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Autofreund Nopper

Verkehrt auf dem Pferd

Autofreund Nopper: Verkehrt auf dem Pferd
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Ein Projektbeschleuniger will Stuttgarts neuer OB Frank Nopper sein und gemeinsam mit dem Gemeinderat "plausible Lösungen" anbieten. Zur lebenswerten Stadt für alle liegen diverse Ideen und Pläne vor. Jetzt muss sie nur noch jemand zur Chefsache machen.

So also sieht beispielsweise der heiß diskutierte Einstieg in die Verkehrsberuhigung in der Dorotheenstraße aus: Ein paar Hochbeete versperren eine Handvoll Parkplätze. Natürlich nicht dort, wo gerade in der pandemie-bedingt deutlich weniger vollen City ein Zeichen gesetzt werden könnte, nämlich direkt vor der Markthalle und als Hallo-Wach für alle, die nicht wahrhaben wollen, dass der Individualverkehr zurückgedrängt werden muss zwischen Planie und Paulinenbrücke, zwischen Theo und Hauptstätter Straße. Die Tröge stehen stattdessen vor dem Alten Waisenhaus und können, darauf legt die Verwaltung Wert, jederzeit wieder abgebaut werden.

Noch so ein griffiger Nopper-Spruch: Er will dem Stuttgarter Rössle Galopp-Tempo beibringen. Da hätte der CDUler ein breites Betätigungsfeld unter seinen zwölf ParteifreundInnen im Rat, ebenso in der FDP und bei den Freien Wähler. Denn wenn es um die Bedeutung vom heiligen Blech im Talkessel geht, ziehen zu viele in der bürgerlichen Ratsminderheit am bremsenden Zügel oder sitzen sogar verkehrt auf dem Pferd. Als die entscheidenden Beschlüsse vor bald vier (!) Jahren gefasst wurden, wusste CDU-Fraktionschef Alexander Kotz, wo sein Platz ist: an der Seite der HändlerInnen und vor allem der Markthallen-Kundschaft, auch der mit den dicken Autos, die sich nicht der von Friedrich Schiller bewachten, aber ach so engen Tiefgarage aussetzen wollen. Stuttgart ersticke an der Ideologie der autogerechten Stadt, so Linken-Stadtrat Christoph Ozasek.

Eine Megagelegenheit, zum Wohle von Stadt- und Erdkreis dagegen zu arbeiten, steht direkt vor der Türe. Grüne und CDU werden mit ihrem zweiten Koalitionsvertrag, den sie kommende Wochen vorlegen, Städten und Gemeinden die Möglichkeit eröffnen, eine Nahverkehrsabgabe zu erheben. Die heißt jetzt Mobilitätspass, die Stadt war bereits an einem Modellversuch das Landes beteiligt, der Gemeinderat hat sich immer wieder dafür ausgesprochen, bloß die Rechtgrundlage fehlte. Jetzt wird sie in Bälde vorliegen. "Eine der wesentlichsten Klimaanpassungs-Maßnahmen ist die Verkehrswende", schreiben die Stuttgarter Grünen in einem Antrag. Und weiter: "Bis zum Jahr 2030 wollen wir die Fahrgastzahlen im Öffentlichen Verkehr mindestens verdoppeln – und Lärm, Hitze, Stau in der Stadt reduzieren. Dafür müssen attraktive Angebote durch SSB und VVS geschaffen, Strecken neu geplant und Relationen verbessert werden." Hierfür brauche der seit Jahren unterfinanzierte ÖPNV eine stabile, dauerhafte und nachhaltige Finanzierung, dank Mobilitätspass.

Citymaut – lernen von Stockholm

An internationalen Beispielen fehlt es nicht. "Am weitesten vorangeschritten ist die Entwicklung autofreier Ballungszentren im Norden Europas", heißt es in einer Übersicht der EU. Für Baden-Württembergs Kommunen ist angesichts der neuen Möglichkeiten besonders spannend die in Stockholm. Sieben Monate testete Schwedens Hauptstadt nicht eine Nahverkehrsabgabe, sondern die City-Maut, also die Eintrittsgebühr für AutofahrerInnen zwischen 6.00 und 18.29 Uhr. Vorher waren 80 Prozent dagegen, nachher stimmten 53 Prozent zu. Das ist 15 Jahre her, inzwischen sind 70 Prozent der Bürgerschaft dafür und Ausnahmen für TouristInnen abgeschafft.

Für die bisherige Haltung der CDU steht die Einlassung des Kreisvorsitzenden Stefan Kaufmann. Als Alt-OB Fritz Kuhn die Nahverkehrsabgabe 2018 voranbringen wollte, meinte er seine "Fassungslosigkeit" zu Protokoll geben zu müssen: "Dies wäre ein weiterer harter Schlag für zehntausende Berufspendler, die tagtäglich zu ihrem Arbeitsplatz in der Stadt pendeln und auf das Auto angewiesen sind."

Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn das Geld soll ja gerade in den ÖPNV-Ausbau gesteckt werden, damit das Auto an Attraktivität verliert. Zumindest im Sondierungspapier hat die CDU sogar "eine Garantie für den öffentlichen Nahverkehr" unterschrieben: "Dafür werden alle Orte in Baden-Württemberg von fünf Uhr früh bis Mitternacht mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichbar sein." Und landesweit günstige Preise, wie zum Beispiel das 1-2-3-Ticket mit seiner Basisjahreskarte um 365 Euro, sollen zumindest mit dem Ziel der Einführung geprüft werden.

Das Auto scheint im Stammhirn verankert

In Stuttgart dürfen solche Passagen als Schub für die 35 RätInnen von Grünen, SPD und den beiden Fraktionsgemeinschaften "Die Fraktion" und "Plus" verstanden werden, die immer wieder gegen die Minorität stehen. Und die CDU müsste nur an eigene Beschlüsse von Anfang der Neunziger Jahre anknüpfen, als die Partei sich noch eigenständig Pläne zur Eindämmung des Individualverkehrs ausdachte – bis die Fachpolitiker dann der Mut verließ, im Irrglauben, so etwas werde der SPD mit dem Umweltminister Harald B. Schäfer und den Grünen in die Hand spielen.

Inzwischen haben sich nicht nur die Mehrheitsverhältnisse verändert. Während Sondierungen und Koalitionsverhandlungen dürfte den Schwarzen wiederholt klargemacht worden sein, wie weit die Erderwärmung schon vorangeschritten ist und dass es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Entweder das von der CDU ausgerufene Klimaschutzland Baden-Württemberg tatkräftig mitzugestalten oder einer Entwicklung hinterherzulaufen, die unausweichlich gerade in Innenstädten zu Verboten führen muss. Ganz zu schweigen von der sinkenden Lebensqualität.

Selbst Nopper hatte sich im Wahlkampf ungeniert des alten grün-roten Projekts der Versöhnung von Ökologie und Ökonomie bedient. Mit seiner Wohlfühlidee vom Mobilitätsfrieden, vom Miteinander der verschiedenen Verkehrsteilnehmer, wird er die Stadt aber nicht weiterbringen, solange er sich um Prioritäten drückt: "Ich will für alle Verkehrsmittel eine gute und faire Zukunftschance – ohne Bevormundung, ohne Verbote, dafür aber mit starken Anreizen." Genau das wollen viele StuttgarterInnen nicht beziehungsweise nicht mehr.

Der Linken-Stadtrat Ozasek kämpft gegen den Einfluss "der Automobilwirtschaft auf die Kommunalpolitik, auf die Planer, auf die Universitäten, die neue Ingenieure ausbilden und qualifizieren". Noch immer aber werde die Erzählung der Autostadt Stuttgart reproduziert: "Wir müssen eine positive Vision unserer Stadt entwickeln jenseits der Automobilität." Oder wie der Wiener Mobilitätswende-Guru Hermann Knoflacher sagt, der gern in Stuttgart zu Gast ist: "Das Auto ist in den tiefsten Ebenen des Stammhirns bei den Menschen verankert."

Lebenswerte Innenstadt – dann mal ran!

An Foren und Debatten, dem entgegenzuwirken, an Papieren und Plänen, die seit dem Zielbeschluss "Lebenswerte Innenstadt für alle" gewälzt werden, ist auch kein Mangel. Eine Dialogveranstaltung hat stattgefunden zum Ausbau der Fußgängerzonen und zum Rückbau von Parkplätzen, eine "Verkehrliche Grundlagenuntersuchung" wurde online präsentiert und diskutiert. Würden sich die S21-Fans an den Animationen und dem, wie es heißt, "möglichen Blick in die Zukunft", gerade vor der Markthalle mit Gastronomie und Flaniermeile, ähnlich berauschen wie damals vor zehn Jahren an den glücklich durch den Tiefbahnhof lustwandelnden Familien, wäre der Käs' schon gegessen. Stattdessen hat die CDU noch einen weiten Weg vor sich. Im seinem Wahlkampf jedenfalls lehnte OB-Aspirant Nopper aus Backnang die deutlich autofreiere Innenstadt regelmäßig ab.

Besonders ärgerlich ist, wenn mit SeniorInnen argumentiert wird, mit Menschen mit Einschränkungen, mit AnwohnerInnen oder mit dem Lieferverkehr, denn selbstverständlich sind alle einschlägigen Fragen in den Rückbau-Plänen berücksichtigt. Gerade zu letzterem liegen Planungen auf dem Tisch, die verdächtig einem Konzept ähneln, das in den Daimler-Archiven schlummert. Vor drei Jahrzehnten bekam Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) von Konzernvertretern auf einer Israel-Reise Ideen für Jerusalem präsentiert mit über die Stadt verteilten Standorten, die heute Lieferhub heißen würden und von denen aus alle möglichen Güter weiterverteilt werden könnten. Für Stuttgart im Jahr 2021 liegen diese Hubs an der Theodor-Heuss-, der Sophien- oder der Marstallstraße, um von dort aus die weitere Distribution "verträglich und emissionsarm abzuwickeln".

Ozasek hat viel getan für den Bewusstseinswandel. Radverkehr ist schon länger ein eingängiger Begriff in Mobilitätsdebatten, Fußverkehr ("Stuttgart laufd nai") eher weniger. Dabei wird die Stadt irgendwann vor allem den FußgängerInnen gehören. Denn die Versuche, die Verkehrsberuhigungsdebatte der Sechziger zu recyceln, werden auf kurz oder auf länger nicht fruchten. An einer Schlüsselstelle neben den Räten und der Verwaltung sieht Verkehrsminister Winfried Hermann die eigenen WählerInnen. "Da reicht's nicht, grün zu wählen", sagt der 68-Jährige, der seinen Landtagswahlkreis gerade mit 40 Prozent der Stimmen gewonnen hat – fast doppelt so viele wie CDU-Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann darin auf sich versammeln konnte. GrünwählerInnen müssten auch selber politisch grün unterwegs sein und für Mehrheiten werben. Der OB hat ein "Bürgertelefon" geschaltet (0711/21681500, zu bestimmten Zeiten), weil ihm der direkte Austausch "am Herzen liegt". Dann mal ran.


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5 Kommentare verfügbar

  • chr/christiane
    am 07.06.2021
    Antworten
    Wahl in Sachsen- Anhalt:

    Hochburg der Grünen ist und bleibt Halle an der Saale III.
    Wahl 2021:
    CDU: 23%
    Grüne: 21.2%
    Linke: 17.4%
    SPD: 13%
    FDP: 9.1%
    AfD: 9.2%

    Der Stadtrat Halle hatte Ende 2020 eine "Autoarme Innenstadt" beschlossen.
    500 Parkplätze sollten wegfallen--ein Ringverkehr…
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