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Akten zu S 21 und "Schwarzem Donnerstag"

"Entschuldigung? Nie!"

Akten zu S 21 und "Schwarzem Donnerstag": "Entschuldigung? Nie!"
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Die seit Kurzem öffentlichen Akten rund um den ersten Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten 2010 erlauben auch neue Einblicke in den zweiten. Der tagte zwischen 2013 und 2016, und wieder mühten sich CDU und FDP um eine Banalisierung des Skandals.

Als Hans-Ulrich Sckerl, zuletzt parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, im vergangenen Februar starb, war an Würdigungen kein Mangel. Einen "standhaften und verlässlichen Frontkämpfer für unsere Demokratie" nannte ihn Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU), einen "feinen Kerl", mit dem er vertrauensvoll und "unheimlich gerne zusammengearbeitet" habe. So bestimmt das Machtstreben die Perspektive. Denn nur wenige Monate bevor diese Zusammenarbeit im Mai 2016 begann, war die Einschätzung des Kommunal- und Innenexperten Sckerl durch die CDU eine ganz entgegengesetzte.

Im Februar 2016 debattierte der Landtag den Abschlussbericht des Gremiums mit dem langen offiziellen Namen "Aufklärung einer politischen Einflussnahme der CDU-geführten Landesregierung Mappus auf den Polizeieinsatz vom 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten und auf die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses 2010". Wie schon im Januar 2011, bei der Debatte über den Abschlussbericht des ersten U-Ausschusses, standen die heißen letzten Wochen eines Wahlkampfs bevor. Nicht die Wahrheit zu sagen und Fakten zu verdrehen, wurde dem Grünen-Ausschussobmann Sckerl in immer neuen Zwischenrufen aus den Bankreihen der Schwarzen vorgeworfen. Persönliche Anwürfe und Verunglimpfungen gehörten zur Strategie, um die Aufarbeitung der Ereignisse zu behindern.

Einer der Unionsabgeordneten, Karl-Wilhelm Röhm, inzwischen ausgeschieden aus dem Landtag, tat sich besonders hervor bei der Umdeutung der Ereignisse. Als Sckerl seiner Erwartung Ausdruck verlieh, dass die damaligen Regierungsparteien nach fünf Jahren, vier Monaten und 18 Tagen politische Verantwortung übernehmen und sich bei den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Stuttgart für diesen Polizeieinsatz entschuldigen, platzte dem früheren Münsinger Gymnasialrektor Röhm endgültig der Kragen: "Dafür gibt es gar keinen Grund. Das werden Sie nie erleben. (…) Die Chaoten haben Fehler gemacht! Es geht um die Chaoten!"

Tatsachen verschleiern, Nebelkerzen zünden

Wer und was darunter wiederum zu verstehen sein sollte, hatte der Stuttgarter Hardliner Reinhard Löffler am Rednerpult des Landtags schon geklärt: "Ein Mime zelebrierte ein Gelöbnis am Bahnhof; eine fromme Pastorin feierte Feldgottesdienste; eine Trutzburg von Parkschützern, deren Straftaten nicht verfolgt wurden; Stolperfallen für Polizeipferde, Anspucken von Polizisten und die militante Drohung 'Bei Abriss Aufstand' – diese explosive Mischung hat den Schwarzen Donnerstag mit ermöglicht, nicht nur die Fehler beim Polizeieinsatz." Immerhin, ein kleiner Erfolg, dass da die Begriffe Fehler und Polizeieinsatz zusammen aus seinem Munde kamen.

Von Einsicht allerdings keine Spur bei CDU und FDP. Denn wieder war Wahlkampf, wieder ging es darum, Tatsachen zu verschleiern, Nebelkerzen zu zünden und Erkenntnisse zu verwässern. Der Liberale Timm Kern versuchte es auf die Schönfärber-Tour, fabulierte, dass "immerhin der vage Verdacht im Raum stand, die letzte Landesregierung könnte auf den Einsatz unrechtmäßig eingewirkt und dem ersten Untersuchungsausschuss Akten vorenthalten haben, und dem galt es ohne Ansehen der Person nachzugehen". Stimmt – nur war das leider nicht geschehen. Möglicherweise mit gravierenden Folgen für die Wahlergebnisse: Die Liberalen konnten, nachdem sie 2011 nur knapp die Fünf-Prozent-Hürde nicht gerissen hatten, 2016 auf 8,3 Prozent zulegen. Die CDU aber, die 2011 trotz Stuttgart 21, Schwarzem Donnerstag, Fukushima und Stefan Mappus als Ministerpräsident noch 39 Prozent geholt hatte, stürzte fünf Jahre später ab auf 27.

Im Detail bekannt waren den Abgeordneten im zweiten Ausschuss nicht nur viele Mails, deren Herausgabe vor Gericht mühsam erstritten werden musste. Wo die Kritiker:innen bis dato auf Indizien angewiesen waren, konnten jetzt vermutete Zusammenhänge durch Fakten belegt werden. Etwa jene zwischen der geplanten Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Mappus am 7. Oktober 2010 und dem Beginn der Baumfällarbeiten im Schlossgarten, die Platz schaffen sollten für die S-21-Baustelle. "Ziel ist, das bis zu deiner Regierungserklärung alles mit den Bäumen erledigt ist! Planungen laufen ordentlich, es wird aber eine Herausforderung", schreibt die damalige Umwelt- und Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) am 21. September 2010 an den Regierungschef.

Akten mit vier Wochen Verspätung geliefert

Auch wie die Arbeit im ersten Anlauf verzögert wurde, ließ sich jetzt belegen. Erst mehr als vier Wochen nach der Einsetzung des ersten Ausschusses meldete der Regierungsbeauftragte Michael Pope, dass die Akten "synchronisiert übersandt" worden seien. Aus Gönners für Stuttgart 21 zuständigem Ministerium gab es gerade mal einen einzigen dünner Ordner mit den Protokollen vom sogenannten "Baustellen-Jour-Fixe". Plausibel ist, dass da ziemlich heftig ausgesiebt worden war. Noch am 3. November 2010 hatte Pope nicht gewusst, "wie lange wir für eine widerspruchsfreie Aufarbeitung der Akten brauchen".

Pope ist verantwortlich für das, was der frühere Richter Dieter Reicherter nach seinem Einblick in bislang nicht öffentliche Akten des Staatsministeriums "Drehbücher à la Hollywood" nennt (Kontext berichtete hier und hier). Pope hat viele Vermerke, Mails, Notizen und Empfehlungen verfasst und im zweiten Ausschuss als Zeuge sein Verständnis von der Arbeit eines Regierungsbeauftragten dargelegt. Der sei, wie der Name schon sage, "damit beauftragt, die Interessen der Regierung wahrzunehmen". Diese "zentrale Aufgabe" schließt nach seiner Meinung und der Meinung von CDU und FDP die intensive Vorbereitung des Ministerpräsidenten auf seine Vernehmung mit ein. Denn: "Wenn sich Exekutive und Legislative in einem Untersuchungsausschuss, also als streitende Parteien gegenüberstehen, ist klar, dass der Regierungsbeauftragte nicht neutral ist", so der Zeuge. Das entspreche dem geltenden Verfassungsrecht und tauge, wenn man die Sach- und Rechtslage kenne, "weder zur Skandalisierung noch zum Vorwurf der Kungelei".

Sckerl – der Grüne hatte alle Unterlagen natürlich studiert – bohrte damals nach. Ihn interessierte das hohe Maß an Übereinstimmung zwischen Mappus' Eingangsstatement und Popes Auffassung, Basis von Zeugenaussagen solle stets die persönliche Schilderung nach dem persönlichen Erinnerungsvermögen sein. Und natürlich gab es keinerlei Nachhaken von Schwarzen oder Liberalen – schon gar nicht an entscheidenden Stellen –, wenn Staatsdiener, die ganz wesentlich mit Vorbereitung und Abstimmung befasst waren, sich leider gar nicht mehr erinnern konnten. Entsprechend holzschnittartig argumentierte der CDU-Abgeordnete Löffler auch in der Landtagsdebatte: "Wir haben über Jahre hinweg keinen belastbaren Beweis gefunden, obwohl wir bei unserer Suche die Schranken des Gewaltenteilungsprinzips infrage gestellt und selbst den Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung ausgeforscht haben." Weil die Suche nie gewollt gewesen sei, konterten Grüne und SPD.

CDU und FDP: keine Lust auf Aufklärungsarbeit

Im zweiten Ausschuss waren fast 400 Aktenordner angeliefert worden. Von Anfang an zweifelte die zu diesem Zeitpunkt auf harten Oppositionsbänken leidende CDU sogar an der Verfassungsmäßigkeit. Mit immer neuen Eskalationsversuchen, darunter der Ablehnung Sckerls als Grünen-Obmann im Ausschuss, wollte die Union ablenken von der eigentlichen Aufklärungsarbeit. Dass in Franz Unterstellers (Grüne) Umweltministerium Kopien der Mails seiner Vorgängerin Tanja Gönner gefunden worden waren, nahm die Union zum Anlass für wochenlange Empörung. Im grün-roten Abschlussbericht wollte Löffler eine "Skandalisierung des Banalen" erkannt haben. In Wahrheit war Schwarzen und Liberalen über Jahre nur an der Banalisierung des Skandals gelegen.

Wer die Zeit dafür aufbringen mochte, konnte seinerzeit die Beratungen direkt im Landtag verfolgen. Viel Wichtiges kam allerdings erst nach und nach an die Öffentlichkeit, gerade weil Reicherter und sein Team nicht lockerließen in ihren Bemühungen, Einsicht in Regierungsdokumente zu S 21 zu erhalten – und dabei auch den Klageweg beschritten. Das inzwischen 11 Jahre grüngeführte Staatsministerium hätte seit November 2011 selber mit für mehr Durchblick sorgen können, aber es wollte den Ansprüchen, die in Oppositionszeiten wortreich erhoben wurden, nicht einmal 2017 nachkommen, nach einer Niederlage vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim. Stattdessen wurde der Rechtsstreit in die nächste Instanz getragen.

Dabei hätten gerade die Aufklärer:innen in der eigenen Landtagsfraktion anderes verdient. Denn, so Sckerl damals im Februar 2016, "die CDU-geführte Landesregierung hat unter Missachtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit des Landtags auf die Arbeit des ersten Untersuchungsausschusses und auf dessen Abschlussbericht mehrfach massiv Einfluss genommen". Nicht nur das wäre, bei früherer Veröffentlichung entscheidender Akten, lückenlos zu belegen gewesen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Meisel
    am 31.08.2022
    Antworten
    Für den Sündenfall Stuttgart21 gibt es keine Ent-Schuld-igung! Das Erste Buch Mose 2.15 gilt auch im 20. Jh. Beispiel Schlossgarten, Bahnhof, Schienennetz !
    Ein Autolackierer hat den S21 Finanzierungsvertrag über 4.526 Mrd. unterschrieben! Bis heute liegt der Preis über 20 Mrd! Die…
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