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"Der Landesvater steht mir bis zum Hals"

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Das Kontext-Interview mit Winfried Kretschmann in Ausgabe 147 hat Gangolf Stocker nicht ruhen lassen. Der Vater des S-21-Protests nimmt sich den Ministerpräsidenten in einem persönlichen Brief vor, in dem er seine ganze Enttäuschung über die Politik des Raushaltens zusammenfasst.

Lieber Winfried,

weißt Du noch, damals im August 2010, da hatte Dich der Mappus aus dem Urlaub angerufen und gefragt, ob Du einen Brief mit unterschreibst, der eine offene Diskussion ohne Vorbedingungen über Stuttgart 21 anbietet. Ihm, Mappus, war wahrscheinlich aufgefallen, dass sich da etwas zusammenbraut im Ländle. Du hattest den Brief unterschrieben, und wir fanden das völlig daneben, denn zur gleichen Zeit fand der Abriss des Nordflügels am Bahnhof statt. Es war das erste Mal, dass Du bei Stuttgart 21 "tätig" wurdest. Du hast mich dann in den Landtag gebeten, wolltest einen Rat unter dem mehrfachen Ausruf: "Ich bin beschädigt." Vielleicht, dachte ich beim Weggehen, hängst Du Dich jetzt doch ein bisschen mehr rein in das Thema Stuttgart 21. Der damalige verkehrspolitische Sprecher der Landtagsfraktion war übrigens Werner Wölfle.

Weißt Du noch, wie wir die Plätze für die Besetzung unserer Seite beim Geißler'schen Faktencheck festlegten? Da kam Werner Wölfle und verkündete, dass Du mit dabei sein willst. Dafür ging dann Boris Palmer. Boris hatte als Vorgänger von Werner jahrelang das Projekt kritisch begleitet und sich deshalb hohe Anerkennung bei den Initiativen erworben. Und während des Faktenchecks aufgrund seiner Fachkompetenz Respekt verschafft. Du hattest Dich während Deiner zwei Auftritte einmal zu Wort gemeldet. Es ging um Biologie, Dein Fachgebiet, und wir waren froh darüber. Stuttgart 21 war nicht Dein Bier, das Funktionieren oder Nichtfunktionieren einer Bahn schon gar nicht.

"Mit Stuttgart 21 hattest Du nie etwas am Hut"

Dein Interview in Kontext – und auch alle anderen Äußerungen von Dir – bleiben beim Thema Stuttgart 21 an der Volksabstimmung hängen. Weißt Du noch, wie ich Euch einen Brief geschrieben habe zu dieser geplanten Volksabstimmung und darum gebeten hatte, für diese Volksabstimmung Regeln aufzustellen, damit nicht die Millionen der Befürworter mit einer massenhaften Lügenkampagne diese für sich entscheiden. So, wie es dann ja auch gekommen ist: "1,5 Milliarden Ausstiegskosten für nix." Und was habt ihr mir geantwortet? Wir halten uns da raus! Abgesehen davon, dass die 1,5 Milliarden Ausstiegskosten eine "Voodoo-Ökonomie" waren, wissen wir heute, dass die damals schon wussten, dass es 2,3 Milliarden mehr kostet. Und Du? Sagst das, was Du nun seit zwei Jahren wiederholst. Nein, mit Stuttgart 21 hattest Du noch nie etwas am Hut. Die Bürgerinnen und Bürger haben im Frühjahr 2011 bei den Landtagswahlen ein Missverständnis gewählt.

Seit fast drei Jahren bist Du nun Ministerpräsident und bezeichnest es als Deine hervorragende Aufgabe und Leistung, den Laden zusammengehalten zu haben. Das ist ja richtig, zumal der Anfang, unter anderem wegen Claus Schmiedels (SPD-Fraktionschef, d. Red.) Quertreibereien, schwierig war. Da hattet ihr dann die Lösung gefunden, bei der Volksabstimmung getrennt zu marschieren. Schmiedel sah Gottes Segen auf Stuttgart 21. Das Heftchen, das die Landesregierung zu dieser Volksabstimmung herausgab, dessen Layout hätte man in den 60er-Jahren nicht einmal als eine Waschmaschinen-Betriebsanleitung durchgehen lassen.

Deine Hauptthese lautet, in der Demokratie entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit. Mehrheit statt Wahrheit. Das, nun ja, das ist halt so, denkt man, aber es will einem keine Ruhe lassen. Denn: Gehört es nicht auch zur Demokratie, immer und stets für eine Mehrheit für die Wahrheit zu kämpfen. Was ist Wahrheit? Auf die Zukunft bezogen, ist die Wahrheit die Wahrscheinlichkeit einer Prognose. Dagegen steht das Versprechen. Und das Versprechen, zumal es hochglanzglitzernd daherkommt und den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht, ist in Wahrheit aber die Wahrheit der Profiteure. Damit deren Wahrheit gewinnt, darf sie nicht ans Licht kommen. Hinterher ist es zu spät. Dann sind die Menschen enttäuscht. Wieder einmal reingelegt. Wie bei der letzten Landtagswahl?

"Dein Kreativitätszeitfenster erklärt nur die Politik, die Du nicht machst"

Aber sie konnten doch entscheiden, wirst Du sagen. Aber zur Entscheidung braucht es die richtigen und vollständigen Informationen. Wie soll der Mensch im Odenwald entscheiden, der sich nie um dieses Stuttgarter Problem, den Stuttgarter Bahnhof, gekümmert hat und nun mit Plakaten konfrontiert wird, auf denen 1,5 Milliarden Euro Ausstiegskosten für nix und wieder nix prophezeit werden? Abgesehen vom Netzwerk der CDU-Vereinsvorsitzenden, die ihm sagen, wo er sein Kreuz zu machen hat. Wäre da nicht die Landesregierung gefordert gewesen?

Lieber Winfried, und nun bist Du der Landesvater. Du hättest zwar anfangs ein wenig Mühe gehabt, sagst Du, diesen Titel anzunehmen, aber jetzt gefällt es Dir doch sehr. Du erinnerst Dich, wie ich bei der ersten "Wir reden mit"-Veranstaltung auf dem Stuttgarter Marktplatz Dir hinterher bescheinigte, das Zeug zum Landesvater, nämlich zu dieser Rolle zu haben. Aber jetzt steht mir das bis zum Hals. Dein Kreativitätszeitfenster, das Du für Dich reklamierst, erklärt aber nur die Politik, die Du nicht tust. Natürlich versteht man, dass Du zu Beginn der Koalition alles unterlässt, was diese Koalition gefährdet, zumal der Koalitionspartner, namentlich Schmiedel, mit der CDU liebäugelte. Aber das war vor drei Jahren so.

Es muss jetzt nicht mehr sein, dass der Verkehrsminister kaltgestellt wird. Lass es doch einmal drauf ankommen, ob es für die SPD eine Alternative ist, mit der Landtagsopposition zusammenzugehen. Zumal der Haufen nicht mehr einig ist und dort, wo weiterhin an Stuttgart 21 festgehalten wird, der Absturz bei den Wahlen programmiert ist. Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Gemeinderat, Siegfried Bassler, anfangs ein Befürworter von Stuttgart 21, kandidiert jetzt, achtzigjährig, bei den Linken gegen Stuttgart 21!

Je länger das Elend dauert und je näher das Fiasko von Stuttgart 21 sichtbar wird, je sichtbarer die Katastrophe (und da sind BER und Elbphilharmonie ein Klacks dagegen), desto mehr werden sich Landespolitiker davon distanzieren. Jene SPDler, die heute noch das Projekt am Leben halten, werden sich dann in die Büsche schlagen, sagen, sie hätten nichts gewusst, getäuscht wähnen, und, sofern die Grünen noch einmal eine Regierung bilden, diese allein den Schlamassel ausbaden lassen. Also, teste doch einmal aus, was die SPD macht, wenn von Mal zu Mal das Totenglöcklein hinter jeder Wahlentscheidung lauter läutet.

"Warte mal ab, was dem Schmiedel demnächst einfällt"

Ich weiß, dass Du jetzt sagst: Man macht keine parteipolitischen Spielchen auf Kosten der Zukunft des Landes. Du hast ja recht, aber warte mal ab, was Schmiedel demnächst einfällt. Immerhin hat die SPD schon erreicht, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt und die Grünen eine Stuttgart-21-Politik machen, wie es die SPD allein oder mit der CDU nicht besser hätte machen können. Und da fällt mir ein: Wir haben schon lange keine neue Kostenrechnung zu Stuttgart 21 mehr serviert bekommen. Die wird nach der nächsten Landtagwahl kommen.

Lieber Winfried, Du hast doch genug Verkehrspolitiker in Deinem Haufen, die, von Dir mal aufgefordert, nicht die Gosch halten, sondern über Wege nachdenken würden, wie man aus dem Schlamassel rauskommt. Ein paar gute Gedanken hätte ich dazu auch. Es ist höchste Zeit, denn die Bahn baut wie verrückt, baut wie in Panik. Will damit Fakten schaffen; das hatte sie öffentlich angekündigt. Es ist jetzt noch möglich, die Bremsen anzuziehen. Die Unterstützung der Wähler und Wählerinnen von 2010 hast Du, denn niemand, der dieses Projekt für schädlich hält, ist jetzt anderer Meinung. Lass Dich da nicht von den Teilnehmerzahlen der Montagsdemo täuschen. Du könntest das Missverständnis von 2010 wieder wettmachen. Lass es darauf ankommen, ob die SPD mit der CDU im Landtag gemeinsam dagegenstimmen wird. Schmeiß Deine landesväterliche Attitude in die Waage und mach den Menschen Dein Kreativitätsfenster weit auf. Lass sie in ein Stuttgart-21-freies Land blicken.

Oder geht es Dir wirklich um das schöne Amt? Um die Ämter Deiner Minister? Das behaupten hier viele. Straf Sie Lügen.

 

Gangolf Stocker (69) gilt als Begründer des S-21-Protests. Zusammen mit dem (heutigen) Bürgermeister Werner Wölfle (Grüne) hat er 2007 das Bürgerbegehren gegen das Bahnprojekt initiiert. 2010 hat er die Montagsdemonstrationen ins Leben gerufen. Als Versammlungsleiter hat ihn die Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit einer Vielzahl von Verfahren überzogen. Stocker ist auch Mitbegründer der Gruppe Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS), die im Gemeinderat sitzt.


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38 Kommentare verfügbar

  • Berliner
    am 27.02.2014
    Antworten
    Untersuchung eines vermeintlichen Vorzeigeprojekts. Was hat der Berliner Landwehrkanal mit Stuttgart 21 zu tun?
     
    Update
    http://www.freitag.de/autoren/a-guttzeit/landwehrkanal-ueber-ein-unnoetiges-verfahren
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