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NSU-Ausschuss auf Tatortbegehung: ein stimmigeres Bild

NSU-Ausschuss auf Tatortbegehung: ein stimmigeres Bild
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Ein einziger Spaziergang von gut zwei Stunden hat den baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschuss am Montag einer Lösung seiner Aufgabe nähergebracht, die Umstände der Ermordung von Michèle Kiesewetter aufzuhellen. Die Begehung der Heilbronner Theresienwiese konnte die bisherige Zwei-Täter-Theorie der ermittelnden Behörden nicht erschüttern. Eher im Gegenteil. Eine Fotostrecke vom Tatort Heilbronn.

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Alex Mögelin ist der dritte Leiter der "Soko Parkplatz". Dritter Leiter, das klingt verdächtig. Allerdings kann der 41-Jährige nachvollziehbar erklären, wie es dazu kam und wie er sich im Juni 2010 eingearbeitet hat. Und wieso es sogar von Vorteil war, noch einmal, auch in einer Klausur, alle Aspekte zu drehen, zu wenden und zu durchleuchten. 5017 Spuren und 1031 Hinweise liegen auf dem Tisch. 13 davon hat der Kriminaloberrat, inzwischen in die Führung des Landeskriminalamts aufgerückt, für diesen Vor-Ort-Termin des Untersuchungsausschusses ausgewählt. Nach einer Schweigeminute vor dem Gedenkstein und der Einführung rund um ein Polizeiauto, das so geparkt ist wie damals der Wagen der beiden Opfer, kündigt der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) einen Fußmarsch von etwa zwei Kilometern an. Viele im Tross, der gut hundert Interessierte zählt, halten das für einen Scherz.

Zu Unrecht. Denn Spur 22, der Bericht eines Zeugen, der vermutlich um 14.30 Uhr einen blutverschmierten Mann in ein dunkles Auto hechten und einen anderen "Dawai, dawai!" ("Los, los!") rufen hörte, liegt im Süden Richtung Sontheimer Brücke. "Welchen vernünftigen Grund hätte es für die Täter gegeben, hierher zu fliehen?", wird später der FDP-Obmann im Ausschuss und Ex-Justizminister Ulrich Goll fragen. Es sei keiner bekannt, antwortet der Polizeibeamte.

Die Lektüre der 24 Seiten, die der Bundestagsausschuss in seinem im Juli 2013 vorgelegten Abschlussbericht dem Fall Kiesewetter widmete, hatte viele Fragen aufgeworfen. "Mögliche Ermittlungspannen" heißt eine der Kapitelüberschriften. Es wäre auch Aufgabe der vom baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzten EG Umfeld gewesen, sich detailliert mit den dort aufgeführten Spuren und dem Tadel zu befassen, der nicht nur zwischen den Zeilen herauszulesen ist. Stattdessen listet die im Januar 2014 vorgelegte, gut 200 Seiten starke Stellungnahme Einzelheiten vor allem kursorisch auf. Spekulationen über Pannen, über angeblich unterdrückte Hinweise und unausgewertet gebliebene Spuren waberten deshalb immer weiter.

In Heilbronn, vor Ort, verlieren sie deutlich an Gewicht. Er sei überrascht, sagt SPD-Obmann Nik Sakellariou in seinem Resümee der inzwischen 18. Sitzung des Ausschusses, wie unterschiedlich die Eindrücke "nach Aktenstudium und Inaugenscheinnahme" sein können. "Die Entfernungen abzugehen war für uns sehr wichtig", so Drexler.

An der Kreuzung am südöstlichen Ende der Theresienwiese hält die Polizei den Verkehr an. Die Abgeordneten, die Journalisten und Zuschauer überqueren die Straße an der Stelle, an der die Zeugin Liselotte W. durch ihr offenes Schiebedach zwei Schüsse gehört und gedacht hatte, das Frühlingsfest werde eröffnet. "Dann habe sie jedoch bemerkt, dass dieses noch nicht begonnen hatte, und hielt an einer Ampel", hieß es im Abschlussbericht des Bundestags. Und weiter: "Die Zeugin habe dort einen Mann mit Blutantragungen in ein Auto steigen sehen, welches sie zunächst als dunkel, später als hell beschrieben habe."

Diese Spur brachte es zu einiger Berühmtheit, weil ganz und gar unerklärlich schien, warum die Behörden dieser Aussage nicht intensiver nachgegangen waren. Jetzt wird deutlich, dass es so nicht gewesen sein kann: Der Tatort ist zu weit entfernt von der Ampel. Entweder hat die Zeugin die Schüsse gehört oder einen blutverschmierten Mann gesehen. Und zudem: "Nicht jeder, der eine blutverschmierte Person gesehen haben will, hat auch eine gesehen", schöpft Mögelin in vielen Jahren Erfahrung. Bestimmte Aussagen zum Thema Blut konnten zur Gänze entschärft werden: "Ein Mann hatte Nasenbluten, ein anderer hatte sich bei der Oma verletzt."

Der Ausschuss hat im Zusammenhang mit dem Fall Florian Heilig, der in Stuttgart auf dem Wasen-Gelände in seinem Auto verbrannte, schon einige Erfahrung mit mangelhafter Polizeikompetenz gesammelt. Mögelin macht mit souveränem Auftreten einiges wieder wett. Er erläutert die umfangreichen Zeit-/Wegberechnungen, er stellt die nahezu minutenscharf erhobenen Lücken in den Zeugenaussagen dar ("Wir haben das Problem, dass alles, was dazwischenliegt, Spekulation ist"), er gibt einen Einblick in die Herangehensweise. Das Fazit: Es gibt "keine korrespondierenden Hinweise". Im Klartext: Die Zeugenaussagen passen entweder nicht zueinander oder nicht zu den Fakten. Und er schildert, wie die Auswahl des Tatorts analysiert wurde: "Wenn Polizei angegriffen werden sollte, war dieser Platz sehr gut geeignet." Hingegen hätte es bei "persönlichen Motiven", wenn es den Tätern also konkret um diese beiden Polizisten gegangen wäre, "geeignetere Tatorte" gegeben.

Der Beamte verweist nicht nur auf den erhöhten Fahrradweg direkt am Neckar, wo jetzt der Gedenkstein steht, sondern vor allem auf das nahe gelegene Stellwerk der Bahn mit einem Blick auf das Gelände wie aus dem dritten Stock eines Hauses. Natürlich habe die Polizei 2007 "umfangreich ermittelt", alle in Frage kommenden Bahnmitarbeiter hätten in den entscheidenden Minuten am 25. April, kurz vor oder kurz nach 14 Uhr, nicht aus dem Fenster in Richtung Theresienwiese geschaut. Aber allein darin, dass sie diese Möglichkeit in Kauf nahmen, sieht Drexler einen Beleg für deren "kaltblütige Risikoabschätzung".

Zudem war dem schwerst verletzten Polizisten Martin Arnold, dem Kollegen von Michèle Kiesewetter, die Dienstwaffe mit großem Energieaufwand aus dem Holster gerissen worden. "Der Täter wollte die Waffe so sehr", sagt Mögelin, "dass der Kollege aus dem Wagen gezogen wurde." Auch Handschellen und Taschenlampen hätten die Täter mitgenommen. Von den Zeugen und Zeuginnen, die zum fraglichen Zeitraum Meldungen machten, hat niemand von Menschen mit Rucksäcken oder Taschen berichtet.

Der Auschussvorsitzende Drexler enthält sich zwar jeder Bewertung, sieht aber in den jetzt gewonnenen Informationen eine wichtige Basis für die Zeugenvernehmungen zu Heilbronn, die noch vor Pfingsten beginnen sollen. Sakellariou wird deutlicher: "Ich bin sicher, dass der Berliner Ausschuss Aussagen anders gewichtet hätte, wäre er ebenfalls vor Ort gewesen." Jetzt ergäbe sich "ein stimmigeres Bild".

Er jedenfalls hätte den Sachverständigen, die zum Auftakt der Ausschussarbeit im Landtag auftraten und Zweifel an der Polizei-These äußerten, Kiesewetter seien die zufälligen Opfer zweier Täter geworden, "ganz andere Fragen gestellt, wäre ich da schon vor Ort so ausführlich über die Lage unterrichtet gewesen". Am 22. Mai werden noch einmal Zeugen zur Vorbereitung der Arbeit rund um den Fall Kiesewetter gehört. Nach Pfingsten will Drexler den Komplex Ku-Klux-Klan im Land und die möglichen Verbindungen zum NSU aufrufen.

***

Spurenlage

Tatort, hier fallen am 25. April 2007 kurz vor oder kurz nach 14 Uhr die Schüsse. 

Zeugin Loreta E. (Spur 42), Spaziergängerin, die eine verdächtige Person sieht. Die Zeugin schaut hin (12.30 Uhr), die Person dreht sich weg. Die Zeugin sagt, der wollte nicht erkannt werden. Ein Phantombild wird gefertigt. Die Person konnte nicht identifiziert werden.

2  Zeugen Wolfgang H. und Klaus-Jürgen L. (Spur 281), Bedienstete der Bahn, hören auf dem Rückweg zum Stellwerk (13.55 bis 14.00 Uhr) zwei Knallgeräusche, drehen sich um, haben aber sonst nichts wahrgenommen. Wie alle Zeugen wird auch der Zeuge H. 2011, nach dem Auffliegen des NSU nochmals vernommen. Er gibt an, zwei Mountainbiker gesehen zu haben. Bilder der NSU-Tatverdächtigen werden ihm vorgelegt. Er kann niemanden identifiziert, meint, eigentlich seien ihm die beiden nicht verdächtig vorgekommen, er habe nur einen Hinweis auf weitere Zeugen geben wollen. 

3  Zeuge Adalbert L. (Spur 175) kommt mit Hund über Neckarweg, sieht eine wild gestikulierende Personen, die telefoniert. Der Hund schnuppert, das Verhalten der Person kam dem Zeugen suspekt vor. Ein Phantombild wird gefertigt, die Person ist nicht zu identifizieren.

4  Zeugin Beate-Theresia F. (Spur 319) gibt in erster Vernehmung an, drei Meter vom Streifenwagen gewesen zu sein, berichtet vom Pfeifen in den Ohren nach den Schüssen und blutenden Polizisten. In weiteren Vernehmungen sieht sie sich hundert Meter weit weg vom Tatort, sieht drei flüchtende Männer, ihre Aussagen bleiben äußerst widersprüchlich. Es sei nicht gelungen, "Frau F. zu stabilisieren", sagt ein Beamter.

5  Zeuge Dominik S. (Spur 91) ist bei Schaustellern beschäftigt, trifft einen osteuropäisch aussehenden Mann, der am Abend des Tattags (22 Uhr) verdächtige Fragen zur Tat stellt. Phantombild gefertigt, keine Ergebnisse.

6  Heinz H. (Spur 104) kommt mit Fahrrad auf Neckardamm, sieht auf Höhe der Schiffschaukel vier Personen (etwa 13.15 Uhr), die sind keine Schausteller, liegen im Gras, zwei Wohnwagen erscheinen ihm auch verdächtig. Phantombild bleibt ohne Ergebnisse.

7  Zeugin Liselotte W. (Spur 331), Autofahrerin, gibt in der ersten Vernehmung an, durchs offene Schiebedach zwei Schüsse gehört zu haben, dachte, das Frühlingsfest wird eröffnet, sieht eine Person, wundert sich, weil ihr einfällt, dass das gar nicht stimmen kann. Muss dann an einer Ampel halten, sieht einen Mann mit rundem Gesicht und blutverschmierten Armen, in einem gemustertes Hemd, der in eine dunkle Limousine – bei einer späteren Vernehmung ist es ein heller Mercedes – steigt. Denkt, was ein Glück, dass so schnell Hilfe kommt. Spätere Vernehmung 2009 ohne weitere Erkenntnisse.

8  Zeuge Anton M. (Spur 3710) meldet sich erst 2009, erinnert sich an eine Personengruppe, zwei Männer, eine Frau, Personengruppe kommt auf ihn zu, einer der Männer wäscht sich die Hände im Neckar. Der Zeuge ist überzeugt, dass sie blutverschmiert sind.

8.1  Zeuge Anton M. (3710) sieht die Gruppe abermals.

8.2  Zeuge Anton M. (3710) sieht einen Mann, der in ein Gebüsch reinspringt. Keine anderen Zeugen bestätigen die Aussagen.

9  Zeuge Hans-Joachim H. (Spur 88) kommt von der Mittagspause (12.45 bis 13 Uhr), sieht eine Personengruppe, zwei Personen, Osteuropäer, findet sie verdächtig. Zwei Phantombilder werden gefertigt, Tatrelevanz bis heute nicht zu erarbeiten.

10  Zeuge Heinrich K. (Spur 4594) meldet sich 2010, erinnert sich an eine blutverschmierte Person, weiß nicht genau, ob es am Tattag war. Person konnte nie ermittelt werden. 

11  Zeugen Ehepaar K. (Spur 207), Spielplatz, sehen eine Person (14.30 Uhr), haben das Gefühl, der schaut nach einem der Hubschrauber, die inzwischen zur Fahndung aufgestiegen sind. Phantombild wird gefertigt. Keine Ergebnisse.

12  Vertraulicher Zeuge (Spur 22) will um 13.40 Uhr eine Person gesehen haben, die in ein Auto steigt, das mit quietschende Reifen auf der B 27 wendet und über die Sontheimer Brücke davon fährt. Ein Mann ruf "Dawei, dawei" ("Los, los"). Die Polizei geht von einem Zahlendreher aus und davon, dass sich der Vorfall um 14.30 Uhr ereignet haben könnte. Keine weiteren Zeugenaussagen. 

13  Anonymer Hinweisgeber (Spur 3698) wird von hinten angerempelt, ein Mann läuft Slalom durch die Leute und springt ins Auto. Nachfragen angesichts der Anonymität unmöglich.


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4 Kommentare verfügbar

  • Barolo
    am 10.05.2015
    Antworten
    Schade, daß KONTEXT nicht mehr Kontext bringt.
    Da sind andere Online Medien weit investigativer z.B.

    http://friedensblick.de/16327/aliens-gnadenloser-machtkampf-um-den-nsu-untersuchungsausschuss-baden-wuerttemberg-ausgebrochen/

    Warum nicht mehr Mut?
    Oder ist das gegen die Linie der TAZ?

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