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Kosovo

Abgeschoben in den Corona-Hotspot

Kosovo: Abgeschoben in den Corona-Hotspot
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Im Landkreis Biberach wurde eine Familie auseinandergerissen. Nach fast 29 Jahren in Deutschland sind die Eltern in den Kosovo abgeschoben worden. Mitten in der Coronakrise. Die traurige Geschichte steht exemplarisch für eine menschenverachtende grün-schwarze Abschiebepolitik.

"Der größte Wunsch ist es, dass meine Eltern ihren Lebensabend im Kreise der Familie verbringen können. In Würde und Sicherheit," sagt Emrach G. Bis vor Kurzem schien diesem Wunsch auch nichts entgegenzustehen. Doch nun sind seine Eltern, die 64-jährige Mire G. und der 62-jährige Sali K., nicht mehr da. Die beiden leben nun getrennt vom Rest der Familie. Sechs Kinder, 17 Enkel, ein Urenkel und die Mutter von Mire G. wohnen in einem kleinen Städtchen im Landkreis Biberach. Hier waren auch Mire G. und Sali K. fast 29 Jahre lang zu Hause. Bis zum 12. Oktober 2020.

An diesem Tag kam frühmorgens eine Ärztin zum Ehepaar. Bei einem 62-jährigen Diabetiker, der drei Herzoperationen hinter sich hat, dem drei Stents gelegt wurden und der zur Stabilisierung der Psyche auf Medikamente angewiesen ist, nichts Ungewöhnliches. Doch in diesem Fall kam die Ärztin nicht um zu helfen. Sie kam um seine Flugfähigkeit zu bescheinigen, in Begleitung von vier Polizisten. An diesem Tag änderte sich das Leben der Familie.

"Es war wie eine Herzattacke", sagt Emrach G. Eigentlich sollten die Enkelkinder zum Mittagessen zu den Großeltern kommen. Doch daraus wurde nichts. Die Großeltern wurden morgens von der Polizei abgeholt und zum Baden-Airpark gebracht. Viel Flugverkehr gibt es nicht vom kleinen Regionalflughafen zwischen Baden-Baden und Karlsruhe. Einige Flüge finden aber trotz Corona statt. Sammelabschiebeflüge in die Balkanländer Serbien, Nordmazedonien, Albanien und Kosovo. Am 12. Oktober brachte das Flugzeug Mire G. und Sali K., 16 andere Betroffene und einige PolizistInnen als Begleitung in den Kosovo, einen Staat, den es noch gar nicht gab, als das Ehepaar nach Deutschland geflohen ist und in den es keinerlei Verbindung hat.

Abschiebung trotz Reisewarnung

Das Auswärtige Amt warnt zum Zeitpunkt der Abschiebung vor Reisen in den Kosovo. Verbunden mit dem Ratschlag: "Führen Sie einen ausreichenden Vorrat wichtiger Medikamente mit sich, der auch noch einige Zeit über das geplante Rückreisedatum hinaus reicht." Wichtige Medikamente gibt es im Leben von Sali K. zuhauf. Sein Flug war aber keine von ihm lange vorbereitete Reise. Und weil sich die Behörden um sein Leben weit weniger kümmern als um das Leben eines deutschen Urlaubers oder einer deutschen Geschäftsfrau, ist Sali K. nun ohne Medikamente im Kosovo. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ehepaar ohne Pässe abgeschoben wurde.

Zur Frage, warum es möglich war, die zwei trotzdem abzuschieben, erklärt das Regierungspräsidium Karlsruhe, die oberste Abschiebebehörde in Baden-Württemberg: "Für die Betreffenden wurden Rückübernahmeersuchen an die kosovarische Regierung gestellt. Diese wurden positiv beantwortet, sodass die Abschiebung auch ohne das Vorliegen eines Passes möglich war." Ein übliches Vorgehen. Die Konsequenzen, das zeigt dieser Fall, sind für die Betroffenen fatal. "Sie besitzen nichts", erklärt Emrach G., "was ihre Identität bestätigt. Sie haben keine Möglichkeit, sich bei den kosovarisches Behörden anzumelden." So ist es für die Abgeschobenen unmöglich, im Kosovo die schwer zu erhaltene und sehr geringe Sozialhilfe zu beantragen. Ganz allgemein schreibt sogar das Bundesamt für Migration und Flüchtline (BAMF), das geduldete Personen aus dem Balkan von einer "Rückkehr" überzeugen will: "Die Voraussetzungen um Sozialhilfe zu erhalten sind sehr streng, daher werden nur Extremfälle unterstützt."

Die schlimmste Folge der Passlosigkeit für Mire G. und Sali K. ist, dass die beiden nicht mehr zu einem Arzt gehen können. In Deutschland hatte Sali K. alle zwei Wochen einen Termin im Krankenhaus. Auch Mire G. ist krank, sie hat chronische Bronchitis. Mit ihrem Alter und ihren Krankheiten gehören beide zur Coronarisikogruppe. Und der Kosovo ist ein Corona-Hotspot. Parolen wie "stay at home" helfen den beiden auch nicht weiter, denn sie haben kein Zuhause mehr. Ihnen bleibt nichts anderes übrig als gegen Corona-Auflagen zu verstoßen und wildfremde Menschen um eine Unterschlupfmöglichkeit zu bitten. Einer, der sie zeitweise in seine Einzimmerwohnung, die er mit seiner Frau bewohnt, aufgenommen hat, war ein Taxifahrer, der sich einst selber gezwungen sah, "freiwillig" auszureisen. Eine Perspektive ist das nicht.

Die Enkelkinder stellen Fragen

Die Familie im Kreis Biberach macht sich große Sorgen um die Gesundheit ihrer Eltern und Großeltern. "Es existiert ein unglaubliches Angstgefühl in der Familie", erzählt Bernd G., ein Freund der Familie. "Jetzt muss man sich vorstellen, wir in Deutschland suchen händeringend nach Pflegekräften. Im Kosovo gibt es ein Programm, das junge Pflegekräfte nach Deutschland bringt, um unsere alten Leute zu pflegen, weil wir das selber nicht mehr auf die Reihe kriegen. Und dann schieben wir hier die alten Leute, die von ihren Kindern versorgt werden, in dieses völlig unsichere Land ab."

Fragen, die die Enkelkinder stellen, die auf die Grundschule und das Gymnasium gehen, sind: Leben die Großeltern noch? Und: Werden wir jetzt auch abgeschoben? Für sie war der 12. Oktober 2020 ein traumatischer Tag, der sich auf die schulischen Leistungen ausgewirkt hat. Aber nicht nur das. Auch deren Bild von der Polizei hat sich verändert, berichtet Bernd G.: "Wir sind in einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt. Auf Straßenfesten, Fastnachtsumzügen und in Sportvereinen kennt man die Polizisten. Eigentlich sind sie der Freund und Helfer, und auf einmal ist es völlig umgedreht."

Die größte Angst der Familie ist, dass sich Mire G. und Sali K. mit dem Coronavirus infizieren und dann nicht behandelt werden können. "Eine medizinische Versorgung nach deutschem Standard ist nicht gewährleistet, es bestehen nur sehr geringe Kapazitäten für intensivmedizinische Behandlungen", schreibt das Auswärtige Amt nüchtern in seinen Reisehinweisen. Die Gefahr des Sars-Cov-2-Virus ist den Angehörigen sehr bewusst, nicht zuletzt aufgrund mehrerer schwerer Coronakrankheitsverläufe im Familienumfeld.

Die sechs Kinder von Mire G. und Sali K., die im Kreis Biberach wohnen, sind alle erwerbstätig. Doch auch auf der Arbeit hinterlässt der 12. Oktober Spuren. "Meine Schwester ist schon mehrere Wochen beurlaubt, sie kommt mit der Situation nicht zurecht. Alle haben ein wenig Probleme mit der Arbeit, weil man schlapp und schlechtgelaunt ist", erzählt Emrach G. Zudem fehlen die Großeltern bei der Kinderbetreuung.

Die Ausländerbehörde spricht von Chancen

Könnte denn die Familie die Abgeschobenen nicht immer wieder besuchen und damit unterstützen, mögen manche fragen. Nein, können sie nicht. Abgesehen von der Frage, ob solche Fahrten in der Coronakrise sinnvoll wären oder wie sich die Quarantäne-Zeiten mit der Arbeit vereinbaren ließen, gilt momentan im Kosovo ein Einreiseverbot für Personen mit serbischen Reisepässen. Solche Dokumente haben aber viele Familienmitglieder.

Für Mire G. und Sali K. gilt nun eine zweijährige Einreisesperre für Deutschland, das Land, das fast 29 Jahre ihr Zuhause war. Sali K. arbeitete lange beim Gemeindehof, weil er keine Arbeitserlaubnis hatte, in einer Art Ein-Euro-Job, bis sein Gesundheitszustand es nicht mehr zuließ. Zuletzt engagierte er sich ehrenamtlich bei der Caritas. Auch Mire G. war in verschiedenen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen angestellt. Das Ehepaar pflegte Freundschaften, war integriert. Wie konnte es nun nach so vielen Jahren in Deutschland zur Abschiebung kommen? Fragt man bei der Ausländerbehörde Biberach nach, erhält man als Antwort:

"Beide Personen (...) haben es trotz vieler Chancen nicht geschafft, ein gesichertes Aufenthaltsrecht zu erhalten. Die Aufenthaltsgenehmigung nach §25b Aufenthaltsgesetz setzt die Vorlage von gültigen Pässen als allgemeine Voraussetzung für die Erteilung voraus. Der Antrag dazu wurde im Jahr 2015 durch den Rechtsanwalt eingereicht. Aufgrund der gesundheitlichen Situation des Antragstellers war die Ausländerbehörde bereit, auf die weitere Voraussetzung, seinen Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften, zu verzichten. Gleichwohl bedarf es eines gültigen Passes. (...) Aufgrund dieser fehlenden Voraussetzung musste der Antrag schlussendlich im Jahr 2020 abgelehnt werden."

Mire G. und Sali K. hatten alle Chancen, aber einfach keine Pässe geliefert und müssen nun mit den Konsequenzen leben, so stellt es die Behörde dar. Wer das Verhältnis zwischen Kosovo und Serbien kennt, sollte wissen, dass es sehr schwer ist, Pässe für Personen zu bekommen, die im ehemaligen Jugoslawien in einem Gebiet geboren sind, das heutzutage zum Kosovo gehört. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit macht die Angelegenheit noch komplizierter.

Der Sprecher für Migration und Integration der Grünen-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Daniel Lede-Abal, kritisiert die Abschiebung. Aber mehr als eine Mail an das Innenministerium, um mal nachzufragen, wie das Ganze abgelaufen ist, ist dann doch nicht drin bei der größten Fraktion im baden-württembergischen Landtag.

Nur BW schiebt so eifrig in den Balkan ab

"Es gibt Gesetze. Man argumentiert ja immer, rechtlich sei alles ausgeschöpft gewesen. Wenn aber so etwas passiert und Menschen in so eine Situation geschickt werden, wo das schlichte Überleben infrage gestellt wird, dann frage ich mich, was sind das für Gesetze, oder kann man die nicht anders auslegen? Ich denke, da gibt es sehr viel mehr Spielraum", sagt Bernd G., der Freund der Familie, der besonders von den Grünen enttäuscht ist: "Dass eine grüne Landesregierung so etwas zulässt, das entzieht sich völlig meinen Vorstellungen."

Die Realität ist: Die Behörden des grün-schwarz geführten Baden-Württemberg organisieren normalerweise monatlich Sammelabschiebungen in den Kosovo, nach Nordmazedonien und Serbien sowie nach Albanien. Kein anderes Bundesland schiebt seit Jahren so eifrig in den Balkan ab. Die Jugoslawienkriege haben sehr viele Menschen traumatisiert und physische und psychische Leiden hinterlassen. Insbesondere bei Angehörigen der Roma-Minderheit kommt die ständige Diskriminierung und die ökonomische Abgehängtheit noch hinzu. Der Fall von Mire G. und Sali K. ist eine sehr traurige Geschichte – ein Einzelfall ist es nicht.

Das Ausländerrecht nimmt in der Tat wenig Rücksicht auf Härtefälle. Aber dennoch ist die rechtliche Lage nicht so klar, wie die Behörden es darstellen. Die gesundheitliche Situation der beiden, ihre Verwurzelung und die Schwierigkeiten der Passbeschaffung hätten durchaus stärker berücksichtigt werden können.

"Meine Eltern sind ganz allein und alt und sind eigentlich nicht fähig, sich selber zu versorgen", erklärt Emrach G. Ob sein Wunsch, dass seine Eltern ihren Lebensabend im Kreise der Familie verbringen können, in Erfüllung geht, steht in den Sternen. Auch, ob die sechs Kinder, die 17 Enkel, der Urenkel und die eigene Mutter Mire G. und Sali K. überhaupt noch einmal lebend wiedersehen.


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14 Kommentare verfügbar

  • Gottfried Ohnmacht-Neugebauer
    am 30.11.2020
    Antworten
    Da wird ein Ehepaar in den Kosovo abgeschoben, das bereits seit Jahrzehnten in Baden-Württemberg gelebt hat.
    Wie kann man ältere und kranke Menschen abschieben, deren Familie hier lebt?
    Wie kann man Leute vorsätzlich in einen Corona-Hotspot abschieben?
    Diese "Advents-Geschichte" ist so krass,…
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