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Tod oder Leben

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Der erste grüne Oberbürgermeister in einer deutschen Landeshauptstadt – alles deutet darauf hin. Zu verdanken hat es Fritz Kuhn dem Debakel seiner Konkurrenten von CDU und SPD, die sich fragen müssen, auf welchem Stern sie leben. Ihre Antworten: Tod oder Leben von S 21 (Turner), Kuhn wählen (Wilhelm).

Im Stuttgarter Ratskeller: CDU-Chef Kaufmann geleitet seinen Kandidaten Turner zum Ausgang. Foto: Martin StorzDer erste grüne Oberbürgermeister in einer deutschen Landeshauptstadt – alles deutet darauf hin. Zu verdanken hat es Fritz Kuhn dem Debakel seiner Konkurrenten von CDU und SPD, die sich fragen müssen, auf welchem Stern sie leben. Ihre Antworten: Tod oder Leben von S 21 (Turner), Kuhn wählen (Wilhelm).

Die Zahlen, die komplett <link http: wahlen1.stuttgart.de wahlen wahl_h oberbuergermeisterwahl hauptwahl obhw2012_stadtbezirke.html _blank external-link-new-window>hier zu finden sind, sprechen für sich: Kuhn (36,5 Prozent), Turner (34,5), Wilhelm (15,1), Rockenbauch (10,4). Und die neuen Töne auch. Schluss mit dem Miteinander, vorbei mit der Umarmungsbrezel, jetzt soll es um eine "Richtungsentscheidung" gehen. Denn Sebastian Turner und Thomas Strobl, der Landeschef der CDU, haben noch ein Thema gefunden, mit dem sie glauben, das Wunder bewirken zu können: Stuttgart 21. Wenn die Grünen nicht nur in der Villa Reitzenstein regierten, sondern auch noch im Stuttgarter Rathaus, "dann stirbt S 21", sagt Strobl, der Schwiegersohn von Wolfgang Schäuble. Jetzt ist die Frage, wer das als Drohung empfindet und wen das an die Urne treibt? Beim urbanen Teil der Christdemokraten knüpfen sich daran erhebliche Zweifel. Auch angesichts der <link http: www.kontextwochenzeitung.de newsartikel vorturner-kuhn _blank external-link-new-window>Kontext-Umfrage, die klar ausweist, wo die Sympathien liegen.

Zum einen, betonen sie, taugt Grün als Schreckgespenst nicht mehr. "Wer fürchtet sich vor Kretschmann", fragen einflussreiche Vertreter der Union. Der Ministerpräsident sei allseits anerkannt, mit höchsten Popularitätswerten versehen und, nachdem er seine Mobilitätspanne ("Weniger Autos sind besser") ausgebügelt hatte, auch von der Wirtschaft geschätzt. Und sein Parteifreund Kuhn sei bisher auch nicht als Bürgerverstörer hervorgetreten. Wo also, fragen sie, ist das Angriffsfeld, aus dem noch Stimmen zu graben sind?

Bei den S-21-Befürwortern wächst die Sorge ums Häusle

Und Stuttgart 21? Auch hier winken diese Christdemokraten ab. Zum einen verweisen sie darauf, dass das Thema nicht mehr oben auf der Agenda steht, zum anderen erleben sie bei der eigenen Klientel ein Umdenken. Die Befürworter, unter ihnen viele Häuslesbesitzer, erkundigten sich in großer Zahl beim Haus- und Grundbesitzerverein, ob und wie ihre Immobilien von S 21 betroffen sind. Daraus erwachse eher Angst vor dem Projekt als Unterstützung und zudem die Sorge, die Bahn könne tun und lassen, inklusive Zugentgleisungen, was sie will  – wenn der Tunnelfan Turner im Rathaus sitzt. Dort heißt es: "Die wollen von ihrem neuen Oberbürgermeister geschützt werden."

Auch im zweiten Steinbruch, in dem die Turner-Truppe arbeiten will, entdeckt der liberale Flügel der CDU keine Findlinge: bei der Wirtschaftskompetenz, die der Multimillionär für sich beansprucht. Wer in Versammlungen erzähle, die Porsche-Mitarbeiter verdienten zu Recht mehr als Lehrer, weil sie eine höhere Wertschöpfung erzeugten, höhnen frustrierte Unionisten, sei wohl mit dem Klammerbeutel gepudert. Und wer sich brüste, bereits als Achtjähriger Unternehmer gewesen zu sein, habe ein Rad ab. Gerade in diesen Zeiten, in denen der coole Kapitalist in Verschiss geraten ist.

Noch wird sich keine(r) aus dem schwarzen Lager mit solchen Bemerkungen zitieren lassen. Nicht vor dem zweiten Wahlgang am 21. Oktober. Danach ist das Feld offen für die Zeit der langen Messer. Sollte Turner wieder verlieren, wird sein Wahlkampfleiter Stefan Kaufmann das erste Opfer sein. Er hat den Quereinsteiger, mithilfe von Kanzlerin Merkel und Ministerin Schavan, geholt, und ihn der Partei handstreichartig übergestülpt. Kaufmann wird dafür den Kopf hinhalten müssen und mit ihm der gesamte Vorstand.

CDU: Wir waren noch nie so weit weg von den Bürgern

Zusammen mit Turner wird er die Frage beantworten müssen, wie es sein konnte, dass er im bürgerlichen Lager, das bisher auf 60 Prozent geschätzt wurde, derart untergegangen ist. Als Vorsitzender des CDU-Kreisverbands wird Kaufmann auch erklären müssen, wofür das viele Geld gut war. Der üppige Wahlkampfetat von 400 000 Euro ist erschöpft, angeblich muss der klamme Kreisverband nochmals 70 000 Euro zuschießen, und Turner selbst, so wird berichtet, sei nicht bereit, ein weiteres Mal in die eigene Tasche zu greifen. Spenden, woher auch immer, sind immer ein guter Gradmesser für die Erfolgschancen eines Kandidaten. Im Hinblick auf die kommenden Wahlen in Bund (2013) und Stadt (2014) ist das für die Partei fatal. "Wir waren noch nie so weit weg von den Bürgern wie jetzt", schäumen führende Christdemokraten, "finanziell wie inhaltlich".

Die andere einstige Volkspartei, die SPD, kann sich nahtlos anschließen. Was muss man mehr sagen als der Genosse Landtagsabgeordnete und Mietervereinschef Rolf Gaßmann? "Ohne Not" habe die Stuttgarter SPD-Fraktion ein zentrales Thema aufgegeben, nämlich das Wohnen, das in der Stadt immer teurer wird, poltert Gaßmann. Wie also sollte die Kandidatin Bettina Wilhelm glaubwürdig eine soziale Wohnpolitik verkünden, wenn die Genossen im Rat alles abgenickt hätten, was die Mieten hat steigen lassen. 60 Prozent etwa bei der stadteigenen SWSG.

Ein Beispiel von vielen, das die Partei im freien Fall kennzeichnet. Oder muss man daran erinnern, dass selbst der blasse Rainer Brechtken anno 1996 noch 22,6 Prozent und Ute Kumpf acht Jahre später gar 45,2 erreicht hat? Die SPD wird also ihren Restwählern erklären müssen, warum sie künftig ihre Stimmen kriegen soll. Insoweit ist es konsequent, sie jetzt aufzurufen, den Grünen Kuhn zu unterstützen. Wohin die Reise bei der Rockenbauch-Fraktion geht, war bis Redaktionsschluss noch offen. Der Trend kann aber <link file:2681 download>in dem Text von Stadtrat Tom Adler (SÖS/Die Linke)  nachgelesen werden.

Wenn Kuhn OB wird, muss er auf Schusters Akten aufpassen

Im Aufzug nach oben: Hannes Rockenbauch begrüßt Wolfgang Schuster. Foto: Martin StorzEin OB Kuhn wird nun, für den Fall, dass er's wird, auf Wolfgang Schuster aufpassen müssen. Der Noch-OB hat zusammen mit Exministerpräsident Stefan Mappus und dessen Vorgänger Stuttgart 21 durchgeboxt. Schuster hat miterlebt, wie es Mappus mit seinem EnBW-Deal ergangen ist und weiß, dass auch einige seiner Deals auf den Tisch kommen werden. Im Gegensatz zu Kretschmann hat Kuhn einen Regierungswechsel an führender Stelle mitgemacht. Das war 1998, als Gerhard Schröder und Joschka Fischer die Regierung Kohl ablösten. Als "strategischer Kopf", wie die Grünen immer wieder betonen, dürfte Kuhn großes Interesse an einigen S-21-Akten haben, die die Öffentlichkeit nicht kennt. Vor allem an Akten, die zeigen, wie Schuster und der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger den Bahnvorstand mit vielen Steuergeldern dazu bringen konnten, das bereits tot geglaubte Milliardenprojekt doch zu bauen.

Unterlagen aus dem Stuttgarter Rathaus belegen jedenfalls, dass die Deutsche Bahn AG im Jahr 2000 eigene Kosten auf Stadt und Land abwälzen konnte. Die damalige rot-grüne Bundesregierung und der von ihr ernannte Bahnchef Hartmut Mehdorn machten die Entscheidung über Stuttgart 21 davon abhängig, "ein positives betriebswirtschaftliches Ergebnis abzusichern". Mehdorn wollte dies durchsetzen, "indem die Risiken der Grundstückserlöse sowie aus Verfahrens- und Baukostenentwicklung auf die Vertragspartner Land, Region und Stadt möglichst abgewälzt werden". So heißt es in einer von OB Schuster unterzeichneten Vorlage vom 11. Februar 2000. Kurz: die Steuerzahler in Baden-Württemberg sollen zahlen und die Stuttgarter doppelt. Dabei hatte sich die Bahn damals, wie Schuster in dem Papier einräumt, bis zuletzt geweigert, die Berechnung der Wirtschaftlichkeit transparent zu machen. Mehdorn hatte lediglich ein DIN-A4-Blatt vorgelegt.

Trotzdem leistete die Stadt "ihren Beitrag" zu S 21 durch den vorzeitigen Kauf der Gleisflächen, die mit dem Bau des Tiefbahnhofs frei werden sollen. Insgesamt bezahlte Schuster für Bahngrundstücke rund 460 Millionen Euro. Doch die Flächen werden, wenn überhaupt, vermutlich frühestens im Jahr 2025 frei. Zusammen mit dem Zinsverlust würde die Stadt das Geschäft bis dahin über eine Milliarde Euro kosten.

In Lenkungskreis und Kommunikationsbüro könnten Stellen frei werden

Bis dahin fließt noch viel Wasser im Schlossgarten zusammen, und bis dahin gibt es noch viel zu tun. Zum Beispiel im S-21-Lenkungsausschuss, in dem ein OB Kuhn das Kräfteverhältnis verändern würde, wie der Esslinger Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Claus-Joachim Lohmann, betont. Neben Verkehrsminister Winfried Hermann wäre Kuhn der zweite Grüne in dem Gremium und würde mit ihm zusammen die mit Abstand größten Geldgeber vertreten. Niemand in Hermanns Ministerium oder in der grünen Staatskanzlei könnte sich dann noch auf die Minderheitsposition des Landes berufen. Denn die CDU wäre nur noch mit Thomas Bopp vertreten, dem Vorsitzenden des Verbands Region Stuttgart.

Darüber hinaus fällt Experte Lohmann noch eine Einrichtung ein: das S-21-Kommunikationsbüro. Es wird von Wolfgang Dieterich geleitet und von der Stadt mitfinanziert. "Warum sollte Kuhn diese einseitige Informationspolitik weiter unterstützen?", fragt Anwalt Lohmann.

Aber noch ist nicht alles für die CDU verloren. Am Freitag, den 12. Oktober, kommt Angela Merkel nach Stuttgart, um ihren gerupften Kandidaten zum Fliegen zu bringen.

 


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1 Kommentar verfügbar

  • peterwmeisel
    am 12.10.2012
    Antworten
    Ein Nachruf - Schaden fürs Volk angerichtet:
    Unterlagen aus dem Stuttgarter Rathaus belegen jedenfalls, dass die Deutsche Bahn AG im Jahr 2000 eigene Kosten auf Stadt und Land abwälzen konnte. Kurz: die Steuerzahler in Baden-Württemberg sollen zahlen und die Stuttgarter doppelt. 2008 verliert…
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