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Bahn unter Strom

Kruschteln im Keller

Bahn unter Strom: Kruschteln im Keller
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Der TGV aus Paris endet in Karlsruhe, wer aus Zürich in die Landeshauptstadt will, muss auf den Fildern umsteigen, ICEs aus dem Norden fahren gleich ganz vorbei. Der Bahnknoten Stuttgart ist kurz vor dem Infarkt. Weil dringend benötigte Ersatzteile Museumswert haben sollen.

Auf die Deutsche Bahn ist in schweren Zeiten Verlass. Jedenfalls wird auch diesmal dem notorischen Hang gefrönt, schönzufärben, gesundzubeten und zu den Hintergründen zu schweigen. Nach offizieller Darstellung war für den Totalausfall am Samstag "ein Kurzschluss in einer Oberleitung" verantwortlich, "infolgedessen zahlreiche Anlagenteile der Leit- und Sicherungstechnik, wie beispielsweise Signale, Weichenantriebe und Stellwerkstechnik, beschädigt wurden".

In einschlägigen Foren werden, dokumentiert mit Bildern, dagegen deutlich schwerer wiegende Gründe diskutiert. Im Bereich des Ufa-Palasts in der Rosensteinstraße ist ein Fahrdraht mit 15.000 Volt gerissen, ohne Zug in der Nähe, vermutlich aber – über einen nahen Masten – unter Beschädigung des Niederspannungsnetzes. Jedenfalls sollen die 15.000 Volt auf diese Weise ins Stuttgarter Stellwerk gelangt sein und Teile der mehr als 500 Relais zerstört haben. Bezugnehmend auf DB-Mitarbeiter und einen Ingenieur von SEL-Alcatel gehen Mutmaßungen munter weiter, denn das Stellwerk hat 45 Jahre auf dem Buckel. Ersatzteile sind als Vorrat nicht vorhanden – warum auch, der Tiefbahnhof ist ja in der grauesten aller grauen Theorien seit 2005 in Betrieb. "Und jetzt sucht man wohl fieberhaft in den Kellern und Abstellräumen der über hundert baugleichen Stellwerke der Republik, die es noch gibt", schreibt ein Kenner, "nach Holzkisten mit diesen Teilen."

Verkehrsminister Hermann zweifelt an all den Zufällen

So weit, so schlecht. Selbst wenn doch schneller repariert werden kann, offiziell dauern "die Einschränkungen" bis 14. Juli. Zudem sind Schwachstellen freigelegt, die nach Einschätzung von Verkehrsminister Winfried Hermann aufgeklärt werden müssen. "Das Chaos war gigantisch", sagt der Grüne, "denn der gesamte Bahnkoten war außer Betrieb." Die Erklärungen findet er selbst am dritten Tag danach dürftig. Er hat Zweifel "an der Kette von unwahrscheinlichen Zufällen". Das wiederum kommt den Stuttgarter-21-Gegner:innen gerade recht. "Das Mindeste wäre", sagt Werner Sauerborn, "alle an einen Tisch zu holen und zu verlangen, dass alle Fakten auf den Tisch kommen." Der ganze Hergang sei viel zu gefährlich, um einfach zur Tagesordnung überzugehen.

Zumal es sich um keinen Einzelfall handelt. Rund um die Bauarbeiten am Tiefbahnhof ist es zu inzwischen zahlreichen Zwischenfällen gekommen. Vor allem steht die DB seit dem Zugunglück in Garmisch-Partenkirchen mit fünf Toten auf einem Streckenabschnitt, auf dem Sanierungsarbeiten geplant waren, besonders unter Druck. "Die Bahn wurde kaputtgespart", kritisiert der Eisenbahn-Verband Allianz Pro Schiene e.V. in einer Stellungnahme. Der Sanierungsstau betrage mittlerweile 60 Milliarden Euro, so dass zu befürchten sei, dass es wegen der mangelhaften Infrastruktur zu weiteren Problemen kommen könnte.

Das zweite Versagen der Bahn, das seit Samstag nicht nur im Netz heftig diskutiert wird, ist der Umgang mit den Tausenden gestrandeten, umgeleiteten oder vorzeitig zum Aussteigen gezwungenen Fahrgästen. "Ich sitze hier in einem IRE, der um zehn Uhr fünfzig nach Karlsruhe hätte abfahren sollen", berichtet einer, "das Heftige ist, dass der Bahnhof totenstill ist: keinerlei Lautsprecherdurchsagen, die Anzeigetafeln ausgeschaltet, im Internet (Bahn-Website, Bahn-App) keine brauchbare Information." Totales Informationsvakuum: "Als sei das Telefon noch nicht erfunden worden, wie soll diese kaputte Bahn denn irgendeine Zukunft haben?" Aufgelöste Eltern auf der Suche nach ihren Kindern, Warteschlangen durch sämtliche Hallen in anderen Bahnhöfen, noch ein Fast-Kollaps in Esslingen, wohin viele Abholer:innen geleitet wurden, um sich im besten Fall in gefährlichem Gedränge auf einen Perron durchzukämpfen.

Verantwortung wird hin und her geschoben

Der Verkehrsminister nennt die Kommunikation verbesserungsbedürftig – für die Fahrgäste. Betroffene appellieren unter verschiedenen Hashtags an den Grünen, sich selber einzumischen. "Es kann nicht sein", sagt auch Sauerborn, "dass niemand sich zuständig fühlt, jetzt die Aufklärung der Hintergründe und der Versäumnisse in die Hand zu nehmen. Andererseits müssten gerade Stuttgart-21-Gegner:innen schon sehr lange genau damit leben: die DB schiebt die Verantwortung für das Milliardengrab der Politik in die Schuhe, weil die es – jedenfalls weite Teile davon – zu lange gewollt hat. Und Politiker:innen, früher bis hinauf zur Kanzlerin, sehen die Bahn in der Pflicht.

Nur einmal und für einige kurze Wochen war viele anders, 2010 während Heiner Geißlers Faktenschlichtung. Die brachte schlussendlich nicht den notwendigen Stopp, aber entlarvte zumindest viele Schönfärber- und Gesundbetereien. Vorausgegangen war dem der "Schwarze Donnerstag", der Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner:innen mit vielen Verletzen und Schwerverletzten. Einen ähnlichen Schock, um Verantwortliche für die Zustände rund um den Hauptbahnhof zur Vernunft zu bringen, darf niemand wollen. Schon allein deshalb muss die DB von sich aus für Transparenz sorgen – gedrängt gerade von den vielen Projekt-Fans in Stadt, Region und Land, die immer so auffallend still sind, wenn S 21 in die nächste Krise schlittert.


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7 Kommentare verfügbar

  • Bernd Letta
    am 16.07.2022
    Antworten
    Mein Kommentar bezog sich auch auf diese aktuelle Störung. Will man einem Unternehmen, dass die Standard-Signalisierung der S-Bahn in Stuttgart nicht in den Griff bekommt, wirklich die pannenfreie Einführung einer ETCS-Signalisierung anvertrauen, die noch nirgendwo für einen S-Bahn-Knoten im Einsatz…
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