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OB-Wahl in Stuttgart

Der extreme Realist

OB-Wahl in Stuttgart: Der extreme Realist
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Polarisieren ist brandgefährlich, am Ende verschreckt man noch die bürgerliche Mitte. Hannes Rockenbauch, der Oberbürgermeister in Stuttgart werden will, tut es trotzdem und mit voller Absicht. Er meint, dass Politik Streit und radikale Positionen braucht, um die Probleme einer extremen Wirklichkeit angehen zu können.

Die Uhr tickt: Obwohl die seriöse Klimaforschung seit Jahrzehnten vor den Folgen der Erderhitzung warnt, weigern sich Politik, Medien und die Gesellschaft bislang hartnäckig, aus den vorliegenden Erkenntnissen angemessene Konsequenzen zu ziehen. Setzt man das 1,5-Grad-Ziel als Maßstab an, ab dessen Überschreitung der Fortbestand menschlicher Zivilisation zum Glücksspiel mit immer schlechteren Karten wird, ist das Restbudget an CO2, das noch freigesetzt werden darf, in nahender Zukunft verbraucht. Ausgehend vom aktuellen Stand der Emissionen bleiben beim Erscheinen dieses Artikels noch knapp sieben Jahre, ein Monat und acht Tage – das ist weniger Zeit als ein Oberbürgermeister in Baden-Württemberg hat, um seine Amtsperiode zu gestalten.

In Stuttgart, wo derzeit ein Dreikampf um die Rathausspitze tobt, betonen alle Kandidaten mit Aussichten, das Problem mit dem Klimawandel erkannt zu haben. Als Top-Favorit gilt Frank Nopper, ein Pragmatiker von der CDU, der als Stuttgarter Oberbürgermeister sogar die Bundespolitik aufmischen würde, denn ganz wie die Grünen fordert er einen Kohleausstieg bis 2030. Laut Wahlprogramm bekennt er sich auch zum 1,5-Grad-Ziel, und erreichen will er das zum Beispiel mit einer "konsistenten kommunalen Solardachinitiative". Er findet aber auch, dass Stuttgart mehr Straßen braucht, und zeigt sich generell als baufreudiger Bewerber. Entsprechend genießt der Konservative bei den Naturschutzverbänden und ökologisch Bewegten in Backnang, wo er die vergangenen 18 Jahre als Oberbürgermeister wirkte, nicht den besten Ruf.

Auch Marian Schreier, der überparteiliche SPD-Mann ohne Wahlempfehlung der Genossen, hat die Zeichen der Zeit erkannt und will den "Klimawandel endlich ernst nehmen" – wobei der Realpolitiker in seinen Forderungen nicht ganz so radikal auftritt wie sein Kontrahent von der Union. Er will ebenfalls mehr Photovoltaik auf den Dächern sehen, kostenlose Kredite für unternehmerische CO2-Tilgung und verspricht: "Mit mir als Oberbürgermeister wird Stuttgart klimapositive Stadt – und das noch deutlich vor dem Jahr 2050." Als Rathauschef in Tengen kann der 30-Jährige für sich verbuchen, den ersten Windpark im Landkreis Konstanz auf den Weg gebracht zu haben.

Und dann ist da Hannes Rockenbauch vom Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS), der Ambitionen hegt, die Landeshauptstadt schon bis 2030 klimaneutral machen zu wollen – was laut den Berechnungen zum wissenschaftlich empfohlenen 1,5-Grad-Ziel sogar noch gut zwei Jahre zu langsam wäre, aber medial bisweilen als realitätsfremde bis populistische Extremposition dargestellt wird. Vielleicht weil es Studien zufolge bedeuten würde, den Autoverkehr in der Landeshauptstadt bis dahin um 85 Prozent zu reduzieren. Eine Forderung, die in der Blechburg Stuttgart noch vor wenigen Jahren dem politischen Selbstmord gleichgekommen wäre und auch heute noch den Großteil einer gemäßigten Mitte verschrecken dürfte. Rockenbauch ist sich bewusst, dass das Leitbild der "autofreien Stadt eine schwierige mentale Figur" für viele Stuttgarter sei. Immerhin hängen der Wohlstand der Stadt, sprudelnde Steuereinnahmen und etliche Arbeitsplätze ganz unbestreitbar und sehr maßgeblich von der produzierenden Industrie ab. Doch wer es ernst meine mit dem Klimaschutz, sagt er, müsse auch Maßnahmen vorschlagen, die realistischerweise CO2 im gebotenen Umfang einsparen könnten.

Kleine Schritte und große Probleme

Nicht nur, weil der Lebensunterhalt vieler Menschen von klimaschädlichen Geschäften abhängt, ist die Lage verzwickt. "Das gesellschaftliche Dilemma", erörterte Peter Unfried kürzlich in einer taz-Kolumne, "besteht darin, dass die physikalische Realität und die gesellschaftliche Realität auseinanderklaffen." Einerseits, argumentiert er, tue die regierende Politik zu wenig, um das Pariser Klimaabkommen umzusetzen. Anderseits wolle die Gesellschaft zwar, dass Verträge eingehalten werden. Sie sei sich aber "weitgehend im Unklaren darüber, dass es keinen annähernd ausreichenden Plan gibt. Und dass wir bereits bei 1,3 Grad sind." Unfried sieht darin auch ein Medienproblem, da die "jahrelange Ignoranz gegenüber der Bedeutung der Klimakrise das zentrale Versagen des bundesrepublikanischen Journalismus" sei.

Ähnlich argumentiert Bernd Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur der "Zeit", in seinem 2018 erschienenen Essay "Wie radikal ist realistisch". Darin erweitert er das Problemfeld über die Klimakrise hinaus: "Die Politik der kleinen Schritte verliert mehr und mehr den Bezug zur Realität der großen Probleme", urteilt er. Und "die Medien treten der Krise des politischen Systems nicht wirkungsvoll entgegen, vielmehr sind sie selbst davon erfasst". Denn der "allgegenwärtige politische Gradualismus" – so nennt Ulrich die kleinen Schritte – werde "durch den Journalismus weniger hinterfragt als vielmehr eskortiert". Meist verfalle die politische Berichterstattung dabei einem blinden "Mitte-Reflex", der, ohne auf Inhalte zu schauen, für eine gemäßigte "Realpolitik" plädiere anstatt radikale Alternativen zu empfehlen. Was offenbar auch dann gilt, wenn letztere notwendig wären, um menschliche Lebensgrundlagen zu erhalten.

Kritische Kipppunkte

Ein exakter Betrag, ab welcher CO2-Konzentration in der Atmosphäre die Menschheit verloren ist, lässt sich nicht ermitteln. Allerdings steigt mit jedem bisschen, das sich die Erde erhitzt, die Wahrscheinlichkeit, dass kritische Kipppunkte überschritten werden und der Klimawandel völlig unkontrollierbar wird. Schon heute gehört eine gute Prise Optimismus dazu, das 1,5-Grad-Ziel noch für erreichbar zu halten. Eine Studie des Wuppertal-Instituts im Auftrag von Fridays for Future bejaht zwar, dass es noch möglich wäre – allerdings nur "sofern alle aus heutiger Sicht möglichen Strategien gebündelt werden". Dagegen kommt eine Untersuchung des Woods Hole Research Centers zu dem Befund, dass sich die Welt aktuell auf dem Weg in das schlimmste Horrorszenario des Weltklimarats befindet, das eine Erhitzung um 3,3 bis 5,4 Grad bis zum Jahrhundertende prognostiziert. Unter diesen Voraussetzung wäre fraglich, ob menschliches Leben auf dem Planeten noch möglich wäre. Bislang und seit 40 Jahren gelingt es jedoch nicht, die Treibhausgas-Emissionen auf globaler Ebene einzuschränken, im Gegenteil: Sie steigen immer schneller. Der Zusammenhang zu einem Wirtschaftssystem mit Wachstumszwang ist evident. (min)

Übertragen auf den Wahlkampf in Stuttgart ließe sich die These vom gesellschaftlich-medialen Mitte-Reflex mit reihenweise Fallbeispielen untermauern. Rockenbauchs Forderungen zum Klimaschutz, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand objektiv am nächsten kommen, gelten als die utopischen, nicht verwirklichbaren – obwohl ohne radikale Abkehr vom Autoverkehr, die keiner seiner Kontrahenten fordern will, schlechterdings kein 1,5-Grad-Ziel machbar ist (und entsprechende Wahlversprechen vor diesem Hintergrund mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verfehlt werden). Doch welche Bezeichnungen sind es, die in den Medien für Leute kursieren, die nicht daran glauben, dass das Notwendige fristgerecht erreichbar ist? Die lieber eine in einigen Erdregionenen bereits einsetzende Zeitlupen-Apokalypse hinnehmen als die Mitte mit einer brutalen Wirklichkeit zu verschrecken? Das sind Pragmatiker und Realisten.

Rockenbauch empfiehlt einen Perspektivwechsel und dreht den Spieß genüsslich um: "Das Extremste, was ich mir aktuell vorstellen kann, ist ein Weiter-So", sagt er. "Denn das ist der Weg, der Millionen von Menschen mit Sicherheit ins Verderben führen wird." Besonders ärgert es ihn, wenn er den Vorwurf zu hören bekommt, er solle den Leuten keine falschen Hoffnungen machen mit seinen wirklichkeitsfremden Plänen. Dann doziert die Quasselstrippe: "So was kann man doch nur sagen, wenn man schon aufgegeben hat, dass die Menschheit das Problem noch in den Griff bekommt. Warum soll es denn – nur ein Beispiel – so unmöglich sein, 50 Kilometer Radwege in zwei Jahren zu bauen. Andere Städte bekommen das ja auch hin. Wichtig ist, dass wir jetzt richtig ranklotzen. Wir brauchen ambitioniertere Ziele als die, die als erreichbar gelten."

Nopper, Schreier, wo ist da der Unterschied?

Nun ist die Frage nach dem Klimaschutz zwar eine existenzielle, aber sicher keine, die ein Stuttgarter Oberbürgermeister im Alleingang lösen könnte. Und erst recht ist die Umweltpolitik – trotz übergeordneter Bedeutung für alle anderen Lebensbereiche – bei Weitem nicht das einzige Thema, das die Bevölkerung der Landeshauptstadt umtreibt. Trotzdem kann der gesellschaftlich-mediale Umgang mit Forderungen, die radikal sein müssen, weil die Wirklichkeit extrem geworden ist, als Gradmesser dienen – und zeigt, nicht nur in Stuttgart, wie groß die Herausforderung einer mutmaßlich überlebensnotwendigen Transformation der modernen Wirtschaftswelt ausfällt. Vor allem in einer Gesellschaft, die dem falschen Glauben unterliegt, alles könne bleiben wie es ist.

Die extreme Realität aber macht sich längst nicht nur durch die eskalierende Klimakrise bemerkbar. Auch auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, bei den weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen sowie der immer weiter auseinanderdriftenden sozio-ökonomischen Ungleichheit scheinen ein paar Verhältnisse aus dem Lot geraten zu sein. Hinzu kommen die erschreckend regelmäßig ausbrechenden Weltwirtschaftskrisen, die ein jedes Mal mit drastischen Verelendungsschüben für die ärmeren Bevölkerungsteile einhergehen.

Alles globale Probleme, die kein Oberbürgermeister löst. Aber alles Probleme, die sich in jeder Stadt bemerkbar machen. Spannend ist, wer überhaupt anerkennt, dass hier gravierende Schwierigkeiten vorliegen. Für die Menschen der Mitte ist die fundamentale Systemkrise meistens kein Thema.

Und damit zurück nach Stuttgart: Die vielleicht größte Eigenheit in einem Wahlkampf, dem es an Kuriositäten nicht mangelt, ist vermutlich, dass Hannes Rockenbauch und Marian Schreier dem gleichen Lager zugerechnet werden. Dabei scheint es nicht einmal zu stören, dass sie das selbst anders sehen. Die beiden haben wenig gemeinsam. Der eine ist links und versteht das als positive Eigenschaft. Der andere hütet sich davor und rechnet sich einer progressiven Mitte zu. Der eine liebt den Streit, beharrt auf seinem Standpunkt und sucht die Auseinandersetzung. Der andere moderiert, hat stets den Erfolg im Blick und zeigt sich flexibel, wo eine neue Ansicht mehr Unterstützer verspricht. Tatsächlich ist der Junge mit den liberalen Beratern dem Alten von der Union viel ähnlicher als dem Rotschopf mit den radikalen Ideen.

Letzterer trat schon 2012 zur OB-Wahl in Stuttgart an und zeigte, dass man als Kandidat kein Egomane sein muss: Damals verzichtete Rockenbauch im zweiten Wahlgang zugunsten des irgendwie öko-sozialen Fritz Kuhn, der nun am Ende seiner Amtszeit sensationell schlechte Zufriedenheitswerte verbuchen kann. Auch Rockenbauch hätte sich mehr erhofft. Für Veronika Kienzle, die anders tickt als die Kretschmann-Grünen, hätte er zurückgezogen, sagt er. Weil ein Mann der progressiven Mitte auf seiner Kandidatur beharrte, wurde nichts aus dieser Option. So wolle er, dass den Stuttgarten eine Wahl bleibt zwischen einem, der einen radikalen Richtungswechsel anstrebt, und solchen, die das Weiter-So verwalten.


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13 Kommentare verfügbar

  • Emilia Leinweber
    am 30.11.2020
    Antworten
    Sehe ich das richtig, dass Herr Rockenbauch der Steigbügelhalter für den neuen CDU-OB Nopper gewesen ist? Hätte Rockenbauch im 2. Wahlgang zugunsten von M.S. auf seine Kandidatur verzichtet, dann wäre jetzt höchstwahrscheinlich der "Junge" der neue OB - und nicht der "Alte". Hätte man sich das vor…
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