KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

An einer Katastrophe vorbeigeschrammt

An einer Katastrophe vorbeigeschrammt
|

Datum:

Stuttgart ist während eines Gewittersturms am 30. Juni 2012 nur knapp einer Katastrophe entgangen. Das Bahnsteighallendach des Stuttgarter Hauptbahnhofs war einsturzgefährdet, nachdem die Bahn den Südflügel des Gebäudeensembles für das umstrittene Projekt Stuttgart 21 abgerissen hatte. Für die Staatsanwaltschaft kein Grund zu ermitteln. Ohne strafrechtliche Konsequenzen bleiben auch zwei spektakuläre Unfälle während der Abbrucharbeiten.

Die Unwetterfront kam aus dem Westen. Riesige Wolkenberge sorgten binnen Minuten für Untergangsstimmung im schwülheißen Stuttgarter Talkessel. Mit Blitz, Donner und heftigen Winden fegte ein gewaltiger Gewittersturm in den Abendstunden des 30. Juni 2012, einem Samstag, über der Landeshauptstadt. Im Neckarhafen würfelten orkanartige Windböen Überseecontainer wie Bauklötze durcheinander. Ein 50 Tonnen schwerer Verladekran wurde gegen Prellböcke gedrückt. Landesweit forderte das Unwetter 38 Verletzte und hinterließ Millionenschäden. "Nur durch viel Glück kamen nicht noch mehr Menschen zu Schaden", sagt Ulrich Ebert rückblickend. In der Unwetternacht entging Stuttgart nur knapp einer gewaltigen Katastrophe, glaubt der Rechtsanwalt. "Das Bahnsteighallendach des Hauptbahnhofs war damals instabil, während des Sturms drohte es einzustürzen", sagt der Jurist, der sich seit über 25 Berufsjahren mit Architekten- und Ingenieurschäden befasst. Der Bahnhof müsse bei stärkerem Wind sicherheitshalber sofort gesperrt werden, hatte er bereits am 11. April 2012 per Mail vom Eisenbahnbundesamt (EBA) gefordert. Eine Antwort der Bonner Aufsichtsbehörde erhielt der Rechtsanwalt nie.

In der Sturmnacht waren Tausende Bahnreisende wegen Streckensperrungen im Stuttgarter Hauptbahnhof gestrandet. Viele warteten das Unwetter in Zügen ab, die von der Bahn als provisorische Warteräume an den Bahnsteigen abgestellt worden waren. Schwebten die Reisenden in akuter Lebensgefahr? Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft sieht dafür keinerlei Anhaltspunkte.

Für Experten war das Dach monatelang nicht standsicher

Der Strafanzeige einer Bahnkundin, die die Sicherheit im Stuttgarter Hauptbahnhof in der Sturmnacht nicht gewährleistet sah, leistet sie keine Folge. "Eine konkrete Gefahr ergibt sich nicht, auch liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Verhalten vor", schreibt der Erste Staatsanwalt Braun in seiner Einstellungsverfügung vom 24. Juni 2013. Völlig anders sieht dies ein von Kontext befragter Experte. Auch sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass das Bahnhofsdach nach dem vorangegangenen Abriss des Bahnhofssüdflügels im vergangenen Jahr monatelang nicht standsicher war.

Vor-Ort-Termin im Stuttgarter Hauptbahnhof mit einem Bauingenieur, der seinen richtigen Namen nicht in Kontext veröffentlicht sehen will. Der Ingenieur ist ein erfahrener Tragwerksplaner. "Das gesamte Bahnsteighallendach lagert nur mit seinem Eigengewicht auf über hundert Dachstützen", erläutert er die über sechzig Jahre alte Dachkonstruktion aus Stahl, Bimsbeton und Glas. Temperaturbedingte horizontale Ausdehnungen des Stahls fangen Walzenlager auf den Stützenköpfen ab. "Größere Seitenlasten wurden bislang von den beiden Seitenflügeln des Bahnhofs aufgenommen", erläutert der Experte. In den Seitengebäuden fungierten Wände und Treppenhäuser als sogenannte Kraftscheiben, die Schwingungskräfte vom Dach in den Boden ableiteten. Im April 2012 hatte die Bahn Vollzug gemeldet beim Abriss des 277 Meter langen Südflügels. Der Gebäudeteil fiel, wie auch zuvor das kleinere Pendant auf der Nordseite, um Platz für die Baugrube des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 zu schaffen. "Durch den Flügelabriss ist diese Lastableitung nicht mehr möglich", erläutert der Fachmann. Der mächtige Südflügel fehlt zudem als effektiver Windschutz, ergänzt er. Nach dem Abriss wurde das verglaste Dach zum offenen Angriffsziel für Wind und Wetter. Auf die vertikalen Scheiben wirken seitliche Windlasten, die das gesamte Dach zur Seite drücken. Eine Sogwirkung kann auch bewirken, dass das Dach von seinen Stützen abhebt. "Die gesamte Dachkonstruktion hätte beim Unwetter im Juni 2012 kollabieren können", schlussfolgert der Tragwerksplaner. Die Katastrophe hätte eintreten können, weil die Bahn bei den Bauarbeiten für den Tiefbahnhof in falscher Reihenfolge vorgegangen sei. Um auf Nummer sicher zu gehen, hätten zunächst Dachstützen ausgesteift und dann Glasscheiben ausgebaut werden müssen, bevor die Abrissbagger vor dem Südflügel anrollten. "Das war fahrlässig und dilettantisch. Hier ging es ja nicht um einen Hühnerstall", betont der Bauingenieur.

Ein Einsturz hätte viele Opfer gefordert 

Sicher ist, dass ein Dacheinsturz im Stuttgarter Hauptbahnhof einem Katastrophenfilm als Vorlage genügt hätte: Wie Dominosteine kippen die über hundert Dachstützen nacheinander zur Seite, unter ohrenbetäubendem Getöse splittern Glasscheiben, tonnenschwere Stahlträger und Betonplatten stürzen auf Züge und Bahnsteige. Wäre es zur Katastrophe gekommen, hätte es viele Todesopfer gegeben. Auf Reisende und Bahnmitarbeiter wären nicht nur tonnenschwere Trümmerteile des Daches gestürzt. Eine tödliche Gefahr wäre auch von herabgerissenen Oberleitungen ausgegangen.

Während Rechtsanwalt Ebert die Gefahr schon frühzeitig – noch während des Südflügelabrisses – erkannte, brauchten die Verantwortlichen der Bahn länger. Monatelang bewegten sich Millionen Reisende und Tausende Züge unter einem instabilen Bahnsteighallendach. Erst Wochen nach der Sturmnacht begann die Bahn damit, die Dachstatik zu ertüchtigen. Ende Juli 2012 wurden die ersten vertikalen Scheiben aus dem Hallendach ausgebaut. Nur im Nebensatz einer offiziellen Mitteilung vom 31. Juli 2012 verriet das S-21-Kommunikationsbüro den wahren Grund. Durch die Entfernung der rund 1000 Scheiben sollten auch "Windkräfte auf die tragenden Strukturen reduziert" werden. Ende August schließlich schwebte das Hallendach scheibenlos wie löchriger Schweizer Käse über den Reisenden. Weitere Maßnahmen folgten. Ab September ließ die Bahn die mittlere Dachstützenreihe zwischen den Gleisen 8 und 9 mit Stahlträgern versteifen. Statt Zügen belegen seither massive Betonblöcke Gleis 8. "Stahlträger und Betongewichte sollen die Stützen gegen seitliche Kräfte aussteifen, die eben typischerweise durch Windereignisse auftreten", erläutert der Tragwerksplaner die Maßnahme, die Ende November 2012 abgeschlossen war. Zudem installierte die Bahn mehrere Windmessgeräte im Dachbereich.

Indirekt bestätigte im vergangenen Herbst die Bahn selbst eine mögliche Einsturzgefahr. Nach mehrfacher Anfrage durch den Autor informierte S-21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich am 12. Oktober 2012 per Pressemitteilung, dass während "aktueller Umbauarbeiten nicht ausgeschlossen werden kann, dass infolge von Sturm und Sturmböen Teile der Dachkonstruktion beschädigt werden". Vorsorglich habe man deshalb Sicherungsmaßnahmen ergriffen. "Bei Sturm ab Windstärke 8 wird die Bahn über notwendige zusätzliche Sicherungsmaßnahmen bis hin zu einer Sperrung des Bahnsteigbereichs der Bahnhofshalle entscheiden", bestätigte Dietrich, was Jurist Ebert bereits im April beim EBA gefordert hatte.

Messgeräte im Bahnhof schlagen Alarm

In der Sturmnacht Ende Juni, als das Bahnhofsdach noch völlig ungesichert auf den Stützen lagerte, waren laut Deutschem Wetterdienst schwere Sturmböen mit Windstärke 10 durch Stuttgart gefegt. Mitte Januar 2013 räumte die Bahn im Technikausschuss des Stuttgarter Gemeinderats ein, dass die Bahnsteighalle zwei Mal wegen hoher Windgeschwindigkeiten vorsorglich kurzfristig gesperrt worden war. Kurz nach ihrer Installation hatten die elektronischen Messgeräte am 6. und 16. August 2012 Alarm geschlagen. Auf eine Anfrage der Grünen hin präsentierten die Bahnvertreter den Stadträten Unterlagen, die die Standsicherheit des Bahnhofsdachs dokumentieren sollten. "Der Bericht hat die Zweifel nicht ausgeräumt", konstatiert Grünen-Fraktionschef Peter Pätzold. Der Inhalt der Unterlagen belegt zudem eindeutig, dass die Bahn "konstruktive Maßnahmen" zur Stabilisierung des Daches erst nach der Unwetternacht am 30. Juni 2012 durchführte. Für Juristen wie Ulrich Ebert sind dies genügend Indizien, gegen Verantwortliche der Bahn wegen mehrerer Straftaten wie gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr oder Baugefährdung zu ermitteln. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft wählte dagegen den kurzen Dienstweg. Staatsanwalt Braun machte sich erst gar nicht die Mühe, den Ablaufplan mit statischen Berechnungen für den Südflügelabriss von der Bahn zur Überprüfung anzufordern. Stattdessen begnügte er sich mit einer knapp einseitigen Einstellungsbegründung an die Anzeigenerstatterin.

Die Stuttgarter Ermittlungsbehörde sieht auch keine Schuldigen für zwei Baustellenunfälle, die sich während des Südflügelabrisses ereigneten. So wurde am 14. April 2012 eine Passantin von einem Mauerbrocken getroffen und verletzt. Nachdem der Baggerführer ein Mauerstück aus dem Südflügel "planmäßig abgerissen und auf einen Schutthaufen abgelegt" habe, sei es durch "eine Art Wippeffekt" zum Steinschlag gekommen, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Ein Vorwurf wegen fahrlässiger Köperverletzung sei niemandem zu machen. Nach Kontext-Informationen hatte der Baggerführer zum Unfallzeitpunkt jedoch knapp 1,5 Promille Alkohol im Blut. Schon zuvor hatte es Hinweise auf ausgiebigen Alkoholgenuss auf der Baustelle gegeben. Auch sprechen die Akten bei Baggerführer und Bauleiter von "früheren polizeilichen Erkenntnissen". Auf Schmerzensgeld kann die verletzte Passantin nicht hoffen. Wie die Bahn hat auch die Abbruchfirma eine Entschädigung abgelehnt – unter anderem mit dem Hinweis, dass der Baggerführer als Subunternehmer tätig war.

Eingestellt hat die Behörde auch ein Verfahren gegen unbekannt, nachdem während der Abrissarbeiten am 19. März 2012 eine Stütze des Bahnhofsdachs eingestürzt war. Nach dem Vorfall hatte sich das Dach an Gleis 16 abgesenkt. Verletzte waren nicht zu beklagen, obwohl Scherben zerborstener Dachscheiben auf einen Zug und den Bahnsteig fielen. Auslöser für den Unfall war laut Staatsanwaltschaft ein in der Südflügelwand verbauter Stahlträger, der auf keinem Plan verzeichnet war. Mit ihm touchierte der Baggerführer die Dachstütze, die unter der Belastung einknickte.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


7 Kommentare verfügbar

  • D.S.
    am 29.07.2013
    Antworten
    bei den Parkschützern wird auch das verzogene Dach mal wieder diskutiert (mit Fotos):
    http://www.parkschuetzer.de/statements/159631
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!