Na so ganz alleine regieren, wie der amerikanische Präsident das oft versucht, kann man als OBin von Stuttgart ja nicht.
Man hat immerhin eine Stimme. Als Bezirksvorsitzende habe ich viel durchgekriegt und nicht mal eine Stimme gehabt.
... wenn Sie das auch ohne Stimme hinkriegen, dann haben Sie sich ja verbessert.
Wir sind in dieser Stadt extrem konfrontativ unterwegs. Das ist manchmal auch nötig, diese Reibung, das will ich nicht in Abrede stellen. Aber irgendwann muss es weitergehen, und dann muss ein Weg gefunden werden, wie man zu einer Lösung oder zu einem Kompromiss kommt.
Würden Sie unterschreiben, dass in der Innenstadt weniger Autos fahren sollten, damit sie lebenswerter wird?
Natürlich müssen wir die Autos da zurückdrängen. Wir haben Verkehrsschneisen, die das Gesicht der Stadt durchschneiden. Wir haben Spuren neben Spuren, in der Mitte gibt es irgendwelche Restgrünflächen, die nicht bepflanzt werden können, weil sie untertunnelt sind, und dann wieder Spuren und trotzdem noch zu schmale Trottoire. Das ist absolut nicht mehr zeitgemäß. Die Fortschreibung für das nächste Jahrhundert sieht einfach anders aus und gibt den Menschen wieder öffentlichen Raum zurück.
Wenn es Autofahrer immer schwerer haben, meinen Sie, dass sie ihre Autos draußen lassen, Park-and-Ride nutzen, und Sie Bus und Stadtbahn erweitern?
Wir brauchen intelligentere Systeme. Wir haben für das Auto extrem viele Flächen in Gebrauch, angefangen bei Parkhäusern, die nicht voll belegt sind. Ich sehe nicht ein, warum wir im öffentlichen Raum Parkplätze anbieten, wenn gleichzeitig Parkhäuser halb leerstehen. Ich habe als Bezirksvorsitzende an verschiedenen Stellen schon Vorstöße gemacht: Sie haben ein Parkhaus, das steht abends ab 17 Uhr leer und am Wochenende komplett. Können wir das für die Anwohner nutzen oder für den Parksuchverkehr am Wochenende, wenn in der Innenstadt Feste sind? Da war noch nicht so viel Bereitschaft da, aber ich denke, dass man künftig anders darüber reden kann. Wir müssen mit den bestehenden Verkehrsflächen anders umgehen und sie besser nutzen.
Apropos Verkehr. Stuttgart 21 spielt noch eine große Rolle. Und wie der Zufall so will, jährt sich heute der Schwarze Donnerstag zum zehnten Mal. Waren Sie damals im Schlossgarten dabei?
Nein, das war ganz skurril. Ich war damals in Samara, der russischen Partnerstadt von Stuttgart. Wir haben das Kinderkrankenhaus dort mit einer Delegation vom Klinikum besucht. Ich saß morgens mit meinen Kollegen im Hotel und da lief der Fernseher, und dann sah man die Wasserwerfer und die schreienden Jugendlichen und das Chaos. Ich habe versucht, meine Tochter anzurufen, und sie nicht erreicht, weil sie in dem Gewühl mittendrin war. Das war schon ziemlich dramatisch. Als diese große Demo einige Tage später war, war ich dabei.
Haben Sie mit dem Projekt S 21 Ihren Frieden geschlossen, wie der noch amtierende OB Fritz Kuhn?
Ich habe nicht meinen Frieden geschlossen, sondern mich an das gehalten, was wir nach dem Volksentscheid vereinbart haben. Dass wir S 21 konstruktiv kritisch begleiten. Und ich habe seitdem im Rahmen meiner Möglichkeiten getan, was ich tun konnte. Ich habe dafür gesorgt, dass die Anwohner im Kernerviertel einen regelmäßigen Austausch mit der Führungsriege des Bahnprojektes bekommen, was über die Stadtverwaltung und den Gemeinderat nicht bewerkstelligt wurde. Anfangs zweimal im Jahr, inzwischen einmal, kommen von der Bahn, der SSB, den zuständigen Ämtern zehn bis zwölf Referenten und stehen den Bürgerinnen und Bürgern aus dem Kernerviertel Rede und Antwort. Das war ein schweres Stück Arbeit, das sage ich Ihnen. Es war überhaupt nicht gewollt. Diese Form der konstruktiv kritischen Begleitung und auch der Transparenz würde ich fortsetzen.
Glauben Sie, das Projekt wird funktionieren?
Das werden wir sehen. Ich habe in das Projekt kein Vertrauen gehabt, das habe ich oft genug gesagt. Ich bin misstrauisch geblieben. Aber ich sehe im Moment keine Möglichkeit, aus meiner Position heraus konkret etwas zu ändern. Was ich jetzt leisten kann, ist, dass ich mit dafür Sorge trage, dass Bürgerinnen und Bürger, die Fragen haben, gehört werden – nicht nur in Ausschüssen, die zu Uhrzeiten sind, wo Bürger nicht teilnehmen können, weil sie arbeiten oder keinen Zugang haben. Ich würde schauen, dass der öffentliche Diskurs stärker gefördert wird. Im Moment läuft das ja parallel. Die Gegner machen ihre Veranstaltung, die Befürworter, der Gemeinderat macht seine. Ich sehe die Aufgabe der OBin darin, das besser zusammenzuführen.
Ein anderes Thema, das Sie schon seit vielen Jahren beschäftigt: Wie viele Flüchtlinge könnte Stuttgart noch aufnehmen? Ein paar Städte haben sich aus dem Fenster gelehnt und gesagt, wir können mehr Flüchtlinge aufnehmen. Ich glaube, Stuttgart war nicht dabei.
Nein, aber OB Kuhn hat sofort gesagt, dass er bereit wäre, Geflüchtete aufzunehmen. Aber er hat sich auch Winfried Kretschmann angeschlossen und gesagt, das muss schon in einem geordneten Verfahren sein. Ich bin mir völlig sicher, dass Stuttgart großes Potenzial hat, das kann ich aus über zwanzigjähriger Arbeit mit Geflüchteten sagen. Und ich sehe eine große Bereitschaft der Menschen, zu helfen. Ich bin sicher, dass wir Pflegefamilien finden würden für allein geflüchtete Minderjährige. Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir trotz Wohnungsnot in der Stadt noch Raum finden würden, Geflüchtete aufzunehmen.
Sie müssen vor allen Dingen Herrn Seehofer überzeugen, sonst geht es gar nicht.
Ja, den Zusammenschluss der Kommunen, um den Druck zu erhöhen, fand ich eine gute Aktion. So sollte man weitermachen.
Sie haben jetzt gerade Pflegefamilien angesprochen. Sie selbst sind in einem Heim gewesen und dann bei einer Pflegefamilie aufgewachsen. Inwieweit hat Sie das geprägt?
Ich bin die ersten vier Jahre in einem Kinderheim gewesen, in Bremen. Also gleich nach der Geburt abgegeben worden. Danach bin ich zu Pflegeeltern nach Worpswede gekommen.
... ins Künstlerdorf ...
Ja, ins Künstlerdorf. Sehr idyllisch, sehr herzlich, sehr warm. Aber dieses Wechselspiel von Kälte und Wärme und Liebe, das hat mich schon geprägt. Und ich muss sagen, es bleibt immer der Gedanke, dass man woanders herkommt. Das hat mir auch gezeigt, dass sich kein Mensch aussuchen kann, in was für eine Welt oder in was für eine Situation er oder sie geboren wird. Und dass man, wenn man genug Unterstützung bekommt, die Chance hat, was daraus zu machen.
Gesetzt den Fall, Sie werden gewählt, was gehen Sie als erstes mit der größten Verve an?
Ich würde Dächer begrünen, Häuserfassaden begrünen, ich möchte mehr Wasser in die Stadt bringen. Fritz Kuhn hat mit dem Gemeinderat das Klimapaket für 2oo Millionen Euro geschnürt. Ich würde dieses Paket aufschnüren und für jeden Stadtbezirk ein Projekt herausnehmen. Und so die Wende in allen 23 Stadtbezirken sichtbar machen. Damit wir nicht nur in der Mitte anfangen, sondern überall damit beginnen.
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Peter Mielert
am 22.10.2020