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OB-Wahl in Stuttgart

Wen juckt's?

OB-Wahl in Stuttgart: Wen juckt's?
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Seit der berüchtigten Krawallnacht im Juli interessiert sich die ganze Republik für die Stuttgarter Jugend – außer Stuttgart. Kurz vor der OB-Wahl gibt es kaum Angebote für Erstwähler. Wo Veranstaltungen pandemiebedingt ins Netz ausweichen, stört die querdenkende Trollarmee von Michael Ballweg.

Standen Sie schon einmal vor einem Aquarium, das Sie für leer gehalten hätten, wenn da nicht ein Schild auf gut getarnte Bewohner hinweisen würde? Haben Sie dabei, vielleicht mit halb zusammengekniffenen Augen, jeden Mikrometer des sandigen Bodens nach der versprochenen Flunder abgetastet, und überhaupt nur noch weitergesucht, weil Sie wussten, dass da etwas sein muss – bis Sie, gerade als Sie es aufgeben wollten, endlich eine entdecken? Ungefähr so müssen sich Stuttgarter Jugendliche gerade fühlen, wenn sie auf eine Veranstaltung für Erstwähler stoßen. Wo es überhaupt welche gibt, sind diese herausragend gut versteckt. Dabei steht in wenigen Wochen die erste Oberbürgermeisterwahl in der Landeshauptstadt an, bei der auch 16- und 17-Jährige mitbestimmen dürfen (die Privatempirie zeigt, dass viele neuerdings Wahlberechtigte verdutzt auf diese Information reagieren: "Ehrlich?").

Nachdem Stuttgarter Jugendliche im Juli Scheiben in der Innenstadt eingeschlagen, Geschäfte geplündert und Polizisten angegriffen hatten, fragte sich alle Welt: Was ist da los? Was bewegt diese Menschen? Inzwischen scheint das Interesse, zumindest am Ort des Geschehens, wieder deutlich abgeflacht. Eine Anfrage der Redaktion bei der Stadtverwaltung, was diese an Maßnahmen ergreift, um minderjährige Wählerinnen und Wähler zum Urnengang zu bewegen, wird wie folgt beantwortet: "Das Wahlamt informiert im Rahmen seiner gesetzlichen Vorgaben alle Wahlberechtigten in gleicher Weise, um dem Erfordernis der Neutralität und der Gleichbehandlung zu entsprechen." Darüber hinaus könnten sich Erstwählerinnen und Erstwähler "insbesondere in den neuen Medien über das Wahlprozedere informieren".

Das Wahlprozedere wird, müßig zu erwähnen, auch durch Corona gestört. An den Schulen etwa sieht es mit Angeboten und Veranstaltungen noch magerer aus als in anderen Wahljahren. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft erläutert gegenüber der Redaktion, dass Lehrer und Schüler dieses Jahr erheblich unter den Folgen der Pandemie litten – und dass durch die damit einhergehende Zusatzbelastung der Organisationsaufwand von Podiumsdiskussionen mit den KandidatInnen, wie sie in normaleren Zeiten üblich sind, oftmals nicht gestemmt werden könne.

Burgermeister, die keine Burger braten

Auf der Homepage des Stuttgarter Jugendrats, der Teenagern kommunalpolitisches Gehör verschaffen soll, gibt es zwar eine Rubrik mit dem Namen "Aktuelles". Doch der letzte Eintrag dort ist vom 27. Juli ("Jugendrat fordert Verbesserungen beim Freibad-Onlineticket"). Dann, beim Stadtjugendring, nach langer Suche ein erster Treffer: "Taste of Democracy – Stuttgart sucht die Burgermeister*innen", zwei Termine in Kooperation mit katholischen Jugendorganisationen und mit einem Teil der 17 KandidatInnen. Einmal am 7. Oktober mit Martin Körner, Frank Nopper, Marian Schreier und Veronika Kienzle. Und am 16. Oktober mit Martin Körner, Frank Nopper, Marian Schreier und Hannes Rockenbauch.

"Die OB-Kandidat*innen stellen sich vor und grillen leckere Burger für unsere Gäste", verspricht die Ankündigung, doch das entpuppt sich später als Gerücht. Am 7. Oktober, zu Gast beim Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM), wurde aufgelöst, dass die KandidatInnen doch keine Burger braten – immerhin ist Pandemie –, stattdessen aber mit Fragen "gegrillt" werden könnten. Eine Moderatorin vom CVJM machte vor, was sie darunter versteht, und wollte von den Anwesenden wissen, welche Rolle christliche Werte in der Kommunalpolitik spielen. Kandidat Körner bemerkt, er sei selbst evangelisch, Protestant, finde aber, man solle das auch nicht zu missionarisch betreiben.

Obwohl sich die Veranstaltung klar an junge Menschen richtet, sind junge Menschen Mangelware. Insgesamt erschienen nur gut 30 Zuschauer, darunter JournalistInnen, FotografInnen und Unterstützende der KandidatInnen aus den Wahlkampfteams (Kinder von Frank Nopper sind mit "Nopper wählen"-Masken unterwegs). Unter Gesichtspunkten des Infektionsschutzes verzichtet Körner bei der Begrüßung des Publikums auf Handschläge – und verteilt stattdessen Fistbumps.

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion gab es dann doch noch Burger, wenn auch nicht von den KandidatInnen zubereitet. Am weißen Pavillon waren welche mit Fleisch zu ergattern, hier war die Schlange lang. Am gelben Pavillon gab es neben denen mit Fleisch auch vegetarische, was aber ungeschickt kommuniziert wurde, weshalb dort kaum jemand anstand. Beim lockeren Gespräch mit den BesucherInnen ging es vor allem um den Verkehr in der Stadt. Im Zelt mit Frank Nopper will ein Gast wissen, warum Stuttgart es der Autoindustrie so schwer macht, und was der Hype um Elektromobilität soll. Nopper findet zwar, es solle hier für Daimler und Co. "den Rückenwind wie bei einem Heimspiel und keinen Gegenwind wie beim Auswärtsspiel" geben. Er sagt dann aber auch: "Wir müssen alles dafür tun, dass die Erderwärmung begrenzt wird", und "ohne intakte Umwelt ist keine stabile Wirtschaft möglich".

Querulante "Querdenker"

Beim insgesamt dürftigen Angebot für Stuttgarter Jugendliche gibt es zumindest eine Veranstaltungsreihe, die zeigt, dass sich sich Diskussionen mit den BewerberInnen auch sinnvoll ins Digitale verlagern ließen: Beim "Team Tomorrow" sind insgesamt fünf Veranstaltungen zu je einem Schwerpunktthema geplant, die per Video ins Netz übertragen werden und zu denen alle 16 KandidatInnen eingeladen sind, um beispielsweise über Bildung zu diskutieren.

"Wir haben alle Schulen in der Region angeschrieben und aufgerufen, sich mit Fragen zu beteiligen", sagt Tomma Profke vom "Team Tomorrow" im Gespräch mit Kontext. Vier hätten sich zurückgemeldet. Beim ersten Live-Stream haben im Schnitt rund 200 Personen gleichzeitig zugesehen und konnten erfahren, was zehn KandidatInnen, die der Einladung gefolgt sind, über den Verkehr in der Landeshauptstadt denken. Beim zweiten Stream – Thema Bildung – haben circa 4.000 Personen zugesehen. Doch was nach einem großen Erfolg klingt, war ein Desaster.

OB-Kandidat Michael Ballweg, Initiator der "Querdenken"-Bewegung, tauchte mit einem Attest auf, das ihn aus gesundheitlichen Gründen von der Maskenpflicht befreit (Ärzte wie Guido C. Hofmann, die auf "Querdenken"-Bühnen auftreten, betonen dort, dass auf Attesten keine Diagnose steht und natürlich die ärztliche Schweigepflicht gilt). Wie Profke gegenüber Kontext ausführt, habe es ein Hygienekonzept mit dem Vermieter der Räumlichkeiten gegeben, das nicht zulasse, sich im Gebäude ohne Maske zu bewegen. Michael Ballweg wertete das als Angriff auf die Demokratie und aktivierte per Telegram-Messenger seine Gefolgschaft, im Live-Stream nachzufragen, wo ihr Kandidat geblieben sei.

Daraufhin wurden der Stream und die Kommentarspalten mit hunderten "Querdenker"-Wortmeldungen geflutet, etwa: "Was ist das für eine Veranstaltung? Das ist Wahlbetrug!", oder: "Hat Herr Ballweg einen gelben Stern? Oder warum darf er sich nicht vorstellen?" Herr Ballweg selbst legt nach, sieht in seinem Ausschluss eine "rechtswidrige Behandlung" und stellt Strafanzeige wegen Nötigung gegen das "Team Tomorrow".

Dass der Chef-"Querdenker" damit erfolgreich sein wird, ist ausgeschlossen. Denn nicht nur können Veranstaltungsorte ihr Hausrecht ausüben und bestimmen, wie streng sie Hygienekonzepte ausgelegen. Auch private Veranstalter dürfen in einem freien Land selbst bestimmen, wen sie auf ihren Bühnen auftreten lassen. Tomma Profke jedenfalls bedauert, dass den Jugendlichen durch die Kommentarflut die Gelegenheit genommen wurde, in einen freien Meinungsaustausch mit den OB-BewerberInnen zu treten und kritische Fragen zu stellen. "Es wäre schön, wenn bei den nächsten Malen wieder die Inhalte im Vordergrund stehen und eine konstruktive Diskussion zustande kommt."


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4 Kommentare verfügbar

  • Peter Meisel
    am 17.10.2020
    Antworten
    Wer nicht hinschaut, kann nichts sehen: Titelseite der Stuttgarter Zeitung heute Samstag 17.10.20 S. 1 schreibt: „Drei OB-Berwerber fast gleichauf:
    „Welcher Kandidat wäre für Stuttgart ein guter, kein guter Oberbürgermeister?“ Von 6 der ersten Kandidaten steht Hannes Rockenbauch an 4. Stelle mit…
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