ Glasbausteine der Treppenhäuser wegen "erheblicher Mängel" mit Brettern vernageln, stützte demonstrativ angeblich einsturzgefährdete Balkone mit Holzlatten und die Tiefgarage mit 1600 Stahlstützen ab.

Ein beliebtes Spielchen bei abbruchwilligen Hausbesitzern. Auch die Allianz hat im Stuttgarter Westen einmal die Fassaden zweier heute schmuck restaurierter Altbauten mit Holzkonstruktionen abstützen lassen, um den Eindruck zu erwecken, die Standsicherheit sei gefährdet. Das war in den 1980er-Jahren. Doch bei der Organisation der Gemeinderatsmehrheiten ging etwas schief: Eine hauchdünne Mehrheit verpflichtete die Versicherung, die Häuser instand zu setzen.

Kurz vor Weihnachten 2013 spürten einige Mieter der Esso-Häuser plötzlich nachts eine Erschütterung, deren Ursache bis heute ungeklärt bleibt. Sie verständigten die Polizei – mit dem Ergebnis, dass alle evakuiert wurden. Der Vermieter hatte gewonnen. Ein halbes Jahr später begann der Abriss. Stunk gab es zeitgleich auch an anderer Stelle: In derselben Dezemberwoche forderte der Besitzer des Kulturzentrums Rote Flora im benachbarten Sternschanzenviertel ultimativ dessen Räumung. Er wollte das 1989 besetzte Stadtteilzentrum abreißen und stattdessen einen sechsstöckigen Bau mit Konzerthalle für 2500 Besucher errichten.

Eine Klobürste wird zum Symbol des Aufstands

Am 21. Dezember 2013 demonstrierten rund 10 000 Hamburger für die Rote Flora, für die Esso-Häuser und für Flüchtlinge aus Lampedusa. Als die Polizei die Kundgebung auflöste und die Teilnehmer einkesselte, eskalierte der Konflikt. Am 4. Januar 2014 erklärte die Polizei das gesamte Gebiet der Stadtteile St. Pauli, Sternschanze und Altona zur Gefahrenzone: rechtswidrig, wie das Hamburger Verwaltungsgericht später feststellte. 80 000 Anwohner konnten jederzeit angehalten, durchsucht und verhaftet werden. Als am 7. Januar in der "Tagesschau" zu sehen war, wie bei einer Polizeikontrolle eine Klobürste beschlagnahmt wurde, avancierte diese zum Symbol des Aufstands, der als Klobürstenrevolution in die Geschichte eingegangen ist.

Am 8. Februar verabschiedete eine Stadtteilversammlung im Ballsaal des FC St. Pauli eine Resolution. Sie forderte ein Bleiberecht für Flüchtlinge und ein Rückkehrrecht der Mieter. Wenige Tage später begann der Abriss der Esso-Tankstelle. Doch die aus ihren Wohnungen vertriebenen Mieter gaben nicht auf. Ende April 2014 stellten die Initiative und weitere Aktive auf dem Spielbudenplatz das Konzept der PlanBude vor: ein Container als Anlaufstelle, wo die Anwohner ihre Wünsche und Vorstellungen einbringen könnten.

Federführend waren Künstler und Architekten, die bereits mehr als zehn Jahre zuvor einen beachtlichen Erfolg errungen hatten: Mitte der 1990er-Jahre sollte der Antonipark am Elbufer zwischen St. Pauli und Altona überbaut werden. Bedroht war auch der Golden Pudel Club von Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun, Heimstätte der "Hamburger Schule" des neuen, deutschsprachigen Post-Punk. Die Gruppe Park Fiction, 2001 auf der Documenta in Kassel vertreten, erreichte schließlich, dass der Club erhalten blieb und der Park ab 2003 abschnittsweise in neuer Gestaltung wiedereröffnet wurde. Christoph Schäfer gehörte zu den Hauptbeteiligten, Margit Czenki drehte darüber einen Film. Beide waren nun auch an der Konzeption der PlanBude beteiligt.

Wunschproduktion heißt der zentrale Begriff, an dem sich Schäfer, Czenki und Mitstreiter orientieren. Auf Papier, in Zeichnungen und Worten und mit Legosteinen waren die Besucher der PlanBude aufgefordert, ihre Vorstellungen zur Stadtentwicklung zu artikulieren. Eine Bürgerbeteiligung von unten, selbst organisiert von der Mieterinitiative mit Künstlern, Architekten und Sozialarbeitern.

Die Ergebnisse sind nun im Württembergischen Kunstverein (WKV) zu besichtigen, in einem von drei "Salons", wie sie im vergangenen Jahr in der Wiener Sezession ausgestellt waren. Die beiden anderen Salons beschäftigen sich mit dem Thema Fluchthilfe sowie mit Flamenco, Sinti und Roma in Spanien und Osteuropa.

Erst nachdem die Esso-Häuser im Juni 2014 abgerissen waren, ließ sich die Stadt auf die Bürgerbeteiligung ein. Wohl auch wegen der verheerenden Außenwirkung der Gefahrenzone und aufgrund der Wahlergebnisse. Im Oktober 2014 begann der Prozess. Seit Mai 2015 stehen die Ergebnisse fest: Gebaut werden zu 60 Prozent geförderte Wohnungen, überwiegend Sozialwohnungen, zum kleineren Teil solche für Baugemeinschaften. Der Rest sind frei finanzierte Mietwohnungen. Eigentumswohnungen sind nicht vorgesehen.

Erstaunlicherweise haben sowohl die Stadt Hamburg als auch die Bayerische Hausbau dies akzeptiert. Auch im Fall der Roten Flora zeigten die Proteste Erfolg. Der Investor, der nach den eidesstattlichen Erklärungen zweier Wachleute diese hatte anstiften wollen, das Gebäude in Brand zu setzen, ging pleite. Die Stadt Hamburg kaufte das Anwesen zurück. 25 Jahre nach der Besetzung geht der Betrieb weiter wie gehabt.

Im WKV zieht Christoph Schäfer auch eine Parallele zur Gezi-Park-Bewegung in Istanbul: Der letzte Park im Zentrum der türkischen Metropole soll einer Shoppingmall in Form einer osmanischen Kaserne weichen. Der Konflikt schwelt weiter. Die Probleme sind überall dieselben: Immobilienspekulation insbesondere in florierenden Zentren führt zur Verdrängung der wirtschaftlich Schwächeren und zu einer zunehmenden Verödung der Städte.

Öffentlicher Druck statt Schlichtung

Warum aber hatte die Initiative in Hamburg Erfolg, nicht aber die Proteste gegen das Immobilienprojekt Stuttgart 21? Als in Stuttgart nach der gewaltsamen Räumung des Schlossgartens am 30. September 2010 die Proteste ihren Höhepunkt erreichten, waren alle Beteiligten froh über Heiner Geißlers "Schlichtung". Viel Zeit und Energie wurden investiert, um vor den Augen der Fernsehzuschauer mit guten Argumenten zu überzeugen. Dann war die Schlichtung vorbei, und die Stuttgart-21-Gegner rieben sich die Augen: Geißler verkündete die Fortführung des Projekts.

Sich auf diese Schlichtung einzulassen, ohne klare Bedingungen und Ziele zu formulieren, war ein gravierender Fehler. Gegen milliardenschwere Interessen der Bau- und Immobilienbranche helfen keine guten Argumente. Es bedarf eines starken öffentlichen Drucks, der auch vor einer Gewalteskalation von oben nicht zurückschreckt. Wer etwas erreichen will, muss standhalten. Auch das angekündigte Ende der Initiative Occupy Villa Berg ist aus dieser Perspektive ein Fehler. Sicher, die Stadt hat die Immobilie zurückerworben, das ist ein schöner Erfolg. Aber es wäre klug, ihr nicht allein die Initiative zu überlassen, sondern ihr auch weiter genau auf die Finger zu schauen.

"Wir sind weiterhin misstrauisch", sagt Margit Czenki zum Erfolg der Bemühungen in Hamburg. "Aber wenn etwas passiert, was von den Vereinbarungen abweicht, wird sofort wieder eine Stadtteilkonferenz stattfinden. Jeder in St. Pauli kann eine solche Versammlung einberufen. Es genügt, einen Zettel aufzuhängen, und Hunderte von Bewohnern kommen."

 

Info:

Die Ausstellung "<link http: www.wkv-stuttgart.de programm ausstellungen utopian-pulse external-link-new-window>Utopian Pulse – Flares in the Darkroom" ist bis zum 16. August im Württembergischen Kunstverein am Stuttgarter Schlossplatz zu sehen, immer dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr. Am Montag, 17. August ist eine Finissage geplant, zusammen mit den Anstiftern und Peter Grohmann, der die 250. Ausgabe seines BürgerInnenbriefs in diesem bürgerbewegten Umfeld feiern will.

Über die Kämpfe um die Esso-Häuser ist auch ein <link http: www.buybuy-stpauli.de external-link-new-window>Film "Buy Buy St. Pauli" auf DVD erhältlich.


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2 Kommentare verfügbar

  • Tillupp
    am 22.07.2015
    Antworten
    Ein bisschen mehr Regionalbezug (Villa Berg kommt nur im vorletzten Absatz vor) hätte ich mir schon gewünscht. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Erfahrungen in HH für Stgt in Bezug auf die Villa Berg, den Karstadt und andere Immobilien? Lohnt sich die Ausstellung "Utopian Pulse – Flares in…
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