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Schuldenbremse

Weg damit

Schuldenbremse: Weg damit
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Die Schuldenbremse in ihrer heutigen Gestalt ist Geschichte. Keine künftige Regierung im Bund und in den Ländern wird es sich leisten können, bei Investitionen im Kampf gegen die Erderwärmung zu knausern im Vergleich zu den Corona-Ausgaben. Jetzt muss sich nur noch herumsprechen, dass dieses Megathema das Zeug zum Wahlkampfschlager hat.

Der Rechnungshof Baden-Württemberg mit Sitz in Karlsruhe nimmt qua Landesverfassung "die unabhängige staatliche Finanzkontrolle in Baden-Württemberg wahr". Er kann selber entscheiden, wen oder was er prüft, er gibt Stellungnahmen ab und versteht sich "als Anwalt der Steuerzahler, da sämtliche Prüfungen und Beratungsleistungen letztlich dazu dienen, die öffentlichen Gelder – also die Steuergelder des Bürgers – zielgerichtet und sparsam einzusetzen". Eben da wird’s kompliziert. Die Frage ist, nach welchen Maßstäben solche anwaltlichen Aufgaben bestimmt und wahrgenommen werden. Nach den neoliberalen Glaubenssätzen, die jahrelang Debatte und politische Praxis dominiert haben? Und wie wäre leidlicher gesellschaftlicher Konsens darüber zu erzielen, wo Staatsknete "zielgerichtet und sparsam" helfen kann, noch rechtzeitig die fatalen Folgen des verharmlosend sogenannten Klimawandels zu vermeiden?

Fragen über Fragen. Eine erste Antwort gibt Günther Benz in einem Schreiben an den Finanzausschuss des Landtags zur Bewertung der Corona-Milliarden, die die grün-schwarze Landesregierung gerade aufnimmt zur Abfederung der Krisenfolgen. Benz, viele Jahre im Dienste CDU-geführter Ministerien, ehe er Rechnungshofpräsident wurde, nennt es "generationengerecht", die Gelder schneller zurückzuzahlen als in den von der Landesregierung in Auge gefassten 25 Jahren. Die Begründung bleibt er schuldig, weil es keine gibt.

FDP und SPD glauben noch dran

Stattdessen zeigt die Diskussion um die Pandemiehilfen, wie wenig alte Denkmuster taugen in der neuen Zeit. Ein Teil der zugegebenermaßen unvorstellbar vielen Millionen Euro, mit denen die Gesellschaft einigermaßen ordentlich durch die Krise kommen soll, sind noch gar nicht ausgegeben, da wollen die Superschlauen schon wissen, wo gespart werden soll, wenn es ans Zurückzahlen der Kredite geht. Oder sie diskreditieren zumindest das Engagement des Staats. "Sie können doch nicht glauben, unbegrenzt alles an Verschuldung aufnehmen zu können nur mit der Begründung, es liege eine Naturkatastrophe vor", meinte SPD-Landes- und Fraktionschef Andreas Stoch der Koalition in Stammbruch schreiben zu müssen, den Bruch der Verfassung inklusive.  

Immer vorne mit dabei natürlich die FDP. Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke droht mit dem Rechtsweg. Und er unterstellt Kretschmanns Kabinett, es denke überhaupt nicht ernsthaft ans Schuldenabtragen. Für diesen gewagten Verdacht schlägt Amateurhistoriker Rülke sogar den Bogen zu den Krisen von 1993 und 2008/2009: Nie seien Schulden "wirklich nachhaltig" zurückgeführt worden, behauptet er. Dabei wächst selbst in wirtschaftsnahen Kreisen die Zahl derer, die Sparen – das sogenannte Maßhalten – in Frage stellen.

Gerade rund um den 3.Oktober und 30 Jahre Einheit finden sich reichliche Analysen darüber, welch fatale politische Auswirkungen es haben kann, an der falschen Stelle zu sparen. Wären Helmut Kohls "blühende Landschaften" im Osten wirklich zügig entstanden (Kohl 1990: "Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor, dafür vielen besser"), hätten Rechtspopulismus und -nationalismus kaum derart stabile Wurzeln schlagen können.

Außerdem kamen Schuldenbremse und Schwarze Null und die vielen konsolidierten Haushalte schon vor Corona unter Druck angesichts riesiger Investitionsstaus, im Osten wie im Westen. Als die grün-schwarze Landesregierung 2016 für Baden-Württemberg die Haushaltsordnung um den Begriff der "impliziten Schulden" erweiterte, um die maroden Gebäude, die kaputten Brücken oder Straßen zu sanieren,  wusste Rülke ganz genau, dass es sich dabei um nichts anderes handelt als "einen Freifahrtschein für unsolides Wirtschaften".

Nur im Geleitzug der grün-schwarzen Koalition hielt sich die CDU-Spitze im Land schon vor Ausbruch der Pandemie vergleichsweise zurück damit, Investitionen zu diskreditieren, etwa in die Sanierung der vielen heruntergekommene Schulgebäude. Im Bund trieb die Weigerung, über eine Kurskorrektur wenigstens nachzudenken, jedoch seltsame und zugleich entlarvende Blüten. "Ja, wir gestehen, wir haben einen kleinen Fetisch", twitterte das schwarze Kreativ-Team vor knapp einem Jahr, "solide Finanzen ohne neue Schulden! Das ist praktizierte Generationengerechtigkeit!" Da konnte schon jedeR selbst im Konrad-Adenauer-Haus wissen, wie es um die Infrastruktur etc. wirklich bestellt war im reichen Deutschland. "Warum ist ein ausgeglichener Haushalt bei gleichzeitig angehäuftem Sanierungsstau in der öffentlichen Infrastruktur von 160 Milliarden Euro generationengerecht?", wollte Juso-Chef Kevin Kühnert sogleich wissen und legte ein paar Wochen vor Publikwerden des ersten Corona-Falls in Deutschland den Finger in die Wunde.

Lieber ordentliche Schulen als Schuldenbremse

Viel zu lange war die Debatte um die Staatsfinanzen bestimmt von einem der plakativsten und unausrottbarsten unter den falschen Sinnsprüchen, wonach Kinder auf Schuldenbergen nicht spielen können. Kinder und Jugendliche wollen sogar auf Schuldenbergen spielen, wenn wie jetzt in Pandemiezeiten in ihren Schulen zwar auf Pump, aber immerhin ein funktionierendes Belüftungssystem angeschafft wird oder ein belastbares WLAN. Kinder und Jugendliche spielten schon ohne zu jammern auf Schuldenbergen, als nächsten Generationen zu Recht die Verpflichtung mitaufgebürdet wurde, Seen und Flüsse zu säubern – in deren Genuss kommen nämlich sie. Noch Kindeskinder würden jubeln, wäre im Stuttgarter Max-Eyth-See Schwimmen wieder erlaubt wie damals nach seiner Anlegung vor bald 90 Jahren.   

Bei der Vorstellung des SPD-Wahlprogramm 1961 – Andreas Stoch zur Lektüre empfohlen – stellte Willy Brandt "erschreckende Untersuchungsergebnisse" vor, die den Zusammenhang zwischen "der Verschmutzung von Luft und Wasser und einer Zunahme von Leukämie, Krebs, Rachitis und Blutbildveränderungen schon bei Kindern" aufzeigen. Diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen gehe, sei bisher fast völlig vernachlässigt worden: "Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden." Nur drei Jahre später tritt die erste "Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft" in Kraft.  

Es kann also nicht mehr um das Ob gehen in der Debatte über die Corona-Schulden, sondern allein ums Wie und die zeitliche Strecken ihrer Tilgung – als Blaupause dafür, wer über wie viele Jahrzehnte hinweg jene Milliardensummen wird schultern müssen, die der Kampf gegen die Erderhitzung und die Einhaltung der Pariser Klimaziele kosten wird. "Gegen Corona werden wir uns bald impfen lassen können", stellt Ministerpräsident Winfried Kretschmann trocken fest, "gegen den Klimawandel nicht."

2021 ist ein Superwahljahr mit insgesamt sechs Landtagswahlen. Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz machen Mitte März den Anfang, im Herbst ist dann die Bundestagswahl. In elf der 16 Bundesländer regieren mittlerweile die Grünen mit. Eben erst haben die Fraktionschefs aus Bund, Ländern und EU-Parlament auf ihrem Treffen in Stuttgart versprochen, "überall dort, wo wir können, Verantwortung zu übernehmen, um die Pariser Klimaziele und die überlebenswichtige 1,5-Grad-Grenze einzuhalten". Es sei "keine Zeit zu verlieren, um den Klimaschutz auf allen Ebenen weiter voranzubringen".

Wichtig wäre eine seriöse und mutige Debatte über die zukünftige Rolle des Schuldenmachens. Noch immer sitzt den Grünen die Angst vor dem Vorwurf im Nacken, ebenso wie die SPD könnten sie einfach nicht mit Geld umgehen. Können wir doch, konterte Baden-Württembergs Finanzministerin Edith Sitzmann in den Beratungen zum Nachtragshauhalt: "Wir haben zwischen 2017 und 2019 mehr als sechs Milliarden Euro explizite und implizite Schulden getilgt. Wir haben damit den Sanierungsstau kräftig abgebaut, und wir haben zum Glück eine Haushaltsrücklage von 1,2 Milliarden Euro. Damit waren wir sofort handlungsfähig, als das Virus zugeschlagen hat." Eigene Verdienste in der passenden Tonlage herauszustreichen ist das eine, im Wahlkampf komplexe Zusammenhänge zu vermitteln das andere.

Wie wär's mit Anleihen ohne Rückzahlung?

In einem "Spiegel"-Beitrag vom Mai verlangte George Soros, der US-Milliardär mit ungarischen Wurzeln, über den Kampf gegen Corona hinauszuschauen und die Finanzierung der Kosten für die Einhaltung des Pariser 1,5-Grad-Ziels in den Blick zu nehmen. Die europäische Öffentlichkeit und ihre politische Führung seien nicht vertraut mit einem Instrument "mit langer Geschichte", die vom sozialdemokratischen spanischen Premier Pedro Sanchez schon vorgeschlagen wurde: sogenannte ewige Anleihen zu emittieren, für die immer nur Zinsen fällig werden, nie aber die Rückzahlung.

Tatsächlich könnten die Finanzfachleute in der Union, der FDP oder auch der SPD mit Schnappatmung angesichts solcher Ideen einmal unvoreingenommen betrachten, wann und warum zu diesem Mittel gegriffen worden ist: allen voran zur Finanzierung von Kriegen – von Großbritannien etwa gegen Napoleon und später im Krimkrieg – oder zur Linderung von Hungersnöten – zum Beispiel in Irland. Und EngländerInnen profitieren noch heute mit immerhin 2,5-Prozent-Jahreszins davon, dass ihre Vorfahren im 18. Jahrhundert sogenannte "Consolidated Annuities" (Staatsanleihen ohne Fälligkeitsdatum) kauften, in die die gesamte (!) Staatsverschuldung des Königreichs gesteckt wurde. In Zeiten der unumkehrbaren Erderwärmung hält Soros "die Argumente für ewige Anleihen für so stark, dass die Beweislast ihren Gegnern zufällt". Will heißen: Wer derartige unbegrenzte Staatsanleihen ablehnt, soll belegen, warum.

So gesehen wären auch die beweispflichtig, die die Schuldenbremse behalten wollen. Couragierte Stimmen gegen die Schuldenbremse melden sich bereits zu Wort. Die Politik fessele sich "und vor allem künftige Politikergenerationen mit einer im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse selbst", beklagt sogar das Handelsblatt. Immer mehr namhafte WirtschaftswissenschaftlerInnen empfehlen, neu nachzudenken, schon vor Corona übrigens. Kirsten Meyer, Klimaethikerin an der Berliner Humboldt-Universität, verleiht dem belasteten Begriff Schulden seine andere Bedeutung: "Welche (Corona-)Politik schulden wir also der Jugend?" Sehr, sehr vielen Menschen, "die nach uns kommen, müssen wir den Planeten doch in einem vernünftigen Zustand hinterlassen".


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2 Kommentare verfügbar

  • Lena Maurer
    am 08.10.2020
    Antworten
    Ich stimme dem Kommentator Koch ausdrücklich zu.
    Es gibt genug privates Vermögen. Warum sollten erneut die künftigen Generationen die Rechnungen für heutige Ausgaben bezahlen?
    Die Autorin schreibt, dass diese schließlich davon profitierten...
    das ist m. E. Nach ein bedrückend plumpes…
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