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Koalitionsvertrag BW und Stuttgart 21

Ten years after

Koalitionsvertrag BW und Stuttgart 21: Ten years after
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Ziemlich genau zehn Jahre zu spät hat die Südwest-CDU eingeräumt, dass der S-21-Tiefbahnhof nicht hält, was seine Fans so lange versprochen haben. Im neuen grün-schwarzen Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, alle Chancen zu nutzen, um das überflüssigste aller DB-Projekte fortzuentwickeln.

Auf "Bahn für alle" ist Verlass, wenn es gilt, den Baustopp von Stuttgart 21 zu fordern. "Wenn Mist gebaut wird, ist die Lösung ja nicht, noch mehr Mist zu bauen", heißt es in einer Vorab-Stellungnahme des Bündnisses zum noch gar nicht veröffentlichten Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg. Denn darin ist festgeschrieben, quer zum S-21-Tiefbahnhof – also dem alten Mist – einen unterirdischen Ergänzungskopfbahnhof – das ist der neue Mist – zu bauen. Statt einfach den gut funktionierenden Kopfbahnhof zu erhalten.

Dankenswerterweise liefert "Bahn für alle" einen knappen historischen Aufriss mit, für alle, die nicht knietief in den Kampf gegen das Milliardengrab verstrickt sind: "Zwei Jahrzehnte lang behauptete die Deutsche Bahn, mit Stuttgart 21 – dem achtgleisigen Durchgangsbahnhof im Untergrund – käme es zu einer Vergrößerung der Schienenkapazität im Vergleich zum bestehenden Kopfbahnhof mit 16 Gleisen. Gleichzeitig wurde behauptet, die Konstruktion eines Kopfbahnhofs sei veraltet; es müsse ein Durchgangsbahnhof sein. Bahn für Alle und das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 haben dies immer bestritten und belegt: S 21 bringt eine Reduktion der Kapazitäten um 30 Prozent. Jetzt gestehe Grün-Schwarz, dass es genauso ist.

Manchen CDU-VerhandlerInnen ging ein Licht auf

Wobei der eine Koalitionspartner viel mehr zu beichten hat als der andere. Verkehrsminister Winfried Hermann, der grüne Tiefbahnhof-Gegner der ersten Stunde, weiß nur zu gut, was er da am Hals hat: "Ich kann nicht sagen: Scheiß-Bahnhof. Ich muss mir Gedanken machen, wie ich das Beste raushole." Immerhin, manchen CDU-VerhandlerInnen in der Facharbeitsgruppe sechs ("Mobilität") soll bei diesen Gesprächen endlich ein Licht aufgegangen sein. Zum Beispiel Thomas Dörflinger, dem Landtagsabgeordneten aus dem fernen Biberach an der Riß.

Vor drei Jahren hatte der von ihm einberufene einschlägige Fraktionsarbeitskreis die Riesenwunde der S-21-Baustelle mitten im Talkessel besichtigt und konnte sich kaum einkriegen vor Begeisterung angesichts dieser "schwebenden Bahndirektion" (Dörflinger). Die Teilnehmer seien sich einig gewesen, dass der neue Tiefbahnhof neben dem verkehrlichen Nutzen Stuttgart auch "als weltweit einmaliges architektonisches Highlight bereichern wird". Eines, das vor allem an spät realisierten Entwürfen interessierte LiebhaberInnen anlocken wird, weil der Zuschlag im Ideenwettbewerb 1997 (!) war. Ganz abgesehen von allen technischen Problemen ist über die Konstruktion aus Kelchstützen und schrägen Bullaugen die Zeit also längst hinweg gegangen.

Wahrscheinlich beschäftigt sich schon allein deshalb der Koalitionsvertrag nicht mit dem Bahnhof als solchem, mit den künftigen Einkaufsmeilen, nicht einmal mit den zu schmalen Bahnsteigen. Dafür aber mit dem, was am "Eisenbahnknoten Stuttgart 2040" verbessert werden soll beziehungsweise muss. Eine "Initiative" ist vereinbart: "Wir wollen in einem ständigen Prozess den Eisenbahnknoten für die Anforderungen weiterer Angebotssteigerungen in künftigen Jahrzehnten, zum Beispiel über einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen im Schienenverkehr bis 2030 hinaus, zukunftsfähig machen", versprechen jetzt also auch die Schwarzen. Dazu würden die "bereits eingeleiteten und unterstützten Projektverbesserungen wie die große Wendlinger Kurve, die Digitalisierung des Bahnknotens (ETCS) sowie der Erhalt der Panoramabahn umgesetzt".

Und weiter: "Wir befürworten die Umsetzung der im Zuge des Deutschlandtaktes vorgesehenen Bundesprojekte des beschleunigten Nordzulaufs, der P-Option und des Ausbaus der Gäubahn zwischen Stuttgart und Singen mit dem langen Gäubahntunnel zum Flughafen." Dann als einer der Höhepunkte: "Wir setzen auf eine sehr zeitnahe Umsetzung der Planungen und der Finanzierung durch den Bund im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes. Zu einer für Projektänderungen notwendigen Anpassung des Finanzierungsvertrages zu Stuttgart 21 sind wir bereit, sofern eine gleichwertige Umsetzungs- und Finanzierungsabsicherung ohne Zusatzkosten für das Land gesichert und eine schnellstmögliche Umsetzung gegeben ist." Im Klartext: Mir gebet nix über die 930,6 Millionen Euro Landesanteil hinaus, die im Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 festgeschrieben sind.

Eine wusste und weiß natürlich ganz genau über solche und andere Details Bescheid: Fragen der Mobilität und damit zu Stuttgart 21 mitverhandelt hat auf schwarzer Seite die frühere verkehrspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion Nicole Razavi. Jetzt wird sie möglicherweise als Ministerin neben dem Kollegen Hermann am Kabinettstisch Platz nehmen – und muss wahlweise auf Milde hoffen oder auf Gedächtnisverlust. Niemand hat den Grünen öfter der Lüge bezichtigt als sie, hat ihn alles Mögliche geheißen und ihm vorgeworfen, "so ziemlich alles falsch gemacht zu haben, was nur falsch zu machen war". Jetzt muss die frühere Studienrätin und Leiterin von Stefan Mappus' Büro, als der noch Umwelt- und Verkehrsminister war, per Koalitionsvertrag einräumen, dass der Eisenbahnknoten Stuttgart erst noch wirklich zukunftsfähig gemacht werden muss. Übrigens mit Hilfe von unterirdischen Ergänzungsgleisen an der Nordseite des heutigen Kopfbahnhofs, an denen Hermann seit Längerem herumtüftelt, von denen die CDU aber bisher gar nichts wissen wollte.

Wenig Durchblick: OB Nopper

Und von denen die CDU viel zu wenig versteht, jedenfalls den Stuttgarter OB Frank Nopper zum Maßstab genommen. Denn das neue Stadtoberhaupt mit den "tiefen Stuttgarter Wurzeln" hat von den jüngeren Entwicklungen bei S 21 wenig und vom Ergänzungsbahnhof noch weniger Ahnung, sonst wäre ihm in seiner ersten Reaktion auf die neue Lage nicht ein äußerst verräterischer Fehler unterlaufen. Er habe sich "kritisch zu den in verschiedenen Medien veröffentlichten Plänen der Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen und CDU geäußert, einen Ergänzungsbahnhof auf den im städtischen Eigentum befindlichen bisherigen Gleisflächen bauen zu wollen". Auf? Unter! Seine Kenntnisse aufpolieren könnte Nopper, der sich als Projektpartner in die Materie ohnehin zügig einarbeiten muss, am besten im Gespräch mit Minister Hermann. Der kann die Pläne leicht fasslich für LaiInnen darstellen (siehe hier). Und außerdem erläutert er gern als Zugabe, wie "extrem konservativ bis sehr zurück" die Schwarzen im Land beim Mobilitätsthema sind.

Im Talkessel soll sich das jetzt ändern, soweit der "Murks" (Bahn für alle) das zulässt. Denn selbst wenn der unterirdische kleine Kopfbahnhof realisiert würde, müsste er, um künftigen Anforderungen zu entsprechen, sinnvollerweise sechs statt vier Gleise haben. Unklar ist, ob dafür Platz ist an der Bankenseite des Tiefbahnhofs, auf der Verteilerebene zwischen Tunneln oder Entwässerungskanälen, damit der Nutzen für den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen perspektivischem Bedarf überhaupt erfüllt werden kann. Fest steht aber schon: Der integrale Taktfahrplan und immer neue Kapazitätssteigerungen, um die Mobilitätswende wirklich voran zu bringen, bleiben fromme Wünsche. Immerhin wollen die neuen alten Regierungspartner sogar Finanzierungswege ermitteln für die zusätzlichen Infrastrukturelemente.

Die Union hätte Stuttgart viel ersparen können

Wäre die CDU vor zehn Jahren, nach mehr als hundert Stunden Schlichtung oder spätestens dem bekanntlich nicht einmal auf dem Papier bestandenen Stresstest schon so weit gewesen, wäre nicht nur Stuttgart und seiner Region, sondern mit größter Wahrscheinlich auch der Partei selber viel erspart geblieben. Stattdessen hat sie den Kampf um den Tiefbahnhof gewonnen und alle politischen Gestaltungsmehrheiten in der Stadt für lange Zeit verloren, weil jede, aber wirklich jede der bisherigen Gelegenheiten ungenutzt blieb, sich von den Scheuklappen zu befreien.

"Mit diesem Antrag soll der Landesregierung die Möglichkeit gegeben werden, die Widersprüche aufzuklären und den in den Medien geäußerten Lügenvorwurf zu entkräften", begründeten der damaligen Fraktionschef Peter Hauk und Nicole Razavi vor ziemlich genau zehn Jahren eine ihrer ungezählten parlamentarischen Anfragen in spitzem Ton an Grün-Rot zum leidigen Thema S 21. Aber keine der Antworten darauf und keine der hunderten anderen Antworten aus dem Verkehrs-, dem Finanz- oder dem Staatsministerium konnte ein Umdenken einleiten. Da musste nach 2016 eine zweite Wahlniederlage kommen und die blanke Angst, abermals in der Opposition zu landen. Künftige BahnnutzerInnen werden’s danken: So leistungsfähig wie der Kopfbahnhof wird die Durchgangsstation, wie Hermann den Tiefbahnhof gern nennt, alleine nie. Aber er werde kämpfen, sagt der Grüne seit 1982 – "für die Sache, denn das ist mein Antrieb". Gerade am Beginn seiner dritten und letzten Amtszeit als Minister.


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11 Kommentare verfügbar

  • WernerS
    am 07.05.2021
    Antworten
    Die Wähler laufen uns davon und wir wissen nicht warum, an S21 kann es doch nicht liegen.

    Ich diskutier das nicht mehr. Der alte Bahnhof war und ist besser und billiger als jede Fortentwicklung. Zuschütten ist die einzig vernünftige Lösung. Ich wähle keinen der glaubt Stuttgart21 sei noch zu…
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