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"Demonstrationsfreie Zone"

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 Fotos: Benny Ulmer 

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Datum:

Die Gemeinde Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd wurde weltweit bekannt durch die Proteste der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen. Heute hat Mutlangen nur wenig mehr zu bieten als andere Gemeinden dieser Größe. Es gibt ein Spaßbad, Mutlantis, und den kleinsten Weinberg Baden-Württembergs. Was ist geblieben von weltbekannten Widerstand? Eine Fotoreportage.

In Heilbronn, Kettershausen bei Neu-Ulm und auf dem US-Stützpunkt 56th Field Artillery Command auf der Mutlanger Heide wurden im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses 1986 jeweils 36 Pershing-II-Raketen gegen die Sowjetunion stationiert. Die kleine Gemeinde Mutlangen wurde zu einem Nukleus des Kalten Krieges und zur Friedensfront gegen einen drohenden Atomkrieg. 1990, drei Jahre nach Unterzeichnung des INF-Vertrags über die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenraketen, waren die Pershings wieder verschwunden und mit ihnen die Friedenskämpfer. Nur eine Handvoll gibt es noch. Vom <link http: www.pressehuette.de _blank>27. Juli bis zum 12. August veranstalten sie ein Workcamp, das mit Aktionen, Veranstaltungen und Diskussionen an die Geschichte dieses Ortes erinnern will.

Es ist ein verschlafener Ort, sechseinhalbtausend Einwohner. Nur wenige waren aktiv in der Friedensbewegung. Die meisten dachten damals: Wenn es losgeht, sind wir wenigstens die Ersten, die weg sind. Im Dezember 1983 übergaben die Mutlanger 500 Unterschriften an Bundeskanzler Helmut Kohl, weil sie fürchteten, ihr Ort würde in Dauerprotesten versinken. Der TSV Mutlangen bangte um seine Hundertjahrfeier. In der Vereinsgaststätte hing ein Plakat an der Tür: "Demonstrationsfreie Zone."

Seit 1986 ist Peter Seyfried (CDU) Mutlangens Bürgermeister. Der Umgang mit hochrangigen US-Militärs, Weltpolitikern, der Polizei, der Presse hat ihm gefallen. Er hat nie daran gedacht, die Seiten zu wechseln. Nur wenn der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens unter Seyfrieds Bürofenster vom Frieden sprach, bekam er Zweifel. Heute ist er Mitglied der internationalen Organisation "Mayors for Peace", die sich für atomare Abrüstung einsetzt. Walter Jens wird er nie mehr vergessen, sagt er.

Viel ist nicht mehr geblieben von damals. Zwei Bunker der Amerikaner, Hunderte Male fotografiert und dokumentiert, die offiziellen Reste des Atomraketenstandorts Mutlangen. Dabei hatten die Bunker überhaupt nichts mit den Raketen zu tun. Heute sind sie Lagerstätte für den Bauhof, Werkzeug und Streusalz für den Winter.

Während einer Aktion vor einigen Jahren hatte der Rest der Mutlanger Friedensbewegung "Frieden schaffen" auf einen der Bunker gemalt. Mutlanger Graffiti-Sprayer haben den Schriftzug mittlerweile übersprüht.

Die Mutlanger Heide gehört zur Hälfte der Gemeinde Schwäbisch Gmünd, zur anderen Hälfte zu Mutlangen. Die Gmünder haben eine Solaranlage darauf gebaut. Die Mutlanger ein sauberes Neubaugebiet.

Auf einem kleinen Stückchen betreibt die Gemeinde heute sogar den kleinsten Weinberg Baden-Württembergs. 30 Rebstöcke "Regent". Hengstenberg-Qualität, sagt Bürgermeister Seyfried und schaudert säuerlich lächelnd. Der Friedensaktivist Volker Nick hätte sich für diesen denkwürdigen Ort soziale Wohnprojekte gewünscht, etwas gesellschaftlich Relevantes, etwas Dialogisches oder wenigstens flächendeckend Solarhäuser.

Volker Nick hat sein Studium geschmissen für den Protest. Er hat Transport und Versorgung der Raketen blockiert, sich wegtragen, verurteilen, einsperren lassen. Manchmal saßen sie zu Tausenden vor dem Tor der US Army, oft nur zu viert. Heute ist er Fahrradkurier und ein Mann mit vernarbter Seele. Atomwaffen sind Massenmord, sagt er. Das darf man niemals vergessen. Wenn er versucht, das Unrecht einer Atombombe zu beschreiben, versinkt er in sich, und es scheint, als raube ihm das den Verstand.

Die Friedensbewegung verstand die Kampagne "ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung" als Graswurzelbewegung. Nach dem Bild des Löwenzahns: Er treibt durch den Asphalt, wird kräftiger und größer, lässt seine Samen fliegen, die sich andernorts ansiedeln und ihrerseits durch den Asphalt treiben. Damit er sich weiterverbreitet, bauten sie die Hütte zu einem richtigen Haus um.

Die Pressehütte stellt Gruppen aller Art Schlaf-, Arbeitsplätze und Materialien für die Friedensarbeit zur Verfügung. Aber es kommt kaum einer. Heute findet in dem hübschen Holzhaus Gitarrenunterricht statt. Wenn einer aus Mutlangen Geburtstag hat, gibt's hier auch mal eine Party.

Der Lageplan der US-Kaserne mit den Abschussrampen und Lagerstätten der Nuklearraketen hängt heute im Untergeschoss der Pressehütte. Darunter steht ein buntes Mosaiktischchen mit rosafarbenen Blumen, daneben eine Holzbank, in die einer auf die eine Seite ein Peace-Zeichen eingeritzt hat und auf die andere Seite eine Taube. Nick und seine Kollegen haben den Plan vom Gelände geholt, als die Amerikaner abzogen. "Wir haben sogar gefragt, ob wir ihn haben können", sagt er.

Seit mehr als 40 Jahren betreibt Christa Müller die Krone. Einmal, erzählt sie, haben die Demonstranten unter ihrem Schlafzimmerfenster Panzer blockiert. Hat drinnen gestunken wie in einer Tankstelle. Ihre Gäste schwärmen von den tollen Flugshows auf der Mutlanger Heide in den Fünfzigern. Aber sie wissen nicht genau, was sie von ihren Erinnerungen an die Achtziger halten sollen. Damals sei wenigstens was los gewesen!, sagen sie. Sogar Erhard Eppler war da, sagt Christa Müller.

Eigentlich hätten die verbliebenen Friedensaktivisten dabei helfen sollen, den Geschichtslehrpfad Mutlanger Heide anzulegen. Im Rathaus hatte man die Idee einer Kooperation, aber gemeldet hat sich von dort letztlich keiner mehr, erzählt Volker Nick. Und so ist der Pfad ohne die Aktivisten entstanden. Er beschreibt die Nutzung des Geländes von den Römern bis zum Kalten Krieg. Kaum einer besucht den Pfad, erzählt Volker Nick. Er steht nur da und vergammelt. Die Mutlanger wollen mit ihrer Vergangenheit bis heute lieber nichts zu tun haben.

Das Carl-Kabat-Haus. Carl Kabat war ein katholischer Ordenspriester und Friedenskämpfer aus Illinois, USA. Das Haus war zu Protestzeiten Wohngemeinschaft der Demonstranten. Volker Nick lebt heute noch darin. Es sei regelrecht verschrien, sagt Nicks Tochter, 16 Jahre alt, rotes Haar, ein Gesicht voller Sommersprossen. Einmal war ihr Vater zu einem Vortrag in der Schule. Darauf ist sie stolz. Aber eigentlich interessiere sich keiner ihrer Mitschüler mehr für Atomwaffen. Die sind so Achtziger.


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5 Kommentare verfügbar

  • Sybille
    am 25.07.2014
    Antworten
    In Stuttgart haben wir AFRICOM, EUCOM und die NSA-Zentrale. Potentielle Angriffsziele im Fall der Fälle. Das wird vor lauter Bahnhof gerne verdrängt. Umso wichtiger ist es, dass dort immer wieder Aktionen stattfinden und darauf aufmerksam machen.

    Und wichtig sind solche Artikel. Auch die…
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