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Brandschutz im S-21-Tunnel

Tödliche Trickserei

Brandschutz im S-21-Tunnel: Tödliche Trickserei
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Seit Langem bemängeln Kritiker den Brandschutz bei Stuttgart 21. Nun räumt die Bahn indirekt ein, dass der Vollbrand eines Zuges im längsten Tunnel des Projekts unbeherrschbar ist. Jahrelang täuschte der Konzern die Behörden – die bis heute nicht genauer nachfragen.

Was passiert, wenn ein vollbesetzter ICE Feuer fängt und im rund 60 Kilometer langen Tunnelsystem von Stuttgart 21 liegen bleibt? Können sich Passagiere und Zugpersonal vor Flammen, Hitze und Giftgasen in Sicherheit bringen? Oder wird der knapp neun Kilometer lange Fildertunnel zur Todesfalle? Wie bei der Kaprun-Katastrophe am 11. November 2000, bei der ein Zug der Gletscherbahn im Tunnel in Brand geriet und 155 Menschen an Rauchgasvergiftung starben? Solche Fragen stellen sich die Kritiker des Tiefbahnhofprojekts seit Jahren. Antworten darauf blieb die S-21-Bauherrin Deutsche Bahn stets schuldig.

Dokumente legen jetzt nahe, dass der Staatskonzern ein solches Brandszenario schlicht als "nicht sehr wahrscheinlich" ignoriert – und Behörden und Öffentlichkeit seit Jahren über dessen Unbeherrschbarkeit täuscht. So behauptete der damalige Brandschutzbeauftragte der Bahn, Klaus-Jürgen Bieger, während einer Sitzung des Arbeitskreises Brandschutz am 14. Januar 2014, dass die rechtzeitige Evakuierung von 1.757 Personen aus einem im Fildertunnel liegen gebliebenen ICE durch eine Computersimulation nachgewiesen sei. Laut der damals präsentierten "Folie 11", auf der Evakuierungsströme und -zeiten skizziert sind, können sich Passagiere und Zugpersonal ohne fremde Hilfe in nur elf Minuten statt der offenbar von der Branddirektion geforderten 15 Minuten in die benachbarte sichere Tunnelröhre retten. "Diese überschlägliche Berechnung wurde mittlerweile durch die Gruner AG durch Simulationen bestätigt", ist im Sitzungsprotokoll festgehalten.

Dass diese Zeit schöngerechnet ist, vermuten seither die "Ingenieure 22". Die projektkritische Gruppe hatte sich Einsicht in Unterlagen zum Tunnel-Rettungskonzept des Projekts vor Gericht erstritten (Kontext berichtete). "Die Simulationen sind manipulierte Best-Case-Szenarien", machte ihr Sprecher Wolfgang Jakubeit dies an mehreren Punkten fest. So sei unterstellt, dass ein Zug mittig zwischen zwei Rettungsstollen steht. Diese ermöglichen im Abstand von 500 Metern den Übergang in die benachbarte Tunnelröhre. Dass der nächstliegende Stollen durch das Brandgeschehen versperrt sein könnte, was den Fluchtweg auf bis zu 500 Meter verlängert, werde ignoriert. Zudem betrage die Ausstiegshöhe von Zug auf Fluchtweg mehr als 90 Zentimeter, was für Kinder, ältere und mobilitätseingeschränkte Menschen unüberwindbar sei, so Jakubeit. Für diese müssten die Zugbegleiter zunächst die in den Decken installierten Notleitern aufstellen. Die Simulation sei zudem mit einem Zug ohne Sitze durchgeführt worden. Vor allem bemängelten Jakubeit und seine Mitstreiter aber, dass weder Hitze- noch Rauchentwicklung berücksichtigt worden seien. Auch falle Panikverhalten in der Simulation unter den Tisch.

Nur ein "kaltes Ereignis" als Grundlage

Der Verdacht auf Trickserei hat sich mittlerweile bestätigt. Zwar wiederholte die Bahn noch im vergangenen September gegenüber dem Stuttgarter Gemeinderat, dass die Schweizer Gutachterfirma Gruner AG die Evakuierungszeit auf der "Folie 11" durch Computersimulationen bestätigt habe. Die Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" (Linke, SÖS, Piraten, Tierschutzpartei) hatte im Mai detaillierte Auskunft zur Sicherheit in den S-21-Tunneln beantragt. Die schriftliche Stellungnahme des Konzerns barg jedoch ein brisantes Eingeständnis: Der betreffenden Simulation ist kein "heißes Ereignis" zugrunde gelegt, wie ein Zugvollbrand im Fachjargon heißt. "Untersuchungsgegenstand war kein Brandereignis, sondern die Evakuierung eines Zuges in einem zweiröhrigen, eingleisigen Tunnel über Querverbindungen bei einem kalten Ereignis im Fall einer technischen Störung wie etwa eines Oberleitungsschadens oder einer Antriebsstörung", heißt es wörtlich.

Das wirft die Frage auf, welchen Sinn die seit 2014 immer wieder ins Feld geführte Simulation überhaupt ergibt. Denn es spräche nicht nur gegen jede Vernunft, sondern auch gegen bahninterne Vorschriften, wenn das Zugpersonal bei einem Oberleitungsschaden die Notevakuierung des liegengebliebenen Zuges einleiten würde. Üblicherweise werden Pannenzüge erst geräumt, nachdem zusätzliche Rettungskräfte eingetroffen sind. Dies gilt auf Freilandstrecken wie in Tunneln. Erklärungen zu dieser Widersprüchlichkeit liefert die Bahn bis heute keine.

Argumentiert die Bahn mit einer Fata Morgana?

Stattdessen mehren sich die Hinweise, dass die "Folie 11"-Simulation eine Art Fata Morgana ist. Weder das Regierungspräsidium Stuttgart noch die Berufsfeuerwehr der Landeshauptstadt, neben der Bahn im Arbeitskreis Brandschutz vertreten, haben sie zu Gesicht bekommen. "Nein", heißt es von beiden auf eine entsprechende Kontext-Anfrage. "Das wäre auch gar nicht möglich, weil die S-21-Projektgesellschaft gar nicht über diese Simulation verfügt", sagt Dieter Reicherter vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Vielmehr habe die Gruner AG mit Datum 17. Juni 2014, also rund fünf Monate nach der fraglichen AK-Sitzung, lediglich einen Bericht über die Simulationen erstellt, so der ehemalige Richter. Auch aus diesem sei nicht ersichtlich, wann die Simulation durchgeführt wurde. "Jedenfalls gelangte die Projektgesellschaft nie in den Besitz der Simulationen selbst", so Reicherter.

Reicherter stieß auf diesen irritierenden Umstand in einem Schreiben der Stuttgarter Kanzlei Kasper Knacke, die diese im Auftrag der S-21-Projektgesellschaft am 5. November 2020 an das Eisenbahnbundesamt (EBA) verfasste. Darin betont Rechtsanwalt Peter Schütz, dass es sich bei der Tunnelsimulation der Schweizer Gutachter "in Wahrheit um den 'Ergebnisbericht der Gruner AG' handelt, weil nur dieser der Vorhabenträgerin übergeben wurde." Die Behörde bearbeitet derzeit einen Antrag unter anderem der Schutzgemeinschaft Filder, des Aktionsbündnisses sowie eines Rollstuhlfahrers: Der S-21-Projektgesellschaft seien zusätzliche Auflagen für einen wirksamen Brandschutz im Fildertunnel anzuordnen oder, sollten sich Brandschutzmängel angesichts des Baufortschritts nicht mehr beheben lassen, sei die Baugenehmigung für das Gesamtprojekt zu widerrufen.

Die Bahn und ihr Rechtsbeistand sehen das erwartungsgemäß anders. Die Behörde müsse die Anträge ablehnen, unter anderem "weil den Antragstellern noch überhaupt kein Schaden entstanden sein könnte – weil Stuttgart 21 bislang ja noch nicht fertiggestellt und in Betrieb genommen ist", argumentiert Anwalt Schütz. Vielmehr stelle der Antrag "den Versuch einer Skandalisierung dar, der den tatsächlichen Gegebenheiten im Hinblick auf die Sicherheit von Eisenbahntunneln nicht gerecht wird", schreibt der Jurist.

Schütz wiederholt in dem Schreiben eine Argumentation, die bereits Klaus-Jürgen Bieger im Januar 2014 im Arbeitskreis vorgebracht hatte. Nämlich, dass die Bahn die Evakuierungssimulation freiwillig beauftragt habe. "Das einschlägige Regelwerk sieht solche Simulationen nicht vor", so Schütz. Zudem müsse man unterscheiden zwischen dem neuen Durchgangsbahnhof als unterirdischer Personenverkehrsanlage und den Tunnelanlagen. "Für die Tunnel werden lediglich Rettungskonzepte erstellt, keine Brandschutzkonzepte", argumentiert er.

Alle Risikoszenarien zu prüfen, sei "nicht erforderlich"

Der Bahn-Anwalt hebt auch darauf ab, dass gemäß der EBA-Tunnelrichtlinie "für den Umfang der Sicherheitsmaßnahmen typische Primärereignisse und keine Worst-Case-Betrachtungen zugrunde zu legen" seien. Als "schlimmsten Fall" wertet Schütz demnach einen Zugbrand im Tunnel – was aber nahezu ausgeschlossen sei: Bei einem Brandereignis halte der Zug auch nicht im Tunnel, "sondern soll, wenn irgend möglich, die Tunnelröhre Richtung freie Strecke oder in Richtung der nächsten unterirdischen Personenverkehrsanlage verlassen", führt er aus. Hierzu verfügten Eisenbahnfahrzeuge auch über Notlaufeigenschaften. "Es ist deswegen bereits nicht sehr wahrscheinlich, dass ein brennender Zug überhaupt im Tunnel zu stehen kommt. Dass gleichzeitig noch der Ausgang versperrt sein soll – Doppelung der Ereignisse –, muss nicht betrachtet werden. Denn es ist nicht erforderlich, alle nur irgendwie denkbaren Risikoszenarien kumuliert zu betrachten", argumentiert Schütz. Zusammengefasst: Ein Vollbrand im Fildertunnel passiert in der Gedankenwelt der Deutschen Bahn nicht.

Doch was sagen die zuständigen Behörden? Halten sie die im Januar 2014 durch die Bahn genannten Evakuierungszeiten bei einem Brandfall für realistisch – und damit eine Brandkatastrophe wie beim Gletscherbahntunnel von Kaprun für ausgeschlossen? Kontext hat um Antworten gebeten. "Es existieren keine rechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Erstellung einer Evakuierungssimulation oder der Dauer einer Evakuierung eines Zuges im Tunnel", sagt das Regierungspräsidium Stuttgart. "Die allgemeinen Darstellungen in der Folie 11 erscheinen plausibel", ergänzt die Sprecherin. Letztlich entscheide das Eisenbahnbundesamt als zuständige Planfeststellungs- und Genehmigungsbehörde.

"Ob eine Evakuierungszeit von 15 Minuten für einen Zug aus fachlicher Sicht realistisch ist, kann von Seiten der Branddirektion nicht beurteilt werden", antwortet die Stuttgarter Berufsfeuerwehr. "Im Arbeitskreis Brandschutz ist das Durchspielen eines konkreten Szenarios nicht vorgesehen, da es für die Genehmigung der S-21-Tunnel nicht relevant ist", erklärt die Behörde der Stadt Stuttgart.

Das EBA betont, dass die detaillierte Ausführungsplanung wie auch betriebliche Regelungen zum Brandschutz nicht Gegenstand der Planfeststellung seien. "Entsprechende Dokumentationen muss die Vorhabenträgerin erst im Verfahren zur Inbetriebnahmegenehmigung vorlegen", heißt es aus der Bonner Behörde.

Es droht eine Bauruine wegen Sicherheitsmängeln

Den Projektkritikern schwant, dass die Bahn auch Ende 2025, wenn Stuttgart 21 nach aktuellen Planungen in Betrieb gehen soll, mit leeren Händen dasteht. "Eine Evakuierung im Brandfall innerhalb von 15 Minuten wird sie nicht nachweisen können", prophezeit Reicherter. Was den laut Bundesrechnungshof und nach Kontext-Recherchen rund zehn Milliarden Euro teuren Tiefbahnhof zur gigantischen Fehlinvestition machen würde: "Dann kann in den Tunneln überhaupt kein Eisenbahnverkehr stattfinden, und Stuttgart 21 wird als Bauruine enden." Zumindest müsse der Fahrplan aus Sicherheitsgründen ausgedünnt werden. "Möglicherweise sind auch aufwändige zusätzliche Maßnahmen wie eine dritte Tunnelröhre als Notstollen nötig", erwartet Reicherter.

Auf Anfrage antwortet die S-21-Projektgesellschaft so, wie sie seit Jahren auf Presseanfragen zum Brandschutz antwortet: "Die Deutsche Bahn plant und arbeitet grundsätzlich auf Basis der anerkannten Regeln der Technik. Hierzu zählen gesetzliche europäische und nationale Grundlagen sowie sämtliche Regelwerke und eingeführte Vorgaben der Behörden." Das Eisenbahnbundesamt habe das Brandschutzkonzept für den künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof und die zulaufenden Tunnel umfassend geprüft und genehmigt.


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7 Kommentare verfügbar

  • Lisa Wagner
    am 13.04.2021
    Antworten
    Ihre Artikel zum Bahnprojekt Stuttgart-Ulm lese ich mit Interesse.
    Schon lange möchte ich schreiben, weil mir auf dem Hinweis zum gesamten Dossier "Das Jahrhundertloch - Stuttgart 21" die Grafik auffällt:
    Es wird die Neigung der künftigen Bahnsteighalle des HbH-Stuttgart dargestellt mit 15…
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