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Landtagspräsident:innen

Visitenkarte des Parlaments

Landtagspräsident:innen: Visitenkarte des Parlaments
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Landtagspräsident:innen sind alles andere als bloßes föderales Beiwerk. Mit den Wahlen im Osten und den Erfolgen der AfD rückt das zweithöchste Amt, das Landesparlamente in Deutschland zu vergeben haben, in den Fokus. Und die Möglichkeiten, es zu missbrauchen.

Muhterem Aras will "Integration vorleben", sie äußert sich zu vielen politischen Themen, sie vertritt Baden-Württemberg in EU-Gremien, sie kann und hat die Zugangsregeln zum Hohen Haus bestimmen. Die Präsidentin des Südwest-Landtags rügt und ermahnt, schneidet Redner:innen das Wort ab, sie hat – einmalig in der Geschichte des Landes – sogar die Polizei in den Plenarsaal holen müssen, als rechtsnationale Abgeordnete den von ihr verfügten Ausschluss von der Sitzung nicht hinnehmen wollten. Die Grüne hat ihre Rolle gefunden. Und ein schönes Motto: "Ich bin überparteilich, aber nicht neutral."

Landtagspräsident:innen werden in der Regel von der stärksten Fraktion gestellt, in Baden-Württemberg war das jahrzehntelang die CDU – bis 2016, als sie erstmals von den Grünen überholt wurde. Schon die Idee, nach der Wahl die Stuttgarter Steuerberaterin mit Gemeinderatserfahrung Aras auf den Chefsessel des Parlaments aufrücken zu lassen, war verbunden mit einer doppelten politischen Botschaft. Erstens an die Union, die Ansage: "Ihr habt es versemmelt, die erste Frau seit 1952 nach elf Männern zum Zug kommen zu lassen, obwohl sich mit Friedlinde Gurr-Hirsch eine Kandidatin aus den CDU-Reihen angeboten hatte." Und zweitens an die damals neu, aber als drittstärkste Kraft ins Parlament eingezogene AfD, deren Hardliner sich ab sofort von einer Präsidentin mit Akzent und kurdischen Wurzeln zurechtweisen lassen mussten und müssen, häufig mehrmals während vieler ihrer haarsträubenden Reden.

Zwölf der insgesamt 17 Präsident:innen im Bundes- und in den Landtagen sind inzwischen Frauen. Alle gemeinsam legen ihre Tätigkeit politisch an. Prominenteste Beispiele sind Wolfgang Schäuble und Norbert Lammert (beide CDU) im Bundestag. Neben der Sitzungsleitung bieten sich unterschiedlichste Gelegenheiten, Profil zu zeigen als Visitenkarte des jeweiligen Parlaments: durch die Einladung von Initiativen oder Vereinigungen in den Landtag, durch eigene Auftritte und Reden. Aras meldet sich beispielsweise beim Auftakt von Plenarsitzungen regelmäßig zu brisanten aktuellen Themen zu Wort. Sie ist mit tagespolitischen Fragen, mit mittel- und langfristigen Positionierungen befasst, weil sie in Brüssel den Südwesten im Ausschuss der Regionen (AdR) vertritt, der immer dann von Kommission und Parlament konsultiert werden muss, wenn Rechtsvorschriften die kommunale und regionale Ebene betreffen. Einen Eindruck der umfangreichen Arbeit vermitteln Jahr für Jahr seit 2009 die sogenannten Wirkungsberichte.

Rechtsextreme fühlen sich provoziert

Aktuell führt Aras, seit Juli 2024, für ein Jahr den rollierenden Vorsitz der Konferenz der Landtagspräsident:innen. Bereits die zweite Legislaturperiode im Amt, machte die Grüne von Anfang an durch die Auswahl von Reisezielen auf sich aufmerksam. So besucht die Tochter alevitischer Kurden, die mit zwölf Jahren nach Filderstadt bei Stuttgart kam, seit 2017 konsequent Gedenkorte der NS-Judenverfolgung im Land. In den Augen der AfD steht ihr das aber gar nicht zu: Emil Sänze, der Rottweiler Abgeordnete und Landesvorsitzende, sprach ihr mehrfach wegen ihrer Herkunft das Recht ab, sich überhaupt zur Naziherrschaft in Deutschland zu äußern: "Es fällt schon auf und wirkt peinlich, mit welcher geschmacklosen Verve unsere Landtagspräsidentin den deutschen NS-Schuldkomplex wieder für ihre politische Migrantengesellschaft-Agenda instrumentalisiert", sagte er mal. Ihre Vorfahren hätten nichts zur Geschichte des Landes beigetragen und keine Opfer gebracht, daher brauche man von ihr keine Belehrung über den Holocaust und keine "Delegitimierung des gewachsenen deutschen Staatsvolkes".

Prägnanter lässt sich völkisches Blut-und-Boden-Denken kaum darstellen. Und es könnte sich bald auch bei einem oder sogar zwei von Aras' Amtskollegen finden. Nach der Landtagswahl in Thüringen am vergangenen Sonntag, wo die AfD stärkste Partei wurde, könnte es dort einen rechtsextremen Parlamentspräsidenten geben – auch wenn die größte Fraktion streng genommen nur ein Vorschlagsrecht für dieses Amt besitzt. Das Gleiche droht in Brandenburg, wenn am 22. September die AfD auch dort Platz eins erobert. Sie dürfte ebenfalls markante Duftmarken setzen. Die Verlockung, nicht nur vor dem eigenen Anhang, sondern als oberster Repräsentant eines Landtags und formal zweithöchster Repräsentant nach den jeweiligen Regierungschef:innen aufzutreten und AfD-spezifische Botschaften in den Parlamentsbetrieb einzubringen, wird beträchtlich sein. Andere Präsident:innen agierten doch auch politisch, wird es heißen. Diese Scheinlogik unterschlägt, dass bisher keine andere Partei vom Verfassungsschutz das Prädikat "gesichert rechtsextrem" verliehen bekam.

Aras macht sich für Forschung zur NS-Zeit stark

Viele von einer breiten Öffentlichkeit unbeachtete Vorgänge im Alltag der Parlamente sind hoch bedeutsam für die Außen- und Innendarstellung von Demokratie. Aras hat sich erst kürzlich erfolgreich für die Finanzierung eines Forschungsprojekts starkgemacht, das untersucht, ob im Landtag ausgestellte Kunstwerke, dargestellte Persönlichkeiten sowie die Kunstschaffenden durch den Nationalsozialismus belastet sind. Im zweiten Teil werden mögliche NS-Belastungen bei Abgeordneten der südwestdeutschen Parlamente zwischen 1946 und 1956 durchleuchtet. Aras nennt "die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in allen Bereichen der Gesellschaft und damit in den Landesparlamenten einen zentralen Baustein unseres Versprechens: Nie wieder."

Mehrere Landtage befassen sich gegenwärtig mit den Jahren vor 1933 oder mit den Wochen und Monaten unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung der Nazis. Das rheinland-pfälzische Landesparlament in Mainz zum Beispiel beschäftigt sich mit den frühen Konzentrationslagern. Sogar wählen gehen, unausgesprochen oder ausgesprochen gegen rechts, ist Thema. Für Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben die Landtagspräsident:innen, parteiübergreifend der Linken, der CDU und der SPD, Mitte August eine bemerkenswerte gemeinsame Erklärung präsentiert, in der sich der Dresdener Matthias Rößler deutlich absetzt von seinem CDU-Parteifreund und Ministerpräsidenten Michael Kretschmer.

Letzterer machte nicht nur aggressiv Wahlkampf gegen die eigenen Koalitionspartner SPD und Grüne, sondern auch mit einem Zerrbild der angeblich von Rot-Rot-Grün verantworteten miesen Verhältnisse im Nachbarland Thüringen. Rößler hingegen anerkannte in dem gemeinsamen zweiseitigen Papier, dass in Sachsen, Thüringen und Brandenburg "in den vergangenen fünf Jahren viel erreicht" worden sei: Die ostdeutschen Länder stünden "wirtschaftlich und sozial stabil da": Am 1. September gehe es um die Frage, "ob unsere Länder das Miteinander stärken oder ob sie durch ein Erstarken extremistischer Kräfte an Zukunftsfähigkeit einbüßen". Deshalb sollten die Bürger und Bürgerinnen die Teilnahme an der Wahl nutzen "für den Schutz unserer Demokratie und für den Zusammenhalt" .

Wie mit starken Rechten umgehen? Es gäbe Beispiele

Erfolg ist dem parteiübergreifenden Appell der Parlamentsvorsteher insofern vergönnt, dass die AfD zumindest in Sachsen keine Sperrminorität im Landtag, also mehr als ein Drittel der Mandate, erlangen konnte. Anders in Thüringen, wo sie zwar "nur" 32,8 Prozent der abgegebenen Stimmen bekam, aber 36,4 Prozent der Mandate erhält – dank der an der Fünfprozenthürde gescheiterten Parteien, die zusammen knapp neun Prozent der Wähler:innenstimmen ausmachen. Damit besitzt die AfD mit 32 von 88 Sitzen eine satte Sperrminorität im Erfurter Landtag und kann alle Beschlüsse, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit brauchen, blockieren. Die Selbstauflösung des Erfurter Landtags gehört übrigens, anders als seit dem Wahlsonntag vielerorts behauptet wird, nicht dazu, weil dessen Geschäftsordnung in Paragraf 49 einen zweiten Weg nach einem erfolglosen Vertrauensantrag kennt.

Hetze im Hohen Haus

Im Parlament setzen Ermahnungen als mildeste Mittel den Rahmen für Reden und in Debatten. Die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) hat sich zur Angewohnheit gemacht, bevor sie zum Instrument der offiziellen Rüge von unakzeptablen Zwischenrufen oder Redepassagen greift, erst einmal eine dem Hohen Haus angemessene Tonlage zu verlangen. Ordnungsrufe und die Entziehung des Wortes "bei gröblicher Verletzung" sind in der Geschäftsordnung geregelt. Volksverhetzung insgesamt im Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs. Die liegt danach unter anderem dann vor, wenn "gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ethnischen Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufgestachelt oder zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen aufgefordert wird". Und wenn "die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht oder rechtfertigt wird". Enger würden die Spielräume, hätte die Bundesrepublik wie Österreich einen sogenannten Wiederbetätigungsparagrafen. Denn darin sind der nationalsozialistische Völkermord und die anderen nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit als strafbewehrte Tatsachen festgestellt. Ein Beweis muss nicht mehr geführt werden, was die Spielräume rechter Agitator:innen innerhalb und außerhalb von Parlamenten zumindest auf diesem Gebiet erfreulich eng reglementiert.  (jhw)

Vorstellbar ist, wie in niederschwelligeren Personalfragen durchaus bereits geschehen, von dem Brauch abzuweichen, wonach die jeweils stärkste Fraktion die Landtagspräsidentin oder den Landtagspräsidenten stellt. Sehr unterschiedlich fällt der Umgang mit den Vizes aus. In Baden-Württemberg wurde zwischen 2016 und 2021 die Zahl der Aras-Stellvertreter von zwei auf einen zusammengestrichen, um so zu verhindern, dass die AfD nach dem Amt greifen kann. Der Bundestag hat mit dem Argument, Traditionen seien keine Gesetze, der Rechtsaußen-Opposition den Vorsitz in Ausschüssen verweigert. In Stuttgart ist bereits ein gutes Dutzend Mal der Versuch der AfD, ins Kuratorium der Landeszentrale für politische Bildung eigene Abgeordnete zu entsenden, an der Landtagsmehrheit gescheitert.

Derartige Operationen sind nicht elegant, aber unstrittig zulässig. Genauso, dass eine andere als die größte Fraktion das Amt der Ministerpräsident:innen besetzt. Die CDU im Südwesten lieferte dafür die eindrücklichste Steilvorlage überhaupt: Stefan Mappus verzichtete 2011, trotz Platz eins mit 39 Prozent, darauf, Sondierungsgespräche mit SPD und Grünen aufzunehmen. So kam der Grüne Winfried Kretschmann als Ministerpräsident, um zu bleiben. Und ihre Stärke wusste die CDU als Sperrminorität ab 2011 zu nutzen, als die von Grün-Rot geplante Verfassungsänderung zu Bürgerbeteiligung und Volksabstimmung über Monate von ihr blockiert und schlussendlich verwässert wurde.

 

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1 Kommentar verfügbar

  • Wes
    am 09.09.2024
    Antworten
    Jetzt wo es zu spät ist und der Karriere nicht mehr schadet wird gerne uind eifrig die NS-Vergangenheit aufgearbeitet. Mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit müssen wir wohl noch warten bis es etwas später ist und auch keiner Karriere mehr schadet.
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