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Frühling auf Asphalt

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Auf ungenutzten Flächen mitten in der Großstadt Gemüse anbauen: Das war in der Nachkriegszeit eine effektive Überlebensstrategie, heute nennt man es "Urban Gardening". Auch in der zuweilen verschlafenen Landeshauptstadt ist das Phänomen längst angekommen. Schön anzuschauen ist es allemal – willkommen auf dem Dach des Züblin-Parkhauses.

Die Sonne brennt an diesem Juninachmittag vom Himmel, das bunte Windrad dreht sich nur träge im lauen Sommerwind. Eine junge Frau greift unter das Blattwerk in ihrem Gemüsebeet und präsentiert stolz die erste Gurke. In den Beeten rundherum wachsen Bohnen, Salat und Mangold, zwischendrin ein paar schöne Blümchen, diverse Kräuter und jede Menge anderes junges Gemüse. Gleich nebenan, auf Augenhöhe: der Turm der Leonhardskirche. Der kleine Gemüsegarten befindet sich auf dem Dach des Züblin-Parkhauses.

2013 hat hier eine Urban Gardening Gruppe in einer Hauruck-Aktion die ersten Hochbeete angelegt. Hauptverantwortliche für das Projekt sind acht Kreative, die sich <link http: www.ebene0.de _blank>zur Ebene 0 zusammengeschlossen haben: Im Parkhaus hat die Gruppe einen ganz besonderen Projekt-und-Event-Raum geschaffen. "Das war 2011, und das Projekt lief richtig gut an", erzählt Wulf Kramer, einer der Organisatoren. Er ist heute vor allem für das Gartenprojekt zuständig: "Als wir dann ständig am Parkhaus waren, sind wir auch oft auf's oberste Deck. Da ist man plötzlich komplett raus aus der Hektik der Stadt, wir waren richtig baff. ‚Da müssen wir was machen', haben wir gesagt. So entstand die Idee, aus dem Parkhaus ein Haus mit Park zu machen."

Menschen zusammenbringen

Dass es nicht bei der bloßen Idee blieb, ist auch der Firma PS Hüfner, welche das Parkhaus betreibt, zu verdanken. Denn die stand der Idee, ihr Parkhaus mit einem Garten zu verschönern, von Anfang an positiv gegenüber. PS Hüfner stellt die Fläche zur Verfügung, hat zwei riesige Wassertanks beschafft und versorgt die Hobbygärtner bis heute kostenlos mit Wasser.

80 Beete stehen inzwischen auf dem Parkhausdach. Und wer werkelt da oben? Pflanzt Gemüse an, zieht Salat groß und sieht den Sonnenblumen beim Wachsen zu? "Aktuell sind wir etwa 120 Leute. Die meisten wohnen hier im Viertel oder arbeiten in der Nähe. Einige Studenten-WGs haben gemeinsame Beete, und dann haben wir viele Leute um die dreißig, Familien aber auch aktive 50-Jährige. Es ist echt gut durchmischt."

Alexander Schmid ist seit einem Jahr <link https: www.stuttgart.de urbangardening _blank>Beauftragter der Stadt Stuttgart für "Urbanes Gärtnern". Mit dem deutschen Begriff setzt die Stadt sich bewusst von dem Hype um "Urban Gardening" ab. Klar gab es die Community Gardens im New York der 1970er und später das Guerilla Gardening, ökopolitischer Protest, der sich ab der Jahrtausendwende von London aus verbreitete. Aber urbanes Gärtnern ist viel älter, "denken Sie nur an das Bohnenviertel", erklärt Schmid, "das heißt nicht umsonst so".

Aus Sicht der Stadt stützt sich urbanes Gärtnern auf zwei Säulen: den ökologischen und den sozialen Mehrwert. Beispielsweise gibt es an einigen Flüchtlingsheimen urbane Gärten, wo Migranten und Stuttgarter gemeinsam aktiv sein können. "Das Gärtnern ist quasi der Kern, drum herum findet Kultur, Begegnung und Gemeinschaft statt", sagt dazu Schmid. Wichtig ist ihm auch der Generationenaspekt, denn gerade beim Thema Garten könnten junge Menschen viel von älteren Generationen lernen.

Bloß nichts vorschreiben

Aktuell betreut Schmid in Stuttgart 18 aktive Stadtgärtner-Gruppen, im Jahr zuvor waren es noch 12. Schmids Aufgaben: Akteure vernetzen und beraten, Anträge bearbeiten und mögliche Flächen suchen. Kernelement für das Gelingen eines urbanen Gartenprojekts sei aber immer die eigene Motivation der Gärtner. Deswegen drängt Schmid sich nicht auf und schreibt nichts vor. Er hilft, wo er gebraucht wird: "Bei mir kann jeder anrufen, dann sehen wir, wie ich helfen kann."

Dass feste Regeln nicht des Urban Gardeners liebstes Kind sind, musste auch Wulf Kramer und sein Team von der Ebene 0 feststellen. "Deswegen heißt das bei uns jetzt Spielregeln oder Vorschläge." Darin lege vielleicht auch der größte Unterschied zu den Kleingärtenvereinen: "Die sind wahrscheinlich viel stärker institutionalisiert, haben viel mehr Reglements als so ein Ad-hoc-Projekt wie unseres." Man habe jedoch keine Vorurteile, und bei Netzwerktreffen tausche man sich natürlich auch mit den Kleingärtnern aus. Schließlich haben die jede Menge Erfahrung.

Urban Gardening ist auch politisch

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied: Während der gemeine Kleingärtner zufrieden seine Parzelle am Stadtrand beackert, will die Ebene 0 mit ihrem Gartenprojekt die Stadt verändern: 2023 läuft der Pachtvertrag zwischen Stadt und der Firma PS Hüfner aus. Dann soll der Klotz abgerissen werden und das stadtplanerische Filetstück irgendwie das Viertel aufwerten. Wie genau, weiß man noch nicht – und genau hier setzt Wulf Kramer an: "Wir wollen über die Ebene 0 und das Gartenprojekt die Menschen für den Ort interessieren. Es gilt, jetzt schon eine Initiative aufzubauen, die, wenn es so weit ist, hier auf die Entwicklung Einfluss nimmt."

Deswegen wolle man in den nächsten Jahren moderat weiter wachsen. Von der ersten auf die zweite Saison habe man die Fläche verdoppelt: von zehn auf zwanzig Parkplätze, beziehungsweise 120 auf 240 Quadratmeter. In der nunmehr dritten Saison würden vielleicht noch ein oder zwei Plätze hinzukommen, und so solle es auch weitergehen. Schließlich entwickelt das Orgateam das ganze Projekt in seiner Freizeit, langfristige Strategiepläne gibt es da nicht – und soll es auch nicht geben.

Urban Gardening ist eben gerade nicht nur der Biedermeier'sche Rückzug ins Private, sondern auch sehr politisch. So gesehen passt das Phänomen natürlich auch bestens in die Landeshauptstadt des Gehörtwerdens. Alexander Schmid ist stolz freut sich über die aktive Gärtnerszene in seiner Stadt: "Zeitlich gesehen hatten Berlin, Hamburg und München beim Urban Gardening sicher die Nase vorn. Aber wir müssen uns längst nicht mehr verstecken. Bei uns gibt es eine Vielzahl attraktiver Projekte. Und meines Wissens war der Gemeinderat in Stuttgart der erste, der eine eigene Stelle für urbanen Gartenbau geschaffen hat."


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5 Kommentare verfügbar

  • Volker Maisch
    am 26.06.2015
    Antworten
    Die ausgewogene Mischung macht's.

    Wie Sie wissen, gibt es beispielsweise die Stadtwerke Stuttgart
    die ihren ca. 12000 Kunden 100 % Ökostrom/Gas liefern. das ist kommunal gesehen ein erster Schritt in die richtige Richtung !
    Um auf den richtigen Weg zu gelangen, müssen Subventionen für die…
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