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Umstiegskonzept für Stuttgart 21

Dem Fatalismus wehren

Umstiegskonzept für Stuttgart 21: Dem Fatalismus wehren
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Ist das Projekt Stuttgart 21 auch in klimapolitischer Hinsicht ein Fehler, der gemacht werden muss? Das Aktionsbündnis gegen den Tiefbahnhof widerspricht und präsentiert ein aktualisiertes Umstiegskonzept.

Klare Worte: Das Projekt stehe "im Widerspruch zu den europäischen Klimazielen" und müsse daher gestoppt werden. Das forderten die Grünen im Bundestag bereits im Februar dieses Jahres – im Hinblick auf die Gas-Pipeline Nord Stream 2, die bekanntlich beinahe fertiggestellt ist. "Klimaschädliche Projekte stoppen und völkerrechtlich bindende Verträge einhalten!" twitterten im November 2020 die Hamburger Fridays for Future, zusammen mit einer Grafik, auf der stand: "Verträge werden gebrochen werden. Die Frage ist: A49 oder 1,5°C?" Mit dem einen gemeint ist der Ausbau der Autobahn A49 in Hessen, mit dem anderen das im Pariser Klimaabkommen fixierte 1,5-Grad-Ziel.

Aufrufe, klimaschädliche Projekte zu beenden, egal wie weit sie geplant oder bereits gebaut sind, sind also nichts ganz Neues – auch wenn aktuell die verheerenden Waldbrände und Dürren in Kalifornien, Griechenland oder der Türkei, die Überschwemmungskatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen oder der neue Bericht des Weltklimarats solchen Forderungen noch einmal mehr Nachdruck verleihen. Aber Ansätze, hier tatsächlich umzusteuern, muss man mit der Lupe suchen.

Nord Stream 2 und die A49 mögen populäre Beispiele sein, ein beachtlicher klimapolitischer Anachronismus ist aber auch in und um die baden-württembergische Landeshauptstadt zu finden: das Projekt Stuttgart 21. Der Klimaaspekt spielt daher auch eine zentrale Rolle in der Neufassung des Konzepts "Umstieg 21", die das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 am Dienstag vorgestellt hat. Werner Sauerborn vom Bündnis betont: "Wir springen nicht auf einen Zug auf, sondern haben immer schon den Klimabezug betont."

Das ist kein Lippenbekenntnis. Auch wenn sich die Kritik an dem Projekt medial bislang vor allem auf die immer weiter steigenden Kosten, verbunden mit einem in die Ferne rückenden Eröffnungstermin konzentriert, auf die Risiken der langen Tunnelstrecken oder die Leistungsfähigkeit des zukünftigen Bahnhofs. Die klimatischen Aspekte waren schon früh im Blickfeld der Tiefbahnhof-Gegner: Sei es der Treibhausgasausstoß durch die Baumaßnahmen und damit der "ökologische Rucksack" des Projekts oder die Auswirkungen auf das Stadtklima – beides spielte bereits in Heiner Geißlers Faktencheck im Herbst 2010 eine Rolle.

Doppelt klimaschädliches Projekt

Seitdem ist die Abschätzung der Folgen nicht günstiger geworden: Das Projekt torpediert, das Ziel einer Verdopplung des Schienenverkehrs bis 2030, weil es einen Engpass darstellt. Und das selbst mit einem vom Landesverkehrsministerium propagierten Ergänzungsbahnhof, der zwar die Kapazität verbessern wird, aber immer noch einen Rückbau gegenüber der bestehenden Infrastruktur des Kopfbahnhofs darstellt (Kontext berichtete). Klimafreundlichere Mobilität wird damit ausgebremst.

Dazu kommt, dass durch das Projekt wegen seiner rund 60 Kilometer Tunnel schon ohne Ergänzungen große Mengen an Treibhausgasen freigesetzt werden, schätzungsweise 1,9 Millionen Tonnen (Kontext berichtete hier und hier), doch mit den Zusatzbauten, die an Tunnelmenge fast ein zweites S 21 darstellen, voraussichtlich noch einmal über 700.000 Tonnen mehr (Kontext berichtete). Stuttgart 21 ist also doppelt klimaschädlich.

So wirkt es angesichts der jüngsten Klimaentwicklungen auch doppelt fatalistisch, wenn viele Mängel zwar eingestanden werden – Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) bezeichnete das Projekt gegenüber Kontext einmal als "grandiose Fehlentscheidung", der Tübinger OB Boris Palmer nannte es einen "Fehler, der gemacht werden muss" – aber trotzdem weitergebaut wird.

Dieser dystopischen Sicht, bewusst einen Fehler zu vollenden, "diesem Fatalismus wollen wir mit unserem Umstiegskonzept etwas entgegensetzen", sagt dagegen Werner Sauerborn. 15 Monate hat eine Arbeitsgruppe der S-21-Kritiker daran gearbeitet. Wichtig ist Sauerborn dabei der konstruktive Ansatz: Auch wenn die Beibehaltung – oder besser: die Wiederherstellung des Kopfbahnhofs Grundlage bleibt, so geht es dabei nicht um ein "zurück auf Null", sondern um eine kreative Umnutzung bereits erfolgter Baumaßnahmen. Schon die erste, 2016 vorgestellte Fassung von "Umstieg 21" beinhaltete Vorschläge dafür, beispielsweise einen Teil der ehemaligen Tiefbahnhofbaugrube zu einem Busbahnhof unter dem Kopfbahnhof zu machen.

Alte Idee: Güter unter die Erde

Im ersten Update Ende 2017 wurden schon Ideen skizziert, wie die Tunnel umgenutzt werden könnten, damals noch grob und stichwortartig – der Vorschlag eines Güterlogistik-Systems war allerdings schon dabei. Das mochte manchen Betrachtern exotisch vorgekommen sein, tatsächlich ist die Idee aber zum einen nicht neu, zum anderen erlebt sie gerade angesichts immer größerer Verkehrsprobleme in den Innenstädten ein großes Revival; beispielsweise in Hamburg und der Schweiz sind solche Projekte schon in der Umsetzungsphase (Kontext berichtete).

Müssen dort aber Tunnel neu gebohrt werden, wäre der große Vorteil in Stuttgart, dass sie schon da sind. Aber wäre in ihnen ein Güterlogistik-System überhaupt sinnvoll umsetzbar? Eine vom Aktionsbündnis beauftragte und im April vorgestellte Machbarkeitsstudie der Coburger Professoren Philipp Precht und Mathias Wilde kam zu dem Ergebnis: Das geht und es rechnet sich auch (Kontext berichtete).

In dem neuen Umstieg-21-Konzept wird nun genauer dargestellt, wie eine Umsetzung aussehen könnte: An mehreren Tunnelenden, etwa auf den Fildern oder in Untertürkheim, könnten Güterverteilzentren (GVZ) errichtet werden, an denen Waren von LKW auf Paletten in das unterirdische Transportsystem umgeladen werden. Von dort gelangen sie dann zu einem zentralen City Hub unterhalb des Kopfbahnhofs, von wo aus die Waren mittels Lastenrädern oder Elektrokleinfahrzeugen in die Innenstadt transportiert werden – ohne Emissionen. Und da es sich um ein voll automatisiertes System handelt, wären auch die Brandschutzprobleme damit weniger akut. Platz genug wäre im City Hub auch für ein Zwischenlager, "von wo aus die Paletten just in time abgeholt werden können", so der Ingenieur Hans-Jörg Jäkel aus der Umstieg-21-Arbeitsgruppe. Wie detailliert und nachhaltig das Konzept dabei ist, illustriert Jäkel an Ideen für ein Güterverteilzentrum an der Autobahn A8 auf den Fildern: Das könnte auch aufgeständert werden, "um wertvollen Filderboden nicht zu versiegeln".

Ein paar Kelchstützen sollen bleiben

Die Vorschläge für das Güterlogistik-System sind die größte Neuerung am Umstiegskonzept, doch auch an anderen Stellen hat der Projektfortschritt einige Aktualisierungen bewirkt. Die Zahl der Kelchstützen in der Baugrube für den Tiefbahnhof hat deutlich zugenommen und hier sei es tatsächlich zu Diskussionen in der Arbeitsgruppe gekommen, wie damit zu verfahren sei. Konsens sei gewesen, "den Park wiederherzustellen", so Aktionsbündnis-Sprecher Norbert Bongartz, teils kontrovers dagegen die Frage: "Soll alles wieder zurückgebaut werden auf den Zustand vor dem Schwarzen Donnerstag?"

Auch ein Rückbau verursacht klimaschädliche Emissionen, und so steht im neuen Konzept ein Kompromiss-Vorschlag: Einige Kelchstützen im Park sollen erhalten bleiben und etwa zu bewirteten Pavillons oder Brunnen umgenutzt werden, und "als Erinnerungsmale eines verstolperten Großprojekts" stehen bleiben, so Bongartz. Rückgebaut werden müssten sie aber dort, wo in mehreren Ebenen Busbahnhof, City Hub oder ein Kurzzeitparkdeck unter den Kopfbahnhofgleisen entstehen könnten. Und dort, wo sie an der Südostseite des Schlossgartens mit der sechs Meter hohen Decke des Tiefbahnhofs gleichsam einen Damm im Talkessel gebildet hätten – um dadurch das Risiko schwerer Überschwemmungen (Kontext berichtete) zu entschärfen. Ein Risiko, das allein schon durch das im Zuge der Bauarbeiten veränderte Kanalsystem mutmaßlich größer geworden ist (Kontext berichtete).

Wer sich nun fragt, ob all diese Ideen irgendjemanden von den Verantwortlichen interessiert: Mehrere Punkte aus den ersten beiden Umstiegs-Versionen haben bereits klammheimlich Eingang in offizielle Planungen oder Studien gefunden. Der Anschluss der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm an die Bestandsstrecke der Neckartalbahn etwa, schon 2016 gefordert, wird 2022 Realität werden, weil S 21 noch nicht fertig ist. Und der Vorschlag einer Streckenführung für einen S-Bahn-Ringschluss zwischen den Linien auf den Fildern und im Neckartal fand sich eins zu eins in einem Gutachten des Verbands Region Stuttgart (VRS) wieder – sogar mit dem im Umstiegs-Konzept verwendeten Namen "Köngen-Turn".

Einsparpotenzial: 6,3 Milliarden Euro

Angepasst werden mussten seit dem letzten Update auch die Prognosen für Kosten und Einsparungen: Die Arbeitsgruppe geht bei S 21 von noch anstehenden Kosten bis zu drei Milliarden Euro aus, bei den im grün-schwarzen Koalitionsvertrag fixierten Ergänzungsprojekten inklusive Gäubahntunnel von 5,5 Milliarden Euro, zusammen also 8,5 Milliarden Euro. Gegengerechnet werden Umstiegskosten von schätzungsweise 2,2 Milliarden Euro, woraus sich immer noch ein Einsparpotential von 6,3 Milliarden Euro ergibt. Eine eher konservative Rechnung sowohl für die finanziellen als auch die klimapolitischen Folgen, wie Sauerborn betont: In seiner Kostenabschätzung für die Ergänzungsprojekte sei der Verkehrsexperte Karlheinz Rößler noch von vier Gleisen im Ergänzungsbahnhof ausgegangen – nun sollen es sechs werden –, und durchaus denkbar ist, dass wegen der eklatanten Brandrisiken die Doppelröhren etwa des Fildertunnels noch durch eine dritte Rettungsröhre ergänzt werden müssen – das alles seien "unkalkulierbare Kosten".

Ins gleiche Horn bläst der Verkehrswissenschaftler Hermann Knoflacher in einem Geleitwort für das Umstiegs-Konzept. "Jetzt, wo die Folgen des Klimawandels immer bedrohlicher werden, sind tiefgreifende Konsequenzen erforderlich". Das gelte auch für geplante große Infrastrukturprojekte, die "schon beim Bau und durch die verwendeten Baustoffe wie Beton, Stahl, Asphalt etc. große Mengen Treibhausgase freisetzen. Das Projekt Stuttgart 21 gehört dazu", schreibt der Wiener Professor. Von einer Bürgerinitiative könne nicht mehr erwartet werden, als die Stuttgart-21-GegnerInnen mit ihrem Umstiegs-Vorschlag geleistet hätten, so Knoflacher, "ich kann die politisch Verantwortlichen in Deutschland nur auffordern, diesen Ball aufzugreifen."


Das neue Konzept von Umstieg 21 Plus gibt's hier. Und hier ein Erklärvideo (gesprochen von Walter Sittler):


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10 Kommentare verfügbar

  • Real Ist
    am 31.08.2021
    Antworten
    Als Kopfbahnhofbefürworter sehe ich viele Gründe, gegen S21 zu sein, aber gehört da der Betonverbrauch von 2 Mio. Tonnen Stahlbeton auch dazu?

    Der Bau von Windkraftanlagen benötigte bisher über das zehnfache an Stahlbeton, wenns nach den Grünen geht, kommt da mindestens nochmal das dreifache…
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