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Schule

"Lernen endlich größer denken"

Schule: "Lernen endlich größer denken"
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Er ist einer der Pioniere in Sachen digitaler Unterricht. Deshalb kann Volker Arntz, Sprecher des "Netzwerks Schule" im Verein für Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg, genau erklären, warum das Land in Strukturdebatten von vorgestern feststeckt.

Herr Arntz, wie lange haben Sie in diesem Sommer Ferien?

Wahrscheinlich machen wir unsere Schule nur drei Wochen ganz zu.

Das passt nicht so richtig zu den landläufigen Vorurteilen über den Fleiß von Lehrern.

Vieles in unserem Beruf passt nicht so richtig zu diesen Vorurteilen. Wir müssen nacharbeiten und vorbereiten. Wir arbeiten am Stundenplan für den Herbst in Erwartung immer neuer Corona-Verordnungen und der sich daraus ergebenden Konsequenzen.

Im Netz und auch in der realen Welt gibt es viel Lob für Lehrkräfte, aber auch viel Kritik an jenen, die sich in den Corona-Wochen in die Büsche geschlagen haben. Ist es ein Vorurteil, dass es so etwas gab, oder die Beschreibung der Realität?

Leider letzteres. Für manche Kollegen an unserer Schule war das mörderisch. Wir haben eine schlüssige und durchgehende School at home gemacht, von halb neun bis halb eins in der Schalte. Und dann haben meine Kolleginnen, es sind mehr die Mütter und weniger die Väter, ein Problem bekommen, weil das an den Schulen der eigenen Kinder nicht so lief. Also haben sie von eins bis drei die eigenen Kinder betreut, die von ihren Lehrern nur mit Aufgaben versorgt wurden, und sich danach wieder um ihre Klassen gekümmert, korrigiert oder gefeedbackt. Es war und ist weiterhin ein großes Problem, dass zu viele Schulen echten Unterricht zu Hause, ein Angebot wie das unsere, nicht konsistent hinkriegen. In der Regel liegt das nicht oder nicht allein an den einzelnen Lehrkräften, von denen viele wahrscheinlich gern mehr machen würden.

Könnten Kollegien nicht einfach dazu vergattert werden, konsequent aus der Ferne zu unterrichten?

Da sind wir an einem zentralen Punkt der Schwächen im baden-württembergischen Schulsystem und der Frage, wieviel Freiraum es lässt. Die skandinavischen Länder sind nicht top-down geprägt, also vom Prinzip "von oben nach unten", sondern davon, dass Schulleitungen und Kollegien in hohem Maße auch eigenverantwortlich Entscheidungen treffen können. Bei uns gibt es diesen Freiraum nicht, im Corona-Lockdown hätte der aber genützt werden müssen. Das kann nicht aufgehen. Wir haben eine Kultur, in der die Erfüllung von Vorgaben sehr hochgehalten wird. Und wenn die dann fehlen, funktioniert der Laden nicht mehr oder nur schlecht. Der leider verstorbene Psychologe Peter Kruse hat sich damit befasst, was passiert, wenn bis zu einem gewissen Punkt die Zügel ganz fest geführt und Mikrosteuerung gemacht werden und im nächsten Moment ganz losgelassen wird.

Was kam dabei heraus?

Das ist nach Kruse ein funktionierendes Rezept, einen Betrieb ganz sicher gegen die Wand zu fahren. Wir waren im Lockdown in einer sehr ähnlichen Situation, aus der alle die Schulen besser herausgekommen sind, die sich schon vorher mit Fragen der Autonomie befasst hatten, die sich ein dickeres Fell zugelegt haben im Umgang mit Vorgaben nach dem Motto: Wir wissen vor Ort, welche Wege funktionieren, um Ziele zu erreichen. Mitte März, als der klassische Unterricht innerhalb ganz weniger Tage eingestellt wurde, hatten es diese Schulen sehr viel einfacher.

Was braucht es, um solche eigenen Wege zu finden?

Erstens die Erkenntnis, dass es nicht sinnvoll ist, jedes Sandkörnchen einzeln von A nach B zu tragen. Schulen müssen leistungsfähig organisiert sein. Wir haben in Baden-Württemberg über Jahre aber viel zu wenig in die Schulentwicklung gesteckt. Wir haben an vielen Schulen dafür gar keine Werkzeuge. Bei uns an der Schule gab es das Lernmanagementsystem schon vor Corona, wir haben Grundstrukturen, die selbstständiges Lernen nicht nur ermöglichen, sondern fördern. Alle reden von Digitalisierung, und in der Realität bauen die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer im Land ihren Unterricht Stunde für Stunde selber immer neu. Und am Ende der Stunde ist er weg. In diesen Fällen wird Unterricht nicht festgehalten, um zu kopieren, was sich bewährt hat, und vor allem zur Weiterentwicklung. Fünf Lehrer erfinden in fünf Klassen denselben Mathe-Unterricht immer neu. Das ist doch ein Irrsinn.

Welcher Unterricht ist es denn wert, im Lernmanagementsystem festgehalten und weiterentwickelt zu werden?

Schulentwicklung ist beides, Organisations- und Unterrichtsentwicklung. Wenn aber schon die Organisation nicht krisenfest entwickelt ist, kann es mit der Unterrichtsentwicklung auch nichts werden. Wir stecken im Land einfach fest.

Um das System wieder flottzubekommen, verlangen Sie einen Paradigmenwechsel. Erwarten Sie, dass vor allem die Hardliner in der CDU, die sich seit so vielen Jahren gegen veränderte Strukturen wehren, ausgerechnet nach Corona und vor einer Landtagswahl umdenken?

Nein. Aber genau deshalb müssen möglichst viele Leute an möglichst vielen Orten möglichst oft über diesen Paradigmenwechsel reden. Über diesen größten aller Irrtümer, wonach die Schule der Ort des Lernens ist. Das stimmt nicht. Das Leben ist der Ort des Lernens. Wir müssen Schule und Lernen endlich größer denken. Ein weiterer Punkt ist, dass wir sehr viel Energie auf eine rechtssichere Benotung verwenden. Wir verteilen über die Noten Zukunftschancen. Würden wir aber Lernen über Prüfen stellen, wäre plötzlich die Frage wichtig, was dazu gehört, dass Kinder gut lernen können, und zwar egal wo: in der Schule, aber eben auch zu Hause. Da hätte auch dieses ewige Selektieren ein Ende, weil es um Qualifizieren geht.

Und nicht geknackt haben wir auch die Nuss, wie mit dem Fachlichen und dem Überfachlichen umgegangen werden soll. Lebensbedeutsame Kompetenzen kommen in der Schule in der Regel viel zu kurz. Die OECD setzt auf Anwendungswissen, wir in Baden-Württemberg hocken auf Fachwissen. Bei uns in Baden-Württemberg wird der Zitronensäurezyklus gelernt, warum auch immer. Die allermeisten Schüler werden dieses Wissen nie und nimmer irgendwann anwenden - wie unendlich viel anderes auch.

Was tun?

Kinder von Anfang an groß werden lassen im Sich-selbst-beobachten, im Sich-selbst-steuern, auch darin, Verantwortung zu übernehmen für eigene Ergebnisse und für die der anderen. Das trainieren wir überhaupt nicht, jedenfalls nicht, wenn wir uns an die offiziellen Vorgaben halten. An solchen zentralen Fragen guckt unser Bildungssystem einfach vorbei. Und es ist desinteressiert am Miteinander. Da rede ich noch gar nicht vom gemeinsamen Lernen auf unterschiedlichen Niveaus, sondern einfach nur von einer lernförderlichen Beziehungskultur, die an viel zu vielen Schulen unterentwickelt ist.

Wieso treiben diese Themen die Bildungspolitik nicht mehr um, als es geschieht?

Da sehe ich keine Bereitschaft, auch oder gerade nicht nach Corona. Auf die vielfältigen Herausforderungen wird mit einem Digitalisierungsreflex geantwortet. Die Bildungspolitik, und da bin ich nicht nur bei der Kultusministerin, sondern auch bei der politischen Führung der Landesregierung, müsste sagen: Lasst uns über gute Bildung sprechen. Es gab in der vergangenen Legislaturperiode so etwas wie einen Bildungsaufbruch, weil endlich mal nicht vor allem auf Lehren, sondern auf Lernen geschaut wurde. Da gab es gute Ideen, viele der neuen Gemeinschaftsschulen hatten tolle Konzepte und konnten auch mal sehen, wo man mit mehr Eigenverantwortung landet, mit mehr Freiräumen, mit einer anderen Gestaltung von Lernen. Was aber fehlt, ist die Phase des Sammelns, Ordnens und Konsolidierens von gemachten Erfahrungen.

Als die Legislaturperiode 2016 zu Ende war, war der Aufbruch Geschichte. Nicht an der einzelnen Schule, die sich auf den Weg gemacht hat. Sondern grundsätzlich, um die richtigen Lehren zu ziehen, zum Beispiel für die Aus- und Weiterbildung. Es gibt keinerlei pädagogischen Transfer der wichtigen Erfahrungen, die an Gemeinschaftsschulen für unser System insgesamt gemacht werden. Überall muss mit Heterogenität und Diversität umgegangen werden, massiv an den Realschulen vor allem. Unsere Erfahrungen werden aber nicht abgeholt. Wir haben so eine spannende Zeit hinter uns und haben viel gelernt. Wir haben einige Antworten gefunden und versuchen herauszufinden, welche Antworten funktionieren, beispielsweise beim konstruktiven Umgang mit der Heterogenität der Heranwachsenden. Aber niemand will dieses zunehmende Wissen über Asynchronität, über den Umgang mit Stärkeren und Schwächeren oder über ein neues Qualitätsverständnis mit uns teilen und an dem Prozess teilhaben.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten …

Würden wir uns alle an einer Startlinie versammeln, um darüber zu reden, was für uns gute Bildung ist. Was meinen wir damit, was wollen wir alle, wo können wir uns verständigen? Da ist noch niemand losgelaufen, um das Ziel zu erreichen, sondern es wird überhaupt erst einmal das Ziel definiert, möglichst alle Kinder in die Lage zu versetzen, gut zu lernen, Durchhaltevermögen zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Es muss doch jedem klar sein, dass Kinder, die heute die Bildung erhalten, die wir erhalten haben, damit in der Zukunft nicht erfolgreich sein werden. Die Welt hat sich weiter gedreht. Also reden, reden, reden darüber, was wir erreichen wollen, aber an der Startlinie. Und bildungspolitisch losgelaufen wird erst, wenn das Ziel klar ist. Von mir aus auch in Konkurrenz, aber immer in der Bereitschaft, nicht nur durch die eigenen Erfolge zu lernen, sondern auch durch die der anderen. Man kann Vielfalt nicht mit Einfalt begegnen – damit werden wir den Kindern und Jugendlichen nicht gerecht. Das muss endlich in die Köpfe und in die Herzen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 17.08.2020
    Antworten
    Strukturdebatten von vorgestern! Wie zutreffend diese Feststellung von Volker Arntz doch ist [1].

    Es gab für mich bereits im März 1996 bis April 1997 im FBD Bildungspark Stuttgart, die Ausbildungen zu Bürokaufleuten und Betriebswirten/Handelsfachwirten mit umfassender Einbindung von Computern:
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