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Stuttgart 21 und Gäubahn

Karikatur eines Faktenchecks

Stuttgart 21 und Gäubahn: Karikatur eines Faktenchecks
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Was am vergangenen Freitag als "Faktencheck Gäubahn" angekündigt war, verdiente diesen Namen nicht. Stattdessen präsentierten Vertreter von Bahn und Stadt Stuttgart ihre interessengeleitete Sicht der Dinge.

Vielleicht hätte Florian Bitzer am Freitag seinen Ausführungen den Satz des früheren Bundesinnenministers Thomas de Maizière (CDU) voranstellen sollen: "Ein Teil dieser Antworten könnte die Bevölkerung verunsichern." Denn seine Zuhörer:innen lernten, dass Bahninfrastruktur blitzschnell veralten kann. Bitzer, Vertreter der Bahn AG in der Stuttgart-21-Projektgesellschaft, sagte sinngemäß: Bis 2025 können zwar noch Züge auf den jetzigen oberirdischen Gäubahn-Gleisen in den alten Stuttgarter Hauptbahnhof fahren. Aber Schlag 2025 geht das nicht mehr, da müssten "umfangreiche Erneuerungen der Gleisanlagen" sowie Ersatzneubauten erfolgen, Erneuerungen der Oberleitungen, der Leit- und Sicherheitstechnik und und und. Denn da sei jetzt lange nicht mehr viel gemacht worden, weil, tja, irgendwann kommt ja Stuttgart 21 und da ist dann alles ganz neu. Und wer jetzt gleich an den Oberleitungsschaden im Juli denkt (Kontext berichtete) und fürderhin mit leicht mulmigem Gefühl im Zug sitzt, dem sei im Sinne Bitzers gesagt: Bis 2025 wird's schon noch halten. Ganz bestimmt.

Bitzer, das nur nebenbei, hat schon einmal das Fehlen einer Brandsimulation fürs Rettungskonzept eines S-21-Tunnels damit begründet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zug im Tunnel liegen bleibe und nicht brennt, nun mal "mit Abstand größer als ein Brandereignis" sei. An Kreativität mangelt es ihm also nicht, das zeigte auch sein Vortrag zu den Gleisanlagen: Der stand in seltsamem Gegensatz zu einer Studie seines Arbeitgebers. Die DB AG hatte 2018 klären lassen, ob es technisch und finanziell machbar sei, die Gäubahnzüge weiter über die alte Trasse in einen zurückgebauten Kopfbahnhof fahren zu lassen, ehe eine neue Gäubahnführung auf den Fildern fertig sei. Ergebnis: geht und würde je nach Ausführung zwischen 1,5 und 2,8 Millionen Euro kosten – Peanuts also bei bald zehn Milliarden Euro S-21-Projektkosten.

Check? Farce!

Gäubahn und S 21

Die Gäubahn, die momentan noch über die am Rand des Stuttgarter Talkessels geführte Panoramabahn den Hauptbahnhof anfährt, hat im Rahmen der Stuttgart-21-Planungen eine Sonderstellung: Während die übrige alte Bahninfrastruktur rund um den Stuttgarter Kopfbahnhof auch nach Inbetriebnahme von S 21 eine Zeit lang bestehen bleiben soll, bis der Tiefbahnhof seine Testphase bestanden hat, ist dies bei der Panoramabahn nicht der Fall. Denn ihre Gleise sind der im Zuge von S 21 leicht geänderten S-Bahn-Führung über die neue Haltestelle Mittnachtstraße im Weg. Eine Rampe, über die die Gäubahnzüge jetzt in den Hauptbahnhof kommen, soll deshalb einige Monate vor der S-21-Eröffnung abgerissen werden. Ursprünglich waren für diese Unterbrechung nur vier bis sechs Monate vorgesehen, aber Anfang 2019 wurde eingeräumt, dass wegen Planungsverzögerungen bei der S-21-Gäubahnführung über den Flughafen (Planfeststellungsabschnitt 1.3b) die Unterbrechung eine mehrjährige sein wird.

Mittlerweile ist die alte Planung dieses Abschnitts de facto aufgegeben; stattdessen soll sie durch den 11,5 Kilometer langen Pfaffensteigtunnel ersetzt werden, eine Idee, die Mitte 2020 der damalige Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Steffen Bilger (CDU) präsentierte. Der Tunnel würde das größte Problem der alten Planung, den extrem verspätungsanfälligen Mischverkehr von Fern- und S-Bahnen, zwar vermeiden, hat aber viele neue: Er wird sehr teuer werden, sein Bau verursacht enorme Treibhausgasemissionen – und der Zeitpunkt seiner Fertigstellung steht in den Sternen, die Schätzungen liegen zwischen in sechs und 15 Jahren. Was die Finanzierung angeht, erklärte am 19. Juli dieses Jahres das Bundesverkehrsministerium, der Bund werde nicht nur die "Gesamtfinanzierung" tragen, sondern auch das "Risiko einer Kostensteigerung" – zuzüglich zu 270 Millionen Euro, die aus dem S-21-Projekttopf umgeschichtet werden. Bund und Bahn schätzen die Gesamtkosten momentan auf eine Milliarde Euro, der Münchner Verkehrsexperte Karlheinz Rößler auf 2,7 Milliarden.  (os)

All das hätte von allen Seiten gecheckt und angeschaut werden können, nannte sich doch die Veranstaltung am vergangenen Freitag, bei der Bitzer sprach, "Faktencheck Gäubahn". Was in den Räumen der Sparkassenakademie Stuttgart über die Bühne ging, verdiente diese Bezeichnung allerdings nicht – es war eher die schlechte Karikatur eines Faktenchecks: Vertreter von Bahn, Stadt Stuttgart und Land präsentierten ausschließlich ihre interessengeleitete Sicht der Dinge.

Organisiert hatte die Veranstaltung der Interessenverband Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn, meist nur Interessenverband Gäubahn genannt, denn um die geht es ja auch, vor allem um ihren letzten Abschnitt zwischen Stuttgart-Vaihingen und Stuttgarter Hauptbahnhof: die Panoramabahn. Und hier fängt es an, verwirrend zu werden. In Kürze: Die Panoramabahn soll nach bisherigen Bahn-Plänen einige Monate vor Inbetriebnahme von Stuttgart 21 (geplant: Ende 2025) stillgelegt und die Gäubahn damit vom Hauptbahnhof abgekoppelt werden. Und diese Abkopplung wird nach aktuellem Stand mindestens sechs Jahre dauern, eher mehr (wer's genauer wissen will: siehe Kasten).

Gewaltig stinkt das den Bürgermeistern der Städte entlang der Gäubahn, von Böblingen bis Konstanz, die einst teils kräftig für S 21 trommelten wie der Tuttlinger OB Michael Beck, aber inzwischen realisiert haben, dass das Projekt nicht ganz so "bestgeplant" ist wie versprochen. Die Anrainer wollen, dass die Gäubahn interimsweise weiter über die bestehende Trasse an den oberirdischen Hauptbahnhof angeschlossen bleiben soll, bis der neue Anschluss an S 21 fertig ist. Die Bahn teilt in besagter Studie mit, das sei machbar; das Landesverkehrsministerium bestätigte dies auf Kontext-Anfrage schon 2019. Der Ball liegt also im Feld der Landeshauptstadt Stuttgart, die einen Weiterbetrieb auf gar keinen Fall will, weil sie auf den dann ehemaligen Gleisflächen möglichst schnell Häuser bauen will.

Sind wir nicht alle ein bisschen Gäubahn?

Eine Position, die Stuttgarts OB Frank Nopper (CDU) gerne betont, auch wenn er sich am Freitag harmoniebedürftig präsentierte: "Wir sind alle Gäubahn, die Gäubahn verbindet uns, und sie sollte uns nicht trennen." Ja, sind wir nicht alle ein bisschen Gäubahn?

Dann übergab Nopper an seinen Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne), der seine bekannte Sicht darlegte, warum auf gar keinen Fall oberirdische Gleise liegen bleiben dürfen, weil das die ganze schöne Planung fürs Europa- und Rosensteinquartier zunichte mache. Dass er einst als S-21-Gegner für die Vereinbarkeit von Neubebauung und oberirdischen Gleisen focht, darauf hat Kontext schon gelegentlich hingewiesen – hier nochmal ein schönes Video von 2013 dazu.

Auf Pätzold folgte Rüdiger Weiß von der DB Netz AG, der die Bahn-Sicht auf verschiedene Gäubahn-Varianten darlegte: Ein Streckenende in Stuttgart-Vaihingen oder an einem noch zu bauenden Nordhalt, eine Führung über Renningen, eine über Tübingen oder eine Verlängerung der S-Bahn über Herrenberg bis nach Horb oder Rottweil. Oder über die S-Bahn-Stammstrecke bis zum Hauptbahnhof – eine besonders aparte Idee, denn momentan läuft's genau umgekehrt: Die Panoramabahn wird regelmäßig als Ausweichstrecke für die S-Bahn bei Störungen auf der Stammstrecke gebraucht. Sanft skeptische Worte zu Ausführungen der Bahn äußerte nur Gerd Hickmann vom Verkehrsministerium, der das Nordhalt-Konzept vorstellte. Dann war Mittagspause und danach durfte noch zwei Stunden diskutiert werden.

Noch ein Faktencheck, um Zahlen zu prüfen

Vertreter:innen von Verkehrs- und Fahrgastverbänden hatten schon im Vorfeld das Fehlen unabhängiger Expert:innen moniert. Wie wichtig das gewesen wäre, zeigte die Diskussionsrunde deutlich. Denn Kritik an den vorgetragenen Positionen kam zahlreich, doch ohne ausführlichere Präsentation blieb sie häufig einfach im Raum stehen. Mehrere Teilnehmer wie Böblingens OB Stefan Belz (Grüne) oder sein Singener Kollege Bernd Häusler (CDU) plädierten dafür, die interimsweise oberirdische Hauptbahnhof-Anbindung nicht aufzugeben, auch wenn sie jetzt konsequent schlechtgeredet worden sei. Die Bahn behauptete, es gäbe kaum Reisende, die mit der Gäubahn kommend am Hauptbahnhof umsteigen wollten. Das wurde moniert: Diese Fahrgastzahlen würden den Nahverkehr gar nicht berücksichtigen. Wieder andere vertraten die Ansicht, dass die Zahlen ohnehin nicht Hauptargument seien, weil es um größtmögliche Bequemlichkeit für die Fahrgäste gehe.

Matthias Lieb vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) forderte, Fachbüros müssten noch einmal die vorgetragenen Zahlen überprüfen, kurz, die Fakten checken, und plädierte daher für eine weitere Veranstaltung. Und Stefan Frei vom Landesnaturschutzverband Baden-Württemberg, der auch die Weiterführung zum Hauptbahnhof fordert, bat in Richtung Bitzer und Regionalverbandspräsident Thomas Bopp (CDU), "nicht bei der Kritik an unseren Vorschlägen strengere Maßstäbe anzulegen als bei den von Ihnen favorisierten Versionen".

Wie schwierig der Umgang mit Kritik für Ungeübte sein kann, machte Bopp, seit jeher als glühender S-21-Freund bekannt, gegen Ende der Veranstaltung deutlich: "Jetzt haben wir heute Vormittag so sachliche, erhellende Vorträge gehabt, jetzt müssen wir aufpassen, dass wir durch die Diskussion nicht die Erhellung wieder vernebeln."

Ob man es nun Erhellung oder Vernebelung nennen will: Aus der bislang geschlossenen Gäubahn-Anrainer-Allianz für eine Streckenweiterführung zum Hauptbahnhof scherten mittlerweile die ersten aus. Der zukünftige Rottweiler OB Christian Ruf (CDU) favorisiert mittlerweile eine Verlängerung der S-Bahn bis Rottweil, und auch seine Amtskollegen und Parteifreunde Bernd Häusler (Singen) und Peter Rosenberger (Horb) scheinen in diese Richtung zu denken.


Alle Präsentationen des "Gäubahn-Faktenchecks" vom 25. November gibt's hier zum Download.


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5 Kommentare verfügbar

  • Murks21
    am 01.12.2022
    Antworten
    Die professionellen, halb-professionellen und uniformierten Unterstützer des Super-Gaus "Stuttgart 21" versuchen weiter, ihre Fehlplanungen und die verzweifelten Nachbesserungsmassnahmen schönzureden. Der Super-Gau "Stuttgart 21" kann nur teuerer werden.

    Die bestdotierten "Stuttgart 21"-Anwälte…
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