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Bleiberecht

Im Dickicht des Ausländerrechts

Bleiberecht: Im Dickicht des Ausländerrechts
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Daniel Ebosele aus Nigeria betreut pflegebedürftige Menschen in Stuttgart, spielt Fußball im Verein und hat viele Freunde. Trotzdem hat er kein Aufenthaltsrecht. Jetzt muss die Landesregierung beweisen, ob sie es ernst meint mit ihrer Ankündigung, die Hürden fürs Bleiberecht zu beseitigen.

Daniel Ebosele versteht die Welt nicht mehr. Vor fünf Jahren kam der 26-jährige Nigerianer nach Deutschland – als Analphabet. Er hat Lesen und Schreiben gelernt, Sprachprüfungen absolviert, eine Ausbildung gemacht und schließlich eine Arbeitsstelle in der Altenpflege in Stuttgart gefunden. Trotzdem hat er vor Kurzem von der Ausländerbehörde erfahren müssen, dass dies kein Grund sei, ihm ein Bleiberecht zu gewähren.

Seither lebt der junge Mann in Angst. Bis September ist er geduldet, wie seine Partnerin und seine beiden kleinen Kinder. Seinen Freundeskreis versetze das in helle Aufregung. Dass der gleich eine Whatsapp-Gruppe ins Leben rief unter dem Motto "Daniel muss bleiben" ist eher ein Ausdruck von Ratlosigkeit.

Ihr Schützling Daniel hat sich im Dickicht des Ausländerrechts verfangen. Einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachzugehen, eine unbefristete Stelle zu haben, genügt noch lange nicht. Auch wenn einer im Club auf der Waldau in Stuttgart-Degerloch Fußball spielt, sich vorbildlich integriert, schert die Behörden nicht. Ausländerrechtlich spielt das offenbar keine Rolle.

Wie passt diese Hängepartie zusammen mit dem Bekenntnis von Grünen und CDU im neuen Koalitionsvertrag? Dort steht, dass "sich die Landesregierung für ein gleichberechtigtes Miteinander im Land einsetzt". Dazu gehöre auch eine "humanitäre, pragmatische, verantwortliche und geordnete Flüchtlingspolitik". Grüne und CDU wollen alle Möglichkeiten nutzen, um gut integrierten, geduldeten Flüchtlingen ein Bleiberecht zu ermöglichen, heißt es. Was würde besser zutreffen auf diese Aussage, als ein Fall wie der von Daniel Ebosele, fragt sich sein Unterstützerkreis. Er sei ohne Zweifel nachhaltig integriert.

Vorsicht, überall Fallstricke

Die Realität sieht allerdings anders aus. Es gibt ähnlich gelagerte Fälle im Raum Stuttgart, mit denen sich spezialisierte Anwälte herumschlagen. Im Widerspruch zu der Ankündigung der neuen Landesregierung steht oft die Praxis des Ausländerrechts. Mit seinen Fallstricken ist es nach Einschätzung von Migrationsexperten eher ein Aufenthaltsverhinderungsrecht.

Daniel Ebosele ist mit der Entscheidung, nach seiner Ausbildung zum Altenpflegehelfer eine Stelle anzutreten, in einer rechtlichen Grauzone gelandet. Die Ausbildung zum Altenpflegehelfer gilt nämlich nicht als qualifizierte Berufsausbildung wie die zur Pflegefachkraft. Nach geltendem Ausländerrecht lässt sich daraus kein Aufenthaltsstatus ableiten. Aber was dann? Eine von Ebosele eingeschaltete Rechtsanwältin konnte nicht mehr als die Empfehlung der Ausländerbehörde weitergeben, die Ausbildung zur Pflegefachkraft anzuschließen. Denn die führt zu einer Ausbildungsduldung nach der 3+2-Regelung – drei Jahre Ausbildung und zwei Jahre Beschäftigung, was dann in ein Bleiberecht münden kann.

Nach Auskunft des Kolping Bildungswerks, bei dem Daniel Ebosele eine zweijährige Ausbildung zum Altenpflegehelfer absolviert hat, wird den Schülerinnen und Schülern geraten, die Ausbildung zur Fachkraft an die Helferausbildung anzuschließen, um auf der sicheren Seite zu sein. Dies tut übrigens auch die Diakonie.

Wenn Daniel Ebosele hört, dass er nach Nigeria zurückfliegen müsse, um dort bei der deutschen Botschaft den Antrag für die Ausbildung zur Fachkraft zu stellen, fühlt er sich wie auf einer Achterbahnfahrt. Dabei trifft das nur dann zu, wenn der Antrag zur Ausbildung im Rahmen der Fachkräfteanwerbung gestellt wird. Das Problem: Selbst bei den Behörden herrscht nicht immer Klarheit. Seine Urkunde als Altenpflegehelfer musste sich Ebosele sogar erstreiten, weil das Regierungspräsidium dafür fälschlicherweise die schwierige B2-Sprachprüfung forderte.

Auch in Bezug auf die Ausbildung zur Fachkraft gibt es unterschiedliche Auskünfte. Nachdem erst vor kurzem eine alle Bereiche übergreifende generalistische Pflegeausbildung eingeführt wurde, die wesentlich schwieriger ist als zuvor, wird an den entsprechenden Schulen oft das Sprachniveau B2 vorausgesetzt. Eine erneute Hürde für Personen, die wie Daniel Ebosele erste die Stufe B1 absolviert haben. Im Gesetz ist jedoch nichts davon zu finden. Da stehen nur "ausreichende Deutschkenntnisse", und diese hat der junge Nigerianer ohne Zweifel.

Ihm lag vor allem eines am Herzen: er wollte arbeiten, um ein Auskommen für seine Familie zu haben und um endlich aus dem Flüchtlingswohnheim herauszukommen. Seinen beiden fünf und drei Jahre alten Kindern, die in Stuttgart geboren sind, will er eine Perspektive geben. Und die hatte sich mit seinem unbefristeten Arbeitsvertrag gerade abgezeichnet. Fünf Jahre bewohnt die Familie zwei Räume in einem Container ohne eigenes Bad und eigene Küche. Jetzt hat sie eine eigene Wohnung in Aussicht.

Flucht vor den Mördern

"Ich will nicht, dass meine Kinder in Nigeria aufwachsen und dort den gleichen schrecklichen Erfahrungen wie ich ausgesetzt sind", sagt Ebosele. Der junge Mann stammt aus einem Dorf nahe Benin, einer im Süden Nigerias gelegenen Stadt. Sein Vater war dort König, hierzulande vergleichbar mit einem Ortsvorsteher. "Jemand wollte ihm den Platz streitig machen", erzählt der Sohn, ein Konkurrent, der mit seinen anscheinend magischen Kräften Angst im Dorf verbreitete. Der Vater, zwei Brüder und eine Schwester wurden in diesem Konflikt getötet. Die Mutter musste das Dorf verlassen. "In einen traditionellen Konflikt mischt sich die Polizei nicht ein", erzählt Ebosele, der überlebt hat. Ihm blieb nur die Flucht vor den Mördern.

Wenn Daniel Ebosele seine Geschichte erzählt, wird man den Eindruck nicht los, dass er auf seinem langen Weg nach Deutschland einen Schutzengel gehabt haben muss. Mit einem früheren Mitarbeiter seines Vaters gelangt Daniel ins Nachbarland Niger. In einem Ort nahe der Grenze kommt er bei einer Familie unter. Nach einem Jahr besorgt ihm ein befreundeter Fahrer einen Platz auf einem Lastwagen nach Libyen. "Normalerweise kostet das viel Geld", sagt Daniel Ebosele.

Vier Tage dauert die Fahrt durch die Wüste. In Tripolis lebt der junge Nigerianer in ständiger Angst vor der Polizei, die nach Flüchtlingen sucht, um sie wieder nach Hause zu schicken. Drei Jahre lang bleibt er in der libyschen Hauptstadt, arbeitet als Fliesenleger. 2014 verhilft ihm schließlich ein Libyer auf ein Flüchtlingsboot, ohne dass er dafür bezahlen muss. Nach drei Tagen wird das mit etwa 150 Personen völlig überbesetzte Schlauchboot endlich von der Seenotrettung aufgegriffen. "Zehn Leute sind unterwegs gestorben", erinnert er sich.

Abgeschoben trotz Arbeit

Rex Osa von der Flüchtlingsorganisation refugees4refugees in Stuttgart beklagt, dass geflüchtete NigerianerInnen abgeschoben werden, obwohl sie hier beschäftigt waren. Nachdem sie sich um ihren Pass gekümmert hätten in der Hoffnung auf eine Aufenthaltserlaubnis, seien sie abgeschoben worden, erläutert der Flüchtlingshelfer. Ende Juni haben Aktivisten nachts vor dem Abschiebegefängnis in Pforzheim gegen die Ausweisung von acht Menschen protestiert. Sie sind zum Flughafen Düsseldorf gebracht worden. In Lagos werden sie den Angaben des Vereins Flüchtlinge für Flüchtlinge zufolge im Cargo-Bereich des dortigen Flughafens abgesetzt. Vor Ort kümmert sich ein Team, dokumentiert Berichte über Misshandlungen bei der Abschiebung und fordert von der nigerianischen Regierung, ihre Verantwortung für die Abgeschobenen anzuerkennen.  (lg)

Von Palermo in Sizilien geht es mit dem Flugzeug direkt nach Parma. Zwei Jahre kann Daniel Ebosele dort bleiben, findet aber keine Arbeit und muss vor Supermärkten betteln, damit er wenigstens etwas zu essen hat. Aus dem Flüchtlingsheim in Parma wird er schließlich weggeschickt, ein Nigerianer nimmt ihn auf. In Italien lernt er auch seine jetzige Frau kennen. Sie ist geflohen, weil sie zwangsverheiratet werden sollte und der doppelt so alte Mann sie bei einem ersten Treffen beinahe vergewaltigt hätte.

In der nigerianischen Hauptstadt Lagos kommt sie bei einer Freundin unter, lernt eine Nigerianerin kennen, die ein Restaurant in Tripolis betreibt. Dort kann sie arbeiten. Als sie immer öfter von Gästen bedrängt wird, zahlt die Betreiberin des Restaurants ihr die Überfahrt nach Italien in einem Flüchtlingsboot.

Im Jahr 2015 gelangen die beiden schließlich mit dem Bus nach Deutschland, werden zunächst in Dortmund untergebracht und kommen am 21. April 2016 in Stuttgart an, im Flüchtlingsheim auf der Waldau. Der Asylantrag wird als unbegründet abgelehnt. Daniel Ebosele tut von Beginn an alles dafür, um sich zu integrieren.

Immer wieder kommt die Verzweiflung durch

Er lernt ständig, arbeitet ein halbes Jahr im Hotelservice, erwirbt eine sprachliche Zusatzqualifikation bei der Industrie- und Handelskammer (IHK). Als er schließlich die Urkunde zum Altenpflegehelfer in Händen hält, kann er vor Freude nicht an sich halten, erzählt eine Freundin. Da sei deutlich geworden, welcher Druck auf ihm laste.

Einen Tag später hat er eine Stelle im Pflegeheim der Evangelischen Heimstiftung in Degerloch, wo er seit April arbeitet. Ebosele geht auf in seinem Beruf. Er habe ein Händchen für die Demenzkranken, heißt es. "Oh, mein Gott. Die alten Menschen sehe ich wie meine Familie. Die habe ich hier gefunden", sagt er. Hier hat er seine Bestimmung gefunden. Immer wieder komme die Verzweiflung durch, weil er nicht wisse, was am nächsten Tag passiert, sagt der junge Nigerianer.

Nur noch halb so viele Abschiebungen

Nach Angaben des Innenministeriums ist die Zahl der Abschiebungen aus Baden-Württemberg 2020 um fast 50 Prozent gesunken im Vergleich zu 2019, von 2.648 auf 1.362. Nach Angaben des Flüchtlingsrats wurden im ersten Quartal 2021 insgesamt 244 Menschen aus Baden-Württemberg abgeschoben, 270 Personen weniger als im ersten Quartal 2020.  (lg)

"Wenn jemand nach der Altenpflegehilfe-Ausbildung in eine Beschäftigung geht und dann von Abschiebung bedroht ist, dann war das auch schon während der Ausbildung so", heißt es in einer Stellungnahme des Sozialministeriums auf Anfrage von Kontext. Eine Ausbildungsduldung für die Pflegehilfeausbildung gebe es nur dann, wenn die Zusage für die Fachkraftausbildung da war. "Sollte jemand die Fachkraftausbildung doch nicht anschließen, dann steht der Verdacht des Missbrauchs der Regelung im Raum".

An Missbrauch denken Personen wie Daniel Ebosele in keinem Moment, wenn sie eine Arbeit als Helfer antreten. Solche Fälle gibt es immer wieder, bestätigt auch die Diakonie Württemberg, weil die Betreffenden endlich unabhängig sein wollen. "Wenn jemand die Altenpflegehilfe-Ausbildung ohne Ausbildungsduldung abgeschlossen hat und dann in eine Beschäftigung geht, kann auch die Beschäftigungsduldung nach § 60d Aufenthaltsgesetz in Betracht kommen", erklärt ein Sprecher des Sozialministeriums weiter. Er ergänzt jedoch, dass dafür wiederum besondere Voraussetzungen gelten. Falls dann später doch noch die Fachkraftausbildung folgen sollte, könne es dafür natürlich auf jeden Fall die Ausbildungsduldung geben.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sieht keinen plausiblen Grund, den Altenpflegehelfer abzuschieben. Auf Anfrage von Kontext erläutert Referentin Melanie Skiba, es wäre widersinnig einer Person, die in einem Bereich arbeitet, in dem Mangel herrsche, einen weiteren Aufenthalt zu verweigern.

Das "Haus auf der Waldau" der Evangelischen Heimstiftung verweist darauf, dass auch die AltenpflegehelferInnen auf die Fachkraftquote mit angerechnet werden. Außerdem stellt sie Daniel Ebosele ein hervorragendes Zeugnis aus. Er gilt als "absolut zuverlässig und kompetent". Durch seine ruhige und besonnene Art habe er einen sehr guten Zugang zu den demenzkranken BewohnerInnen.

Der Unterstützerkreis von Daniel Ebosele hat einen Brief an alle Fraktionen im Stuttgarter Gemeinderat geschrieben. Das Ergebnis war ernüchternd. Nur Grüne und Linke hätten sich zurückgemeldet. Auch Manfred Weidmann, ein auf Ausländerrecht spezialisierter Anwalt in Tübingen, beklagt das mangelnde Interesse der Politik. Er hofft auf einen Schub in der Integrationspolitik. "Wenn man der Landesregierung Glauben schenken kann, werden Personen nicht mehr abgeschoben, die mitten im Leben und Beruf stehen", sagt der Anwalt. Auch er sieht keinen Grund, warum Daniel Ebosele nicht bleiben sollte.


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3 Kommentare verfügbar

  • Marita Weissig
    am 04.08.2021
    Antworten
    Ich kann mich da Herrn Schlor nur anschliessen. Hier wird um ein Bleiberecht gestritten, welches es eigentlich garnicht geben dürfte. Aus Nigeria geflohen, ein Jahr im Niger geblieben, dann nach Italien und mit seiner in Italien kennengelernten Partnerin im Bus nach Deutschland. Allein das war schon…
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