"Er ist einer der geistreichsten Politiker, die ich kenne." Mit diesen Worten begrüßte Angelika Linckh von den Parkschützern bei der 587. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 15. November hörbar begeistert Gregor Gysi. Um die 500 Frauen und Männer hatten sich auf dem Schlossplatz versammelt, um den Bundestagsabgeordneten der Linken zu erleben. Der erwiderte auf die Begrüßung: "Ich weiß ja nicht, wie viele Politiker sie kennen. Wenn Sie nur drei kennen, ist das ja keine Kunst." Und erntete so gleich die ersten Lacher. Der Jurist verwob Kritik am politischen Geschehen mit Kritik am Bau des S-21-Tiefbahnhofs. Nicht nur, dass die Kosten stetig explodierten und weiter steigen, auch die Inbetriebnahme rücke in immer weitere Ferne. "Die Schwaben gelten als kontenbewusst und effizient", sagte Gysi. "Das hat diesmal nicht geklappt." Erst hätten Bahn und herrschende Politik stets geleugnet, dass ein unterirdischer Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen ineffizienter sei als der oberirdische Kopfbahnhof mit seinen 16 Gleisen. Nun stehe im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung, dass man einen zusätzlichen unterirdischen Ergänzungsbahnhof – als Kopfbahnhof – mit sechs Gleisen bauen wolle, weil der Durchgangsbahnhof nicht ausreiche. Gysi: "Ich habe selten so eine Unverschämtheit gelesen." Und dass man 40 Jahre benötige von Planung bis Fertigstellung, "das überflügelt die DDR in jeder Hinsicht".
Die Demonstrierenden lobte Gysi dagegen. Zwar sei man sich ja wohl darüber im Klaren, dass der Tiefbahnhof nicht mehr verhindert werden könne. "Aber es ist wichtig, dass Sie daran erinnern, was vorher war." Dass die Planer das Projekt mit falschen Versprechen verkauft hätten, dass die Kosten runtergerechnet waren.
Danach ging's gleich weiter ins Renitenz-Theater zur Präsentation von Gysis Autobiographie "Ein Leben ist zu wenig", aber unmittelbar vor der Demo hatte Kontext Gelegenheit, kurz mit dem Linken-Politiker zu sprechen – über die laufenden Koalitionsverhandlungen, das desaströse Bundestagswahlergebnis seiner Partei und dessen Ursachen – und welche Schlüsse daraus zu ziehen seien.
Herr Gysi, wenn Sie die Koalitionsverhandlungen anschauen, das Wenige, das bisher nach draußen gedrungen ist, was fällt Ihnen dazu ein?
Vor allem drei Punkte: Ich befürchte, dass wir im Wesentlichen eine Nullrunde erleben werden. Die FDP wollte Steuersenkungen, SPD und Grüne wollten bestimmte Steuererhöhungen. Der Kompromiss besteht darin, dass es weder Steuererhöhungen noch Steuersenkungen gibt. Ferner steht schon fest, dass es keine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit in Deutschland auf Autobahnen geben wird, damit sind wir, glaube ich, inzwischen das einzige Land weltweit, das diesen Beitrag zur ökologischen Nachhaltigkeit nicht leistet. Und das alles nur auf Druck der Autoindustrie. Dabei kann man ja den Spinnern meinetwegen erlauben, am Nürburgring mit ihrem Auto so schnell zu fahren, wie sie wollen, aber nicht auf den Autobahnen.
Und der dritte Punkt?
Das ist interessant, der ist fast gar nicht aufgefallen: Der höchstwahrscheinlich nächste Kanzler hat ja immer erklärt, wenn er Kanzler wird, gibt es einen Mindestlohn von 12 Euro. Und er wird zur FDP gesagt haben: Darunter geht nicht. Und da werden die zugestimmt haben, und keiner hat gemerkt, worin der Kompromiss besteht: Er besteht darin, dass ab dem Jahr 2023 nur noch das realisiert wird an Erhöhung des Mindestlohns, was die entsprechende Kommission vorschlägt. Das ist ein Verzicht auf Politik! Drei Parteien vereinbaren, dass sie keine politische Entscheidung treffen. Eine solche Kommission macht ja nur Vorschläge – man kann sie unterschreiten, man kann sie überschreiten, man kann sie annehmen. Aber wenn du vereinbarst, dass du das nicht machst, ist das vom Prinzip her undemokratisch. Und jetzt hakt es offensichtlich auch bei der Bahn, aber ich glaube, nicht wegen Stuttgart 21.
Zumindest nicht nur.
Und es ist wahrscheinlich mit den Klimaschutzmaßnahmen nach Glasgow noch schwieriger. Ich nehme an, die FDP wird sagen, das, was dort beschlossen wurde, müssen wir machen, aber auch nicht mehr. Die Grünen wollen mehr, man wird sich letztlich verständigen. Wenn die Grünen klar kommen mit der Union in Baden-Württemberg, warum sollen sie dann nicht mit der FDP klar kommen auf Bundesebene? Insofern ist das schade, dass meine Partei natürlich auch selbstverschuldet so schlecht abgeschnitten hat, sonst wären das natürlich spannendere Verhandlungen geworden.
Nun hat es aber für Rot-Rot-Grün im Bund nicht gereicht, nicht zuletzt, weil die Linke so wenig Stimmen bekommen hat. Woran hat das denn gelegen?
Naja, es gab äußere Umstände und innere. Die äußeren Umstände waren, dass SPD und Grüne immer wieder sagten, sie wollen einen sozial-ökologischen Wandel, und zwar möglichst zu zweit. So dass viele, die uns früher gewählt haben, sich entschieden haben, SPD und Grüne zu wählen. Dafür konnten wir nur begrenzt etwas. Das zweite ist, dass überall immer gesagt wurde, die Linke will den Austritt Deutschlands aus der Nato. Das stimmt nicht, das haben wir noch nie beschlossen oder gefordert. Was wir gefordert haben – aber für die Zukunft, als Vision! –, ist, irgendwann die Nato zu ersetzen durch ein Bündnis mit Einschluss von Russland. Aber im gegenwärtigen Verhältnis steht das gar nicht zur Debatte! Das hätte also mit den Koalitionsverhandlungen gar nichts zu tun gehabt. Aber als Vision bleibt es natürlich, weil es Frieden und Sicherheit in Europa niemals gibt ohne geschweige denn gegen Russland.
Und die inneren Ursachen?
Die inneren Ursachen waren auch klar: Zum ersten, dass wir leichtfertig die Ost-Identität aufgegeben haben. Aber wir dürfen den Osten nicht der AfD überlassen. Und da geht es nicht nur um gleiche Löhne, um gleiche Renten, sondern es ist auch eine Kulturfrage, eine psychologische Frage, da kommt ganz vieles zusammen. Der zweite Fehler bestand darin, dass wir uns hart streiten miteinander. Meinungsvielfalt ist etwas Wichtiges, aber jetzt hat sie uns geschadet – erstens, weil die Form unerträglich war, in der sie ausgetragen wurde, und zweitens, weil die Leute gar nicht mehr wissen, was eigentlich Mehrheitsmeinungen und was Minderheitenmeinungen sind.
Wenn es um innere Streitigkeiten geht, fällt ja immer wieder der Namen Sahra Wagenknecht und auch ihr Buch "Die Selbstgerechten", das Anfang zu Jahres zu heftigen Kontroversen innerhalb der Partei geführt hat. Wobei der Streit ja älter ist. Wie würden Sie Wagenknechts Rolle beurteilen?
Sie ist wichtig für unsere Partei. Ich hatte jetzt ein gutes Gespräch mit ihr, und deshalb werden Sie von mir nichts Negatives über sie hören.
Sehen Sie weitere innere Ursachen?
3 Kommentare verfügbar
Nik
am 20.11.20211) Umverteilung und mehr Lohn vom Lohn.
Sie müssen den Menschen klar machen, dass es hier ein ernsthaftes Problem…