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StaMi-Akten zu Stuttgart 21

Mappus' Manipulationen

StaMi-Akten zu Stuttgart 21: Mappus' Manipulationen
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Erst jetzt eingesehene Dokumente zur S-21-Schlichtung und zum ersten Untersuchungsausschuss zum "Schwarzen Donnerstag" belegen, wie manipulativ die Regierung Mappus Ende 2010 vorgegangen war. Die grüngeführten Regierungen ab 2011 hätten für Aufklärung bei den massiven Täuschungen und Tricksereien sorgen können. Stattdessen führte ihre Blockade zur strafrechtlichen Verjährung.

Winfried Kretschmann wollte 2011, als neuer grüner Regierungschef in Baden-Württemberg, nicht das letzte Hemd hergeben, um Stuttgart 21 zu verhindern. Hätte er aber auch gar nicht müssen, wie jetzt nach langem Rechtsstreit freigegebene Akten aus CDU-Zeiten zeigen: Zuerst tricksten mit allen Mitteln die Projektfans im Staatsministerium seines Vorgängers Stefan Mappus, dann kamen die Grünen und deckten zu viele der Machenschaften.

Einen einzigen Ordner zu suchen und zu finden hätte gereicht. Jetzt wurden Dieter Reicherter Unterlagen, einmal 133 und einmal fünf Seiten, fortlaufend paginiert, im Staatsministerium in der Villa Reitzenstein vorgelegt. Der frühere Richter am Landgericht bekam in den ersten Augusttagen nicht zum ersten Mal Akteneinsicht, diesmal aber auch in Papiere, die er bereits Ende 2012 sehen wollte, und für deren Veröffentlichung er seit 2014 vor Gericht stritt. Die aber wollte das grüngeführte Staatsministerium über vier Instanzen bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhindern, die Deutsche Bahn dabei immer mit im Boot. Letztlich erfolglos.

Reicherter und sein Team kämpfen für viele Betroffene des "Schwarzen Donnerstags", des brutalen Polizeieinsatzes gegen S-21-Gegner am 30. September 2010. Und dafür, dass belegt werden kann, was schon immer plausibel schien: Die Regierung Mappus hat nicht nur auf den Polizeieinsatz Einfluss genommen, sondern auch auf dessen Aufarbeitung in einem Untersuchungsausschuss, bei dem der MP zwei Tage vor Weihnachten 2010 als Zeuge geladen war. Dort wollten Mappus' Berater:innen nichts anbrennen lassen, ebenso wenig bei Heiner Geißlers S-21-Faktencheck, der sogenannten Schlichtung.

Drehbücher à la Hollywood

Den einen, den größeren Teil der nun eingesehenen Akten bezeichnet Reicherter als "Drehbücher à la Hollywood" für den ersten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz, der zweite befasst sich mit der Schlichtung.

Für den Untersuchungsausschuss, das zeigen die Dokumente, hat sich Mappus offenbar ungeniert auf Basis der Aussagen schon gehörter Zeug:innen präparieren lassen. Viele Aussagen zum Ablauf der Besprechung am Vorabend des Polizeieinsatzes waren darauf angelegt, die Rolle des Regierungschefs herunterzuspielen. Auf Seite 34 in der Aufstellung vieler Vermerke, Notizen, Faxe oder Vorschläge heißt es fett gedruckt: "(Hinweis für MP: Ihr in der Sitzung gemachtes Angebot, ggf. selbst mit verschiedenen MPs zu sprechen, um zusätzliche Kräfte aus anderen Ländern zu gewinnen, wurde bislang von keinem Zeugen der Besprechung thematisiert)." Mappus beteuerte aber im Zeugenstand, operativ nichts mit dem Einsatz zu tun gehabt zu haben. Das Dokument belegt also, dass er vor dem parlamentarischen Gremium der Verpflichtung nicht nachgekommen ist, wahrheitsgemäß auszusagen und nicht Relevantes wegzulassen.

Und hier kommt nun die ab Mai 2011 grüngeführte Regierung ins Spiel. Bis 2015 hätte Kretschmanns Vorgänger möglicherweise wegen uneidlicher Falschaussage strafrechtlich belangt werden können – hätte das Staatsministerium die Akten nicht bis zuletzt gemauert. Doch nun ist die Sache verjährt.

Ins Spiel kommen die Grünen auch in ganz besonderer Weise bei der Schlichtung. Alles sollte auf den Tisch, das war die Devise von Heiner Geißler, und alle sollten an den Tisch. Auch der heutige Ministerpräsident. Aus den jetzt eingesehenen Akten geht aber hervor, dass und wie im Herbst 2010 in der Zentrale der CDU/FDP-Landesregierung völlig ungeniert strategische und taktische Überlegungen angestellt wurden, den Beratungen im Stuttgarter Rathaus längst bekannte Verbesserungsvorschläge als neue Ideen unterzujubeln.

"Nachsteuern im Windschatten des Schlichterspruchs"

Deren Notwendigkeit war nach außen immer geleugnet, intern aber schon eingeräumt worden bei diskreten Gesprächen zwischen Bahn und Projektträgern. "Das S-21-Konzept hat in Einzelpunkten Eng- und Schwachstellen (z.B. 2. Gleis Flughafen, Rohrer und Wendlinger Kurve)", heißt es wörtlich in einer vertraulichen Notiz vom 10. November 2010, "bei denen ein Nachsteuern 'im Windschatten' des Schlichterspruchs vorteilhaft sein könnte."

In einer zweiten Aktennotiz 13 Tage später wird das weitere Vorgehen orchestriert. Offensichtlich beerdigt werden mussten die Versuche, den Schlichterspruch heimlich und allein zwischen Befürwortern und Geißler "vorab" abzustimmen. O-Ton: "Dr. Geißler legt Wert auf seine Unabhängigkeit. Deshalb gibt es auf Arbeitsebene keine Möglichkeit, das Schlichtungsergebnis unmittelbar zu beeinflussen." So wurden höhere Ebenen angepeilt. Etwa ein Forschungsprojekt "Große Infrastrukturvorhaben", das an den Politikprofessor Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim vergeben werden könnte. Oder eine Enquête-Kommission, die zur gesellschaftlichen Partizipation an politischen Entscheidungen arbeiten könnte, wenn auch erst "in der kommenden Legislaturperiode".

In der jedoch regierten die Grünen zusammen mit den Sozialdemokraten und dem großen Versprechen von einem substanziellen Neuanfang ("Der Wechsel beginnt"). Kretschmann zog in die Villa Reitzenstein ein und mit ihm das Ziel, der Bürgerschaft auf Augenhöhe zu begegnen. Also hätte er alles daran setzen müssen, die dunklen Aktenecken auszuleuchten.

Zwar war der grüne MP Projektbefürworter:innen aus der SPD in die Falle gegangen und hatte sich mit dem Sozialdemokraten Peter Friedrich als Minister im Staatsministerium einen Aufpasser im eigenen Haus zur Seite stellen lassen. Auch die neue graue Eminenz in der Villa Reitzenstein, der Amtschef Peter Murawski, hatte sich nicht eben als Stuttgart-21-Kritiker und vor allem -Kenner hervorgetan. Aber Kretschmann wusste wie viele andere führende Grüne seit Jahren um die diversen Defizite des Tiefbahnhofs – und wusste deshalb sicher, wo er hätte suchen lassen können.

Frühere Akteneinsicht hätte Aus für S 21 sein können

Statt aber nachzubohren und nach Wegen zu suchen, wie wirklich für das Publikum Transparenz herzustellen war auf dem Weg zum vereinbarten Volksentscheid, kritisierte er lieber Parteifreunde wie Landesverkehrsminister Winfried Hermann oder den Stuttgarter Bürgermeister Werner Wölfle, die gelegentlich Widerworte riskierten. Auf diese Weise kam es zu einer eklatanten Schieflage. So durfte in der Informationsbroschüre zu Volksabstimmung 2011 die Pro-S-21-Seite ungehindert und aus heutiger Sicht wider besseres Wissen davon fabulieren, "dass S 21 den Stresstest bestanden hat und damit als leistungsfähiger Bahnknoten bestätigt worden ist". Außerdem sei das Milliardenprojekt "im Kostenrahmen".

Dass dies nicht der Fall war, wussten selbst hartnäckige Projektfreunde damals schon längst – was zu ahnen war, was aber die jetzt vorgelegten Papiere in bemerkenswerter Deutlichkeit zeigen. Unter Punkt 2 "Taktisch" steht in der vertraulichen Notiz vom 10. November 2010 zur organisierten Camouflage der realen Problemlage ganz Anderes zu lesen: "Verbesserungen wären dann – jedenfalls in der politischen Darstellung – nicht einem Defizit des Konzepts geschuldet, sondern einem Kompromiss zur Herstellung von Akzeptanz." Ähnlich manipulativen Charakter hat der Gedanke, dass auf diese Weise auch "Projektgegner in eine Mitverantwortung für Kostensteigerungen genommen werden könnten".

Wären die Akten schon frühzeitig öffentlich gemacht worden, hätte dies also nicht nur Ermittlungen gegen Mappus nach sich ziehen können, sondern unter Umständen auch den weiteren Gang des Projekts S 21 beeinflussen können, bis hin zu seinem möglichen Aus. Aber schon in diesen ersten Wochen nach dem Machtwechsel 2011 zeigte sich, dass Kretschmann im Zusammenhalten einer von ihm geführten Landesregierung sein oberstes, weil staatspolitisch wichtigstes Ziel sieht – und das bis heute.

Ex-Richter Reicherter spricht von Zeugenkomplott

Für diese Haltung steht, wie hartnäckig Staatsministerium und Bahn sich gegen die Herausgabe entscheidender Akten wehrten. Dabei hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon 2017 dem Ansinnen auf Veröffentlichung (AZ 10 S 436/15) zugestimmt. Gerade erst ein Jahr in der Koalition mit der CDU, konnten die Grünen aber den absehbaren Ärger nicht brauchen. Also zog die Landesregierung vors Bundesverwaltungsgericht, das wiederum den EuGH um eine Einschätzung bat.

Um deren Auslegung bemühen sich jetzt die Jurist:innen rund um Kretschmann. Auf die Kontext-Anfrage, warum die Einsicht erst jetzt erfolgen durfte, heißt es in einer ersten Antwort: "Aufgrund des langen Zeitlaufs hat das Staatsministerium eigeninitiativ angeboten, Akteneinsicht zu gewähren." Eine gerichtliche Verpflichtung dazu habe nicht bestanden. Verpflichtet allerdings wären Spitzengrüne damals im Sommer und im Herbst 2011 gewesen, sich vor der Volksabstimmung nicht hinter der Einstufung wichtiger Dokumente als "vertraulich" oder "interne Mitteilung" zu verstecken. Beispielsweise ging ein Konvolut solcher Papiere noch vor der Landtagswahl 2011 an die CDU-Fraktion im Landtag. Von vertraulich und intern, argumentiert Dieter Reicherter seit Jahren, könne also keine Rede sein.

Von den Dokumenten, die er eingesehen hat, fand er den Vermerk zur Schlichtung "am heftigsten", sagt Reicherter. "Die Beweggründe der Landesregierung und die Punkte, was man alles gewusst hat, das hat mich umgehauen." Fast ebenso bemerkenswert findet er die Drehbücher zum Untersuchungsausschuss, die übrigens nicht nur für Mappus bestimmt waren – die 133 Seiten, die den Ausschuss beleuchten, fördern noch weit mehr Heikles zu Tage.

Denn die Verpflichtung, vor dem Gremium wahrheitsgemäß auszusagen, betrifft nicht nur den Regierungschef. Sie gilt auch für alle, die am 29. September 2010 dabei waren im Staatsministerium, als der Polizeieinsatz zur Durchsetzung der ersten Baumfällarbeiten vorbereitet wurde. Und möglicherweise erst recht für den damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf. Für ihn finden sich sehr konkrete Vorschläge zu seinem Auftritt im Ausschuss. "Wenn mehrere Zeugen zu übereinstimmenden Aussagen veranlasst und diese verabredet werden, spricht man von einem Zeugenkomplott", so Reicherter.


Zum Nachlesen hier die vertraulichen Notizen aus dem Staatsministerium, Teil I: Schlichtung. Die Akten, die den Untersuchungsausschuss zum "Schwarzen Donnerstag" am 30. September 2010 betreffen, folgen in der kommenden Kontext-Ausgabe.

Die Rede von Dieter Reicherter bei der S-21-Montagsdemo vom 15. August 2022, bei der er von seiner Aktenforschung berichtet, kann man hier nachlesen.


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25 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Völker
    am 20.08.2022
    Antworten
    “Wenn wir im Landtag das zum Thema gemacht haben, hieß es immer, S21 ist durch demokratische Mehrheiten in Gemeinderat und Landtag entschieden worden. Das stimmt alles. Aber zu solch einem Verfahren gehören Wahrheit, Klarheit und Offenheit.” (W. Kretschmann im August 2010, bevor er MP war).
    Nachdem…
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