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Corona-App

Fußfessel oder falsche Sicherheit

Corona-App: Fußfessel oder falsche Sicherheit
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Die Corona-Warn-App hält in der Pandemiebekämpfung nicht, was den NutzerInnen versprochen wurde. Also steigt der Druck, den Datenschutz dem Gesundheitsschutz unterzuordnen. Dann allerdings würde aus Freiwilligkeit Zwang.

Das Eis ist dünn, und es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie die Meinung kippt in einem langen, harten Winter. Sollen Restaurants und Läden und vor allem Schulen teil- oder ganz geschlossen bleiben, weil sonst die Krankenhäuser die vielen Covid-19-Patienten nicht mehr behandeln können? Oder sollen eben doch alle eine App, einen Chip am Schlüsselbund, eine Fußfessel light sozusagen, mit sich herumtragen, um Treffen und Lernen, Einkaufen und (Weihnachten-)Feiern safe zu machen? 

Selbst der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann wagt sich an die Büchse der Pandora, will, wenn die Seuche im Griff ist, ganz neu über den Datenschutz reden. "Wir legen Maßstäbe an, die einer Pandemie nicht angemessen sind", sagt er und plädiert aktuell zumindest für eine Veränderung der Standards, damit der Wirkungsgrad der App vergrößerst wird. Aktuell finden 96 Prozent aller Kontaktnachverfolgungen real und nicht digital statt.

"Absolut frustrierend"

Stefan Brink, der Landesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (LfDI) reagiert darauf regelrecht empört. Nicht nur, weil Kretschmann die Öffentlichkeit gesucht hat, statt erst einmal intern über die einschlägigen Empfehlungen zu reden. Die lägen dem Staatsministerium vor, sagt Brink, "ohne jede Resonanz". Vor allem aber nennt er in der Sache "absolut frustrierend, wie der Datenschutz jetzt mit schuld an der Corona-Entwicklung sein soll". In absurder Weise und ohne Belege würden nun Daten- und Gesundheitsschutz verknüpft. 

Nicht verknüpfen, sondern erst einmal informieren will Robert Müller-Török im Wissen, in welches Wespennest er sticht. Aber er sei eben kein Jurist, sagt der gebürtige Wiener, und Datenschützer ist er ebenso wenig, "sondern Techniker". In dieser Eigenschaft hat sich der Professor für e-Government an der Ludwigsburger Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen intensiv mit der von SAP und Telekom entwickelten, vom Robert-Koch-Institut und der Bundesregierung verantworteten Warn-App befasst. Er rechnet vor, dass mindestens drei Mal so viele in Deutschland lebende Personen wie bisher mitmachen müssten, um auch nur die Hälfte aller Zweier-Kontakte abzudecken. Bei den bisherigen Downloads liegt die Treffer-Wahrscheinlichkeit bei nicht mehr als vier Prozent. Unter der Überschrift "It’s the statistics, stupid!" kritisiert er die App von heute als "untaugliches Mittel", das Menschen nur in falscher Sicherheit wiege.

Müller-Török hat viele Details zusammengetragen, die zeigen sollen, dass die aktuell gut 21 Millionen App-Downloads nicht wirklich weiterhelfen, um die Zahlen zügig wieder auf eine Sieben-Tage-Inzidenz unter 50 zu bringen, sich also weniger als 50 Menschen pro Woche und 100.000 Einwohner infizieren. So kommen allein aus Frankreich jeden Tag 41.000 PendlerInnen nach Deutschland mit nicht kompatiblen Apps, an den Grenzen zu Holland, Dänemark oder Tschechien ist die Situation ähnlich. Einreisende aus der Türkei werden ebenfalls nicht abgeglichen, von LKW-Fahrern aus Osteuropa ganz zu schweigen.

In Asien herrscht App-Zwang

Zu viele Geräte sind technisch nicht zur verlässlichen Weiterleitung von Daten in der Lage. Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen hatte schon im Sommer darauf hingewiesen, dass mindestens ein Drittel der Menschen in der Hochrisiko-Gruppe über 70 Jahren und ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Smartphones gar nicht verwendet und wiederum ein Fünftel der genutzten Smartphone nicht zur Installation geeignet ist. Müller-Török und sein Professoren-Kollege Alexander Prosser gehen in ihrer Arbeit davon aus, dass überhaupt nur zehn Millionen Applikationen tatsächlich im täglichen Gebrauch sind. Das allerdings ist längst noch nicht das größte Problem. Denn viel zu wenige der tatsächlich Infizierten entschließen sich, diese so wichtige Info schlussendlich auch zu verbreiten. Es handle sich eben um eine freie Entscheidung, sagt der IT-Experte: "Wer seine Erkrankung aber nicht bekannt macht, lässt andere dumm sterben."

Die Gegenstrategie ist erprobt und erfolgreich: in Taiwan, in Hongkong, vor allem in Südkorea – mit massivem Druck und hohen Strafen. Installiert ist ein Doppelsystem. Zum einen verwendet der allergrößte Teil der Bevölkerung landesweit die App "Corona 100m", die HandybesitzerInnen mittels eines umfangreichen Abgleichs persönlicher Daten bis hin zur Kreditkarte warnt, wenn sich ein Infizierter im Radius von hundert Metern aufgehalten hat. Mitgeteilt werden dessen Aufenthaltsort, Zeit, Geschlecht und Nationalität, so dass möglichst viele Personen Rückschlüsse ziehen können, von wem die Gefährdung ausging. Außerdem wird die Quarantäne mit einer Zwangs-App eng überwacht.

"Den vorläufigen Erfolg der Eindämmung des Virus führt Südkorea vor allem auf die Nutzung dieser Überwachungstechnologien zurück", heißt es in einer Stellungnahme von Experten für die Bundesregierung. Dies sei aber "vermutlich für Nationen mit anderer Datenschutz-Kultur nicht passend". Südkorea hat eine Sieben-Tage-Inzidenz von zwei. Nur zum Vergleich: Österreich, das mitte-rechts-grün regierte Frühjahrsmusterland, liegt bei weltweit nirgendwo erreichten 532, weshalb der Lockdown light der vergangenen zwei Wochen seit dem 17. November in einen deutlich schärferen Lockdown verwandelt wurde, inklusive der Komplettschließung des normalen Schul- und Kitabetriebs.

Vorteile für App-NutzerInnen?

Weil in der Bundesrepublik vor allem letzteres verhindert werden soll, sprießen alte Ideen neu. Der digitale Restaurant- oder Café-Check-in "statt der Zettelwirtschaft", wie Kretschmann fahrlässig über die bisherigen Anstrengungen zur Personalien-Erfassung lästerte, ist da noch eines der milderen Mittel. Seit der Einführung der App im Frühsommer wird über Vorteilsgewährungen diskutiert: Wer downgeloaded hat, könnte wieder ins Theater oder ins Kino dürfen, ins Fitness- oder ins Kosmetikstudio. Sogar auf europäischer Ebene ist der "sanfte Druck" diskutiert worden. In Österreich wollte Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka, einer der engsten politischen Weggefährten des vom deutschen Boulevard so gefeierten Kanzlers Sebastian Kurz, prüfen lassen, wie die Bewegungsfreiheit von Landsleuten oder TouristInnen ohne App eingeschränkt werden kann. Die Gesundheit seiner Landsleute liege ihm einfach am Herzen, argumentierte er treuherzig. Die Idee wurde jedenfalls vorerst beerdigt.

Jetzt hat sie ausgerechnet und angesichts einer Inzidenz von 367 Portugals Ministerpräsident António Costa aufgegriffen, als er die Nutzung von "StayAwayCovid" verpflichtend machen wollte. Er hasse es, "in diesem Punkt autoritär zu sein", bekannte der Sozialist, "aber wir müssen diese Pandemie unter Kontrolle bringen". Die Regierung wollte Zugriff auf das schmale Zeitfenster von zwei oder drei Tagen bekommen, zwischen Infektion und Infektiosität. Auch dieser Plan sollte die zu geringe Akzeptanz befördern, denn nur 1,7 der zehn Millionen PortugiesInnen waren bisher zum freiwilligen Download bereit. Den erzwungenen wird es nicht geben, Costa kapitulierte nach massiven Protesten. 

Solche Erfahrungen missachtend, verweist Kretschmann auf südkoreanische Erfolge und will sogar grüne Positionen aus Gründungszeiten relativieren: "Wir haben mit dieser App ein hochtechnologisches Instrument und können es aus Datenschutzgründen nicht so nutzen, wie es notwendig wäre oder es andere Länder tun." Dass Gesundheitsbehörden im Land die Daten "gar nicht richtig verwerten" können, sagt auch Brink – aber deshalb, weil viele Labore zur Übertragung der Testergebnisse technisch nicht in der Lage sind. Aus seiner Sicht hätte die Koalition dieses Problem längst lösen können.

Kretschmann: Datenschutzgrundverordnung ändern

Bei der zweiten zentralen Frage, eben jener Bekanntmachung von positiven Covid-19-Tests, kommt wieder der Techniker Müller-Török ins Spiel. Nach seinen Berechnungen machen sogar moderne Smartphones schlapp, wenn – wie dringend im Kampf gegen Corona erhofft – viel mehr Meldungen viel schneller verschlüsselt und gemischt mit anderen Verschlüsselungen zur Vermeidung der Identifizierung weitergeleitet werden.

Die Dimension des Eingriffs in die informationelle Selbstbestimmung lässt sich am Gegenvorschlag des Ludwigsburger Professors ablesen: "Die effizienteste Lösung ist im Seuchenfall das Speichern der Mobiltelefon-Bewegungsdaten." Dafür könne auf Landesebene eine gesetzliche Grundlage inklusive Verordnungsermächtigung geschaffen werden, die nicht nur Smartphones, sondern sogar Mobiltelefone umfasst. Würden alle Infos auch noch statt auf herkömmlichen Festplatten direkt im Arbeitsspeicher abgelegt, "wäre eine Weiterleitung nahezu in Echtzeit möglich".

Die Europäische Datenschutzgrundverordnung steht solchen Absichten entgegen. Nur an die will Kretschmann, wenn die Pandemie einmal vorüber ist, ohnehin ran: "Dann sollten wir endlich von einem verhindernden zu einem gestaltenden Datenschutz kommen. (…) Die Leute geben so viel freiwillig an Google oder Amazon preis, und beim Staat tut man so, als führe er Böses im Schilde." Brink und seine KollegInnen in Bund und Ländern werden alles daransetzen, ihm derart weitreichende Absichten auszureden. Und die Grünen müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Joergy
    am 21.11.2020
    Antworten
    Sorry, lieber Herr Kretschmann, aber von Datenschutz scheinen Sie so viel Ahnung zu haben wie eine Kuh vom Schlittschuhlaufen. Datenschutzexpertise spreche ich als IT'ler dem Chaos Computer Club zu, aber keinesfalls Lehrern wie Ihnen oder gar Herrn Seehofer, Frau Bähr oder etwa Herrn Spahn. Gott…
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