KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

NSU

"Vollständiges Versagen"

NSU: "Vollständiges Versagen"
|

Datum:

Mit der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) vor genau zehn Jahren kam ein fatales Behördenversagen ans Licht. Auch heute sind die Ermittlungen noch lange nicht abgeschlossen, notwendige Schlüsse nicht gezogen. Das nährt Zweifel und Verdacht.

Immerhin einer findet da grundsätzlich offene Worte. "Die größte Herausforderung für unsere Sicherheit ist die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus", sagt Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Und er nennt dieser Tage bei einer vom "Mediendienst Integration" organisierten Diskussion verschiedene Zahlen, darunter vor allem eine: 280. So viele Menschen sind in den drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung rechtsterroristischen Gewalttaten zum Opfer gefallen. Die Aufstellung ist nicht umfassend, weil viele Verbrechen, etwa Anschläge auf Asylbewerberheime, nicht zugeordnet wurden. Zudem zählte das BfV allein im vergangenen Jahr mindestens 33.300 RechtsextremistInnen – 40 Prozent von ihnen gelten als "gewaltorientiert" –, ferner 22.400 einschlägige Straftaten. Davon werden über tausend als schwere Straftaten eingestuft. Für Haldenwang, Nachfolger von Hans-Georg Maaßen, schlägt sich in solchen Statistiken nieder, was er kritisch vermisst: Spätestens seit der deutschen Einheit hätte sich die Bundesrepublik intensiv mit dem Rechtsextremismus auseinandersetzen müssen. 

Der NSU-Komplex, weiß Matthias Quent, Professor aus Jena, ist da "nur die Spitze des Eisbergs". Quent, der über die Radikalisierung der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) promoviert hat, gehört zu jenen renommierten Fachleuten, die sich über Jahre hinweg und insbesondere in dem guten Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse redlich abgemüht haben, um auf die unselige Tradition rechter Gewalt aufmerksam zu machen. Ausgangspunkt in vielen Analysen ist Kemnat bei Stuttgart.

Dort hatte im Sommer 1992, wenige Monaten nach dem Einzug der "Republikaner" in den baden-württembergischen Landtag, eine Gruppe junger Männer Sadri Berisha, einen Arbeiter aus Albanien, im Schlaf brutal mit dem Baseballschlager erschlagen und seinen Kollegen Sahit Elezay sehr schwer verletzt. Die Täter – alle mit Job übrigens – hatten sich regelmäßig mit Sixpacks Bier von immer derselben Tankstelle volllaufen lassen, rechte Musik und Reden von Adolf Hitler gehört.

Rechtsextreme Gewalt verharmlost

Erklärt oder vielmehr verharmlost wurde die längst verdrängte Bluttat damals äußerst zügig etwa auf einer Pressekonferenz der Polizei Esslingen als "primitiver Vandalismus". Im Zentrum der Berichterstattung standen weniger die beiden Haupttäter und ihre fünf Komplizen und erst recht nicht die Opfer, sondern die angeblich zu ziehenden Lehren. Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung durchleuchtete später die ersten Tage und Wochen und befand: "Taten und Täter werden vor allem als Bedrohung und Störung der Republik und des Eigenen eingeordnet, und als Lösung wird die Verschärfung des Asylrechts gefordert." Ein Esslinger Kommunalpolitiker lässt sich zitieren mit der alle Zusammenhänge leugnenden Einschätzung: "Es hätte jeden treffen können." Als lebte jedeR in einem Arbeiterwohnheim und wäre zugewandert. Der rechte Hintergrund der Täter war da schon bekannt.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) braucht nach dem Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 4. November 2011 neun lange Tage, bis er erstmals von "rechtem Terrorismus" spricht: "Es sieht so aus, als ob wir es tatsächlich mit einer neuen Form zu tun haben." Selbst er will jetzt wissen, wie es sein konnte, dass die beiden Uwes schon 1998 in Jena als Bombenbauer auffielen, danach aber aus dem Blickfeld verschwanden und so lange unbehelligt morden konnten. Nahe liegt schon damals die These, sie seien möglicherweise vom Verfassungsschutz mit neuer Identität ausgestattet und dann als Verbindungsleute in der rechten Szene geführt worden.

Bis heute sind solche und andere Fragen ohne Antwort. Haldenwang räumt "vollständiges Versagen" der Behörden in verschiedenen Punkten ein. Darunter fällt etwa die höchst mysteriöse Anwesenheit des V-Mann-Führers "Andreas Temme" am 6. April 2006 in dem Kasseler Internet-Café, in dem Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Der BfV-Präsident verspricht weiterzumachen, "wo immer sich Ermittlungsansätze ergeben". Belastbar in entscheidenden Details ist die Aussage jedoch nicht wirklich. Die Temme-Akten sollten ursprünglich 120 (!) Jahre unter Verschluss bleiben, aus einem, wie es heißt, "umfassenden Schutzgedanken, nach dem noch Kinder und Kindeskinder von V-Leuten geschützt werden". 2019 jedoch wurden alle Verschlusssachen in Hessen auf vorerst 30 Jahre befristet.

Auch der Komplex Aktenvernichtung harrt seiner Aufklärung. Noch im November 2011 hatte ein BfV-Referatsleiter, Tarnname Lothar Lingen, Unterlagen über V-Leute in der Thüringer Neonaziszene schreddern lassen. 2012 wurde dieser Umstand publik, der damalige Präsident Heinz Fromm trat zurück, gegen Lingen wurde ein Disziplinarverfahren eröffnet. Erst acht Jahre später entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der Verfassungsschutz Auskünfte aus einem abgeschlossenen Disziplinarverfahren erteilen muss.

Es dauerte Jahre bis zum Untersuchungsausschuss

Die Interessenabwägung zwischen den Rechten der Presse und den Rechten des betroffenen Beamten falle dabei zugunsten der Medien aus, wenn die Fragen "hinreichend konkret" seien. Die Behörde dürfe dabei nicht bewerten, welche Fragen sie für angemessen hält. Und weiter: "Es ist Sache der Presse zu entscheiden, welche Informationen sie für erforderlich hält, um ein bestimmtes Thema zum Zwecke der Berichterstattung aufzubereiten." Eine einschlägige Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hat das Bundesinnenministerium trotzdem nicht mit Details beantwortet.

Typisch für Ambitionen und Aufklärungswillen in Baden-Württemberg ist, dass erst einmal zweieinhalb Jahre verstrichen, ehe eine parlamentarische Enquête-Kommission eingesetzt wurde. Die wiederum musste erst kläglich scheitern, damit in der 15. Legislaturperiode ein NSU-Untersuchungsausschuss und in der 16. ein zweiter seine Arbeit aufnehmen konnte. Wie in all den anderen Gremien – im Bundestag, in Bayern und Thüringen, in Sachsen, NRW, Hessen, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern – werden Versäumnisse, Fehler, Absurditäten, Widersprüche oder Unerklärliches aufgedeckt.

Und es gab vielfältige Einblicke in die großzügige Milde eines Teils der Ermittler und ihres Umgang mit Verdächtigen. "Ein bisschen Hakenkreuz, ein bisschen Hitlergruß, halb so wild, man habe eben ziemlich viel gesoffen", fasst die "Süddeutsche Zeitung" einmal zusammen. Oft zitiert der Ausbruch des Ausschussvorsitzenden Wolfgang Drexler (SPD) bei einer Zeugenbefragung: "Man kann mir literweise Wodka einflößen, und ich stelle mich trotzdem nicht vor eine Hakenkreuzfahne."

Alle Fraktionen waren schon nach dem ersten Ausschuss 2016 einig, dass viel zu tun ist gerade in der Aus- und Fortbildung in Sicherheitsbehörden. Und erst recht bei der Auswahl derer, die überhaupt in den Polizeidienst hineingelassen werden. Der Pressedienst Migration legte  jetzt eine Länderübersicht vor, in der Baden-Württemberg überhaupt nur in einem einzigen Punkt mithalten kann: bei der Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle in Form des Büros der Bürgerbeauftragten.

Kein besonders großer Aufklärungswille

Darüber hinaus Fehlanzeige: keine wiederholte Überprüfung von BeamtInnen, keine verpflichtenden Fortbildungen, keine Studie zum Thema Rassismus in den Reihen der Behörden. Vier andere Bundesländer – Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz – sind hingegen aktiv geworden und haben entsprechende Aufträge erteilt. "Wir wollen die Mitarbeitenden in Sicherheitsbehörden und Justiz besser darin ausbilden, politische motivierte Hasskriminalität zu bekämpfen und mit Betroffenen sensibel umzugehen", verkündet in eher sanftem Tonfall der grün-schwarze Koalitionsvertrag vom Frühjahr 2021 im Zusammenhang mit den "rechtsterroristischen Attentaten der vergangenen Jahre".

Das Landesamt für Verfassungsschutz hat zehn Jahre danach ebenfalls eine Bestandsaufnahme veröffentlicht, die in einer Erkenntnis und einem Versprechen gipfelt. Der NSU sei ein Beweis dafür, dass "im harten Kern des deutschen Rechtsextremismus nach wie vor ein ideologisch motivierter Hass auf diverse Feindbilder existiert". Ein solcher Hass werde "immer wieder Vertreter dieser Szene in Mordabsichten und Rechtsterrorismus treiben". Diese Erkenntnis dürfe auch nach zehn Jahren nicht verblassen. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang schlägt den Bogen zu den Identitären oder zum Compact-Magazin, das sich revisionistischer, verschwörungstheoretischer und fremdenfeindlicher Motive bediene. Bei Teilen der AfD sieht er den Versuch, "die Anschlussfähigkeit für ihre Ideologien in die Mitte der Gesellschaft zu tragen", quasi als "geistige Brandstifter für spätere Taten".

Professor Matthias Quent wiederum ruft dazu auf, die Ursache für sich ausbreitenden Rechtsextremismus nicht allein im fehlerhaften Handeln der Sicherheitsbehörden zu suchen, sondern ebenso in der Gesellschaft: "Rassismus wird weder im Gefängnis noch mit Handyüberwachung bekämpft." In der Pflicht stehe deshalb die künftige Bundesregierung. "Wir werden in allen Bereichen entschlossen gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Islamismus, Linksextremismus, Queer-Feindlichkeit und jede andere Form der Menschenfeindlichkeit vorgehen, damit Vielfalt in gleicher Sicherheit für jede und jeden möglich ist", schreiben die möglichen AmpelkoalitionärInnen in ihrem Sondierungspapier. Zumindest befleißigen sie sich des Verbs "werden". Sie hätten auch, wie in viel zu vielen politischen Versprechen nach dem Auffliegen des NSU, "sollen" oder "wollen" schreiben können.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 08.11.2021
    Antworten
    Warum ist eigentlich noch nie jemand auf die Idee gekommen, bei Straftaten, die in mehreren Bundesländern stattfanden, von vornherein das BKA ermitteln zu lassen ?
    Und warum wird in dem Bericht der "Selbstmord" von Böhnhardt und Mundlos als Tatsache dargestellt ?
    Ich fand es immer schon seltsam,…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:



Ausgabe 681 / Sechs Jahre Leerstand / Uwe Bachmann / vor 18 Stunden 25 Minuten
Da hilft nur Enteignung



Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!